Das Herz der marxistischen Methode ist die Dialektik. Damit gemeint ist eine Denkmethode, welche die Welt nicht als eine starre Welt missversteht, sondern versucht, sie als Prozess zu begreifen; eine bewegte Welt, die in jedem Moment aufhört, sich selbst zu sein und im gleichen Moment bereits schon eine neue wird. Stoffe, Organismen, Körper und alle anderen Bestandteile, welche in ihrer Gesamtheit die uns ausmachende und umgebende Natur bilden, sind nicht einfach isoliert voneinander existierende Dinge, sondern jeweils Momente von ein und demselben Prozess. Z.B. ist die Blüte einer Blume bloß ein Moment des Entwicklungsprozesses einer Pflanze, genauso wie der Samen, die Wurzel und die Erde. Wir verneinen zwar durchaus nicht den Sinn einer Detailbetrachtung, die den Gesamtzusammenhang vorübergehend in den Hintergrund stellt, um das einzelne Ding zu bestimmen. Allerdings muss es anschließend wieder in seine Verhältnisse eingeordnet werden, um somit nicht nur als isoliertes Ding, sondern als Moment eines Prozesses gesehen werden zu können. So müssen wir die Blüte in ihrer Wechselbeziehung zur Wurzel und zur Erde und somit auch in ihrem Werden und Vergehen betrachten, um den Prozess und seine Bewegungsgesetze sichtbar zu machen. Die Aufgabe dieser Darstellungsweise wurde durch die dialektische Logik möglich gemacht, welche in ihrer modernen Form auf Hegel, Marx und Engels zurückgeht.
Widersprüche und Gegensätze
In der dominanten Wissenschaftstheorie und der Philosophie wurde und wird als intellektuelles Fundament in der Regel auf die aristotelische Logik und die von Aristoteles formulierten logischen Axiome zurückgegriffen. Ein zentrales solches Axiom ist etwa der sogenannte „Satz vom Widerspruch“, der besagt, dass ein Ding nicht sich selbst und zugleich etwas von sich selbst Verschiedenes sein kann. Dies ergibt natürlich intuitiv absolut Sinn, doch bei genauerer Betrachtung sehen wir, dass diese Logik nicht in der Lage ist, einen Prozess abzubilden. Denn betrachten wir ein Ding nicht nur bezüglich seiner oberflächlichen Erscheinung, sondern untersuchen etwa seine molekulare oder gar atomare Zusammensetzung, sehen wir, dass dieses Ding eben zu keinem Zeitpunkt sich selbst gleich bleibt, auch wenn wir es nach wie vor als „Ding X“ bezeichnen – es ist eben sich selbst und zugleich von sich selbst verschieden.
Die aristotelische Logik und auf ihr basierende wissenschaftliche Methoden wie der Positivismus können also aus dem Grund keine Prozesse abbilden, weil die Schranke ihrer Erkenntnis dadurch gesetzt ist, dass der Widerspruch von vornherein als „unlogisch“ oder falsch abgetan wird. Dadurch nimmt die Darstellung jedes Dings notwendigerweise die Form einer statisch und selbständig für sich existierenden Entität an.
Die Dialektik hingegen schließt einander widersprechende Existenzformen gerade nicht aus, sondern macht sie umgekehrt zum Ausgangspunkt: Denn jede Form der Bewegung muss, logisch dargestellt, Widersprüche beinhalten. So kann bereits die mechanische Ortsbewegung eines Gegenstands erst abgebildet werden, wenn man zulässt, dass der sich bewegende Gegenstand zu jedem Zeitpunkt an einem und zugleich an einem anderen Ort sich befindet.
Materie und Mensch
Wir haben auf einer sehr abstrakten Ebene versucht, die allgemeinen Bewegungsformen darzustellen und grob zu zeigen, wie eine dialektische Logik versuchen muss, eine Welt als Prozess und damit eine Welt, die sich in Gegensätzen und Widersprüchen bewegt, zu verstehen. Die große wissenschaftliche Umwälzung von Marx und Engels war nun aber vor allem auch der Nachweis, dass sich diese Bewegungsgesetze nicht nur aus der (nichtmenschlichen) sogenannten „Natur“ herleiten lassen, sondern auch aus der Menschheitsgeschichte.
Marx und Engels waren Materialisten, das heißt sie gingen von der Welt als einem geschlossenen Organismus aus, in den keine von außen wirkenden Kräfte eingreifen. Daraus folgt, dass der Mensch als Teil der Prozesse, welche die Welt ausmachen, begriffen werden muss. Einerseits ist der Mensch Produkt der Natur, andererseits gestaltet er die Natur durch sein Einwirken ständig mit – er ist also in steter Interaktion mit ihr. Dies mag auf den ersten Blick vielleicht trivial erscheinen, doch die Schlüsse, welche Marx daraus zog, um die Entwicklungsgesetze menschlicher Gesellschaften zu verstehen, waren und sind höchst revolutionär; die Schlussfolgerung nämlich, dass die Art und Weise gesellschaftlicher Verhältnisse letztlich von der menschlichen Interaktion mit der Natur abhängt – und diese Interaktion ist zunächst die Produktion und Reproduktion des materiellen Lebens der Menschen.
Die Art und Weise, wie wir etwa unsere Lebensmittel im weiteren Sinne (sowohl Nahrung und Obdach, Werkzeuge etc.) produzieren, bestimmt sowohl unser Verhältnis zur Natur wie auch die Art und Weise der Arbeitsteilung unter den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft. Marx sprach in diesem Zusammenhang von den „Produktionsverhältnissen“, also Verhältnissen, welche zwischen Menschen zum Zweck der gemeinsamen materiellen Produktion eingegangen werden. Durch die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse sind nun in letzter Instanz auch die sozialen, politischen, juristischen und ideologischen Verhältnisse einer Gesellschaft bestimmt. Dazu gehört auch die Wahrnehmung dieser Verhältnisse durch die Menschen selbst; das Bewusstsein wird ebenso als Produkt gefasst. Einerseits insofern, als das Bewusstsein des Menschen zunächst physisch, also materiell produziert werden muss, andererseits aber auch bestimmt ist durch seine tätige Daseinsweise, welche wiederum bestimmt ist durch die gesellschaftlichen Verhältnisse.
„Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“[1]
Wir sehen nun bei der Betrachtung der menschlichen Geschichte, dass sich diese gesellschaftlichen Verhältnisse wandelten – wir sahen antike Sklavenhaltergesellschaften, feudale Gesellschaften und moderne bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften; und davon jede dieser Gesellschaftsformen wiederum in verschiedenen Ausprägungen. Die verschiedenen menschlichen Gesellschaftsformen können also nur Ausdruck unterschiedlich gearteter Produktionsverhältnisse sein, welche diesen Formen zugrunde liegen. Soziale Beziehungen und Gesellschaftsformen sind also auch nichts Statisches, sondern wandelbar. Die Produktionsverhältnisse wandeln sich vermittelt durch den Entwicklungsgrad der Produktivkräfte, welche eine Gesellschaft für ihre materielle Produktion anwenden kann (also dem Entwicklungsniveau von Technologie, Werkzeugen und Wissen, welche in der Produktion eingesetzt werden können).
Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte
Die menschliche Geschichte muss als Bewegung ebenfalls in Widersprüchen und Gegensätzen gefasst werden, wodurch also wieder die Dialektik ins Spiel kommt. Einer der grundlegendsten solcher Widersprüche ist etwa derjenige zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften. Jede Gesellschaftsform und die ihr zugrundeliegenden Produktionsverhältnisse entwickelt jeweils die Produktivkräfte, wodurch eine differenziertere Arbeitsteilung in der Gesellschaft möglich wird. So revolutionierten etwa die Entdeckungen des Feuers, des Pflugs, der Dampfmaschine oder des Internets jeweils die Produktionsverhältnisse, weil sie ganz neue Formen der Produktion möglich machten und den materiellen Reichtum vermehrten.
Nun tritt aber ab einer gewissen Entwicklungsstufe der Produktivkräfte die Situation ein, in der die gesamten sozialen, politischen und juristischen Verhältnisse der bestehenden Gesellschaft in Frage gestellt werden. Dies liegt letztlich daran, dass die Produktionsverhältnisse, aus welchen diese hervorgehen, nicht mehr mit dem Entwicklungsgrad der Produktivkräfte kompatibel sind. So schuf der Feudalismus etwa durch Entwicklung des Handels und des Handwerks die mittelalterliche Stadt, in welcher sich schlussendlich mit der Herausbildung der Manufaktur und des Kaufmannskapitals ganz neue Produktionsverhältnisse heranbildeten, welche in Konkurrenz gerieten mit den klassisch-feudalen Produktionsverhältnissen von Feudalherren und Leibeigenen, und ab einem gewissen Punkt sogar in offene Feindschaft zu ihnen traten. Die juristischen und politischen Verhältnisse der ständischen Feudalgesellschaft wurden immer unvereinbarer mit dem entstehenden Kapitalismus, welcher auf uneingeschränkten Marktzugang, freie Konkurrenz und rechtlich geschütztes Privateigentum an Produktionsmitteln drängte. Ein Gegensatz, welcher schließlich die bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts provozierte.
Doch auch der bürgerlichen Gesellschaft wachsen die Produktivkräfte über den Kopf – obwohl der Kapitalismus seine historisch fortschrittliche Rolle spielte, indem er die Produktivkräfte auf ein vorher nicht gesehenes Niveau hob, hat er feste Schranken, die er von sich aus nicht zu überwinden imstande ist. Diese Schranken sind bedingt durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst: die Produktion für einen beschränkten Markt und die gleichzeitige ständige Ausweitung der Produktion, die in einer auf Konkurrenz beruhenden Wirtschaftsform unvermeidbar ist. Dies produziert unweigerlich Krisen, die ihren Ursprung darin haben, dass die Masse der Produktivkräfte und der Produkte zu groß geworden ist, um vom Markt absorbiert werden zu können – eine Überproduktionskrise. Es ist genau eine solche Krise, welche wir seit 2008 durchleben.
Eine nachhaltige Lösung dieser Krise kann nur in der Befreiung der Produktivkräfte von den Fesseln der bürgerlichen Produktionsverhältnisse bestehen, also der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der demokratischen Planung der Produktion nach den Bedürfnissen der gesamten Bevölkerung. Bei dieser ganzen Betrachtung darf schließlich nicht vergessen werden, dass der Mensch zwar einerseits ein Produkt der Geschichte, andererseits die Geschichte aber auch wieder Produkt menschlicher Handlungen ist. Die arbeitende Klasse, welche heute den ganzen Reichtum dieser Gesellschaft erschafft, hätte gerade aus diesem Grund die reale Macht, diese Gesellschaft bewusst in ihrem Sinn umzugestalten.
Sehen wir die heutigen Widersprüche des Kapitalismus ein, muss das für uns als Imperativ gelten, diese Welt zu verändern. Mit der marxistischen Theorie haben wir ein mächtiges Werkzeug zum Verständnis und zur Veränderung dieser Welt – es bleibt also zentrale Aufgabe, dieses Werkzeug denjenigen Menschen in die Hände zu geben, welche fähig sind, diese Gesellschaft zu revolutionieren: der ArbeiterInnenklasse.
[1] Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, S. 9.
|