„2018 wird fantastisch”, versicherte Trump seinen Gästen, als er den vergoldeten Festsaal in Mar-a-Lago betrat, dabei wurde er von der First Lady Melania Trump mit ihrem Nussknacker-Grinsen und der Schneiderpuppe, die als sein Sohn Barron durchgeht, begleitet. Er verkündete, dass der Aktienmarkt weiter steigen und viele Unternehmen „mit rasantem Tempo“ in die USA kommen würden.
Das alles war Musik in den Ohren seiner betuchten Gäste, die über die Perspektive saftiger Gewinne und Steuererleichterungen plauderten, die ihnen ihr Held so großzügig versprochen hatte. Es war eine wahrlich unvergessliche Szene, die auch in The Godfather nicht deplatziert gewesen wäre.
Das Jahr 2017
Bevor wir die Geburt des neuen Jahres begrüßen, müssen wir aber zuerst das alte Jahr beerdigen, nachdem wir den Leichnam einer ausführlichen Autopsie unterzogen haben. „Ich denke, dass dieses Jahr wahrscheinlich das Jahr mit den größten Risiken seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist,“ erklärte Brian Klaas, Hochschullehrer für Vergleichende Politikwissenschaft an der London School of Economics, als er im Januar letzten Jahres von CBNC interviewt wurde.
Er lag gar nicht so falsch. Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um über die Erschütterungen, die in den letzten zwölf Monaten stattgefunden haben, nachdenken. Das Jahr, das gerade Geschichte geworden ist, hat erneut eine Serie politischer Erdbeben erlebt. Und trotz des selbstbewussten Frohlockens des aktuellen Bewohners des Weißen Hauses wird das Jahr für den Kapitalismus weltweit wahrscheinlich nicht leichter.
Trotzki beschrieb einmal die Theorie als die Überlegenheit der Weitsicht über das Erstaunen. Aber im Jahr 2017 sahen wir viel Erstaunen und das nicht zuletzt bei den so genannten bürgerlichen Experten. Wer hätte vor zwölf Monaten gedacht, dass die britischen Konservativen, die bei der Ausrufung der Neuwahlen im Juni noch einen Vorsprung von 20% vor Labour hatten, so schlecht abschneiden würden und der „unwählbare“ Jeremy Corbyn am Ende des Jahres zum beliebtesten Politiker in Britannien erkoren würde?
Wer hätte gedacht, dass die Führer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung sich aus dem Gefängnis in Spanien zur Wahl stellen würden und der Präsident der katalanischen Regierung sich im politischen Exil in Brüssel befinden würde?
Wer hätte gedacht, dass die beiden größten Parteien in Frankreich es nicht in die zweite Runde bei den Präsidentschaftswahlen schaffen würden? Und wer hätte gedacht, dass die Republikaner in den USA eine Wahl in Alabama, einer sicheren Hochburg der konservativen religiösen Rechten, verlieren würden?
Wer hätte gedacht, dass Mugabe nach einer jahrzehntelangen Diktatur auf dem Müllhaufen landen und Jacob Zuma die Kontrolle über den ANC verlieren würde?
Das sind nur einige der politischen Erdbeben, welche die Welt in den letzten zwölf Monaten erschüttert haben. Jedes einzelne Ereignis ist für sich genommen höchst bedeutsam. Aber aus einer marxistischen Perspektive sind sie Symptome für eine allgemeine Krise des Weltkapitalismus, die ihren Ausdruck in einer allgegenwärtigen Instabilität findet, auch in der mächtigsten kapitalistischen Nation, den USA.
Pessimismus der Bourgeoisie
Die seriösen Strategen des Kapitals kommen oft zu den gleichen Schlüssen wie die Marxisten, aber natürlich von ihrem eigenen Klassenstandpunkt aus. Das rosige Bild, das von Trump gemalt wurde, wird nicht von jedem seriösen bürgerlichen Analysten geteilt, das Gegenteil ist der Fall.
Die Eurasia Group, eine respektierte Beratungsgesellschaft, welche die Kapitalisten über mögliche Risiken im Weltmaßstab berät, warnt in ihrer kürzlich veröffentlichten Bewertung von geopolitischen Top-Risiken, dass die Welt sich auf eine Krise und einem Zustand „geopolitischer Depression“ zubewegt und dass Präsident Trump selbst zu dieser Instabilität beiträgt, indem er Spaltungen national und international beschleunigt und die globale Ordnung, die über Jahrzehnte mühevoll geschaffen wurde, zunichtemacht.
Die Eurasia Group befürchtet, dass liberale (d.h. bürgerliche) Demokratien an einem „Legimitationsdefizit leiden, welches man seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hat“, dass die Führer realitätsfremd sind und dass dieser politische Zusammenbruch Bedingungen schafft, unter denen jedes größere Ereignis eine katastrophale Auswirkung auf die globale Wirtschaft und die globalen Märkte haben könnte.
Der Bericht beginnt mit einem Satz, den man als Reaktion auf Trumps leuchtende Einschätzung der Wirtschaft verstehen könnte (außer, dass er vor der Neujahrsparty geschrieben wurde). „Ja, die Märkte sind im Steigen begriffen und es steht nicht schlecht um die Wirtschaft, aber die Bürger sind gespalten. Regierungen sind nicht mit dem Regieren beschäftigt. Und die globale Ordnung löst sich auf.“
Und die Schlussfolgerungen unterscheiden sich komplett von denen des Mannes im Weißen Haus: „In den zwanzig Jahren seit Gründung der Eurasia Group gab es in der globalen Umgebung Höhen und Tiefen. Wenn wir aber ein Jahr auswählen sollten – das geopolitische Pendant der Finanzkrise von 2008 – fühlt es sich an wie 2018.“
Der Trump-Faktor
Das Jahr 2017 begann mit dem Amtsantritt von Donald Trump am 20. Januar. Das allein war schon ein politischer Schock gewaltigen Ausmaßes. Es ist natürlich falsch, alle Übel dieser Welt einem einzigen Mann zuzuschreiben. Falls das der Fall wäre, wäre die Lösung der gegenwärtigen Krise einfach: Werdet Trump los und ersetzt ihn durch einen „verantwortungsbewussteren“ Präsidenten (d. h. einen Demokraten). Aber es gibt keinen Grund zur Annahme, dass es unter Hillary Clinton oder einem der anderen Helden aus der politischen „Mitte“ besser wäre.
Der Versuch, große historische Prozesse rein aus der Individualität einzelner Personen zu erklären, ist eine Verharmlosung der Geschichte, welche selbst der oberflächlichsten Prüfung nicht standhält. MarxistInnen suchen die treibenden Kräfte der menschlichen Gesellschaft in den tieferen Prozessen, die sich weit unter der Oberfläche entfalten und die Rahmenbedingungen, unter denen menschliche Akteure ihre Rollen spielen, bestimmen. Aber diese grundlegende Analyse, die im Endeffekt entscheidend ist, erschöpft unter keinen Umständen die Frage.
Wenn der Versuch, die Geschichte in Bezug auf individuelle Protagonisten zu erklären, zu einfach ist, um ernst genommen zu werden, so ist auch der Versuch genauso vereinfachend und falsch, die Rolle von Individuen in der Geschichte zu leugnen. Marx erklärt, dass die Männer und Frauen ihre eigene Geschichte machen, obwohl sie nicht in vollständiger Freiheit handeln und durch die objektiven Faktoren eingeschränkt sind, die jenseits ihrer Kontrolle liegen und für sie unsichtbar sind. Durch ihre Handlungen können individuelle Akteure gravierende Auswirkungen auf die Verhältnisse haben und den Ausgang von Ereignissen auf die eine oder andere Art beeinflussen.
Donald Trump ist ein interessantes Beispiel für dieses Phänomen. Die herrschende Klasse in den USA war nicht so glücklich mit Trump. Sie bleibt unglücklich und versucht, ihn loszuwerden. Dafür gibt es einige Gründe. Über 100 Jahre basierte das politische Leben in den USA auf zwei fundamentale Säulen: die Republikaner und die Demokraten. Die Stabilität des Systems hing von diesem Gleichgewicht ab.
Trump ist Multi-Milliardär, aber er ist auch ein Egomane und ein geschickter Demagoge. Paradoxerweise richtete sich Trump besonders an die ärmsten Gruppen. Er sprach viel von der Arbeiterklasse – etwas praktisch Unbekanntes für US-Wahlkämpfe. Das war natürlich alles eine Lüge, aber als er über die stillgelegten Fabriken und Bergwerke sprach, weckte er in den Köpfen der verzweifelten Menschen Hoffnung. Das fing Anklang bei Millionen von AmerikanerInnen, welche die Nase von dem System, das sie zu Armut und Arbeitslosigkeit verurteilt, voll hatten.
In Wirklichkeit ist Trump auch nur ein Repräsentant des Großkapitals. Er verkörpert in Wirklichkeit das wirklich vulgäre und hässliche Gesicht des Kapitalismus, während die sogenannte Mitte, die den Kapitalismus repräsentiert, versucht, ihr Wesen hinter einer lächelnden Maske zu verbergen. Trump hat die Maske abgelegt und deswegen verachtet ihn das Establishment.
Das Establishment fragte sich, ob es diesen milliardenschweren Außenseiter kontrollieren könnte, dessen Sieg es nicht wollte, aber auch nicht verhindern konnte. Es musste sich nicht lange fragen. Der 45. Präsident der USA beeilte sich, um sich zu profilieren. Er hatte mit der Zusicherung „die Dinge anders zu machen“ seinen Wahlkampf geführt. Er hat nicht zu viel versprochen.
Ihm ist es gelungen, alle Widersprüche auf Weltebene zu verschärfen: zwischen den USA und China, zwischen den USA und Europa und zwischen den USA, Kanada und Mexiko. Er hat den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern verstärkt und eine wahnsinnig kriegerische Atmosphäre in den Beziehungen zu Nordkorea geschaffen, das Südkorea und Japan in Ziele für das Waffenarsenal des „Rocket Man“ in Pjöngjang verwandelt hat.
Trumps Abenteuer auf dem Gebiet der Außenpolitik sind beispiellos in der Geschichte der Weltdiplomatie. Er benimmt sich wie ein Elefant im Porzellanladen. Seine ständigen unverschämten Tweets liefern die laute Hintergrundmusik zur Kakofonie der Missklänge, widersprüchliche und oft unverständliche außenpolitische Missgriffe, welche große Teile des Establishments im In- und Ausland schockiert und bestürzt haben.
Die Doktrin von „America First“ ist nur eine neue Version des alten Isolationismus, der immer Teil der politischen Tradition der USA war. Aber Amerikas engste Verbündete sind besorgt, dass, wenn er verspricht „Amerika wieder groß zu machen“, dies auf ihre Kosten geht. Und sie haben nicht unrecht. Wenn es früher in der sogenannten westlichen Allianz Haarrisse gab, so haben diese sich jetzt zu einer riesigen Kluft ausgeweitet.
Der Präsident der Eurasia Group, Ian Bremmer, und der Vorsitzende Cliff Kupchan warnen davor, dass die globale Macht USA „an Einfluss verliert“ und die Trumpsche Philosophie der Ausgabenkürzungen und der Politik des Alleingangs sowohl unter den Alliierten als auch unter den Gegnern Verwirrung stiftet. Die Eurasia Group sagt: „‘America First‘ und die daraus abgeleitete Politik haben die von den USA geführte Ordnung und deren Leitgedanken erodiert, während kein anderes Land oder eine Ländergruppe bereit oder daran interessiert ist, diese wiederherzustellen … was das globale Risiko erheblich steigen lässt.“ Das ist eine ehrliche Zusammenfassung der Lage.
Radikalisierung in den USA
Das sind wirklich ziemlich bemerkenswerte Erfolge nach nur zwölf Monaten im Weißen Haus. Trumps Ausbrüche auf der Weltbühne würden allein schon ausreichen, um dem US- amerikanischen und dem internationalen Establishment Kummer zu bereiten. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die herrschende Klasse wenig erfreut über Donald Trump ist. Die Grundlagen der Mechanik besagen, dass jede Aktion eine gleiche oder gegenteilige zur Folge hat. Die Bruchlinien in der amerikanischen Gesellschaft waren schon länger vorhanden. Sie wurden nicht von Trump erfunden. Aber mit seinen Worten und Taten hat er die scharfe Trennung innerhalb der US-Gesellschaft verstärkt und zu einer deutlichen Steigerung der Radikalisierung beigetragen.
Trumps Einzug ins Weiße Haus war das Signal für eine beispiellose Welle von Massendemonstrationen im gesamten Land. Die „Women’s Marches“ verkörpern den größten Protesttag in der US-Geschichte. Zwischen 3,3 und 4,6 Mio. Menschen demonstrierten in Los Angeles, Washington D. C., New York, Chicago, Seattle und anderen Städten in den USA. Das war ein Vorgeschmack auf die Zukunft.
Das Jahr endete mit einer erstaunlichen Niederlage der Republikaner in Alabama, einer sicheren Hochburg der Partei, die Trump bei den Präsidentschaftswahlen mit einem Vorsprung von 30% gewonnen hatte. Das war ein weiteres politisches Erdbeben und wurde weder von den „Experten“ noch den Umfragen prognostiziert.
Es ist zu früh, um zu sagen, wie lange Trump überleben kann. Seine wichtigste Unterstützung erfährt er durch den Bankrott der Demokraten und die Verzögerungen beim Aufbau einer bedeutenden Bewegung der ArbeiterInnenklasse. Die gegenwärtige Administration könnte sich vorerst halten, trotz des noch nie dagewesenen Spektakels einer offenen Spaltung innerhalb der herrschenden Klasse. Wann haben wir in der Vergangenheit einen offenen Konflikt zwischen dem US-Präsidenten und den Medien, dem FBI, der CIA und dem gesamten US-Geheimdienst erlebt?
Trotz der zuversichtlichen Vorhersagen von Trump wird das Jahr viele weitere Erschütterungen dieser Art an den Tag bringen, bei denen es sich im Grunde um eine Widerspiegelung der Instabilität handelt, die ein grundlegendes Merkmal der gegenwärtigen weltweiten Krise des kapitalistischen Systems ist.
Frankreich und Großbritannien
Für Marxisten ist es nicht schwer, die Bedeutung dieser politischen Ärgernisse zu verstehen. Die Krise des Kapitalismus drückt sich in einer allgemeinen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und poltiischen Instabilität aus. Zehn Jahre nach dem finanziellen Zusammenbruch von 2008 ist die herrschende Klasse weit davon entfernt, die Wirtschaftskrise zu lösen. Alle Versuche der Regierungen, das wirtschaftliche Gleichgewicht wiederherzustellen, haben nur dazu beigetragen, das gesellschaftliche und politische Gleichgewicht zu zerstören.
Dies zeigt sich in einem Land nach dem anderen. Bei aller Unterschiedlichkeit sind Trump wie auch Bernie Sanders ein Ausdruck ein und desselben Phänomens. Dies gilt auch für Jeremy Corbyn, Mélenchon in Frankreich, Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien. Es erfasst ein Land nach dem anderen. Es ist ein Ausdruck von tiefsitzender Unzufriedenheit, Ärger und Frustration unter der Oberfläche. Dies lässt bei der herrschenden Klasse und ihren Strategen die Alarmglocken schrillen.
Der Aufstieg einer „zunehmend toxischen Anti-Establishment-Stimmung“ untergräbt das Vertrauen in die politischen Institutionen demokratischer Staaten und ebenso in die Medien und das Wahlsystem der USA. Schwäche in diesen Institutionen kann zu Instabilität, antiautoritärer Stimmung, unabsehbarer Politik und Konflikten führen.
Derzeit erleben wir in den USA und überall den Zusammenbruch der Mitte. Die winzigen unrepräsentativen Eliten, die die Macht innehaben, sind darüber natürlich alles andere als glücklich. Sie sehen zurecht die zunehmende Polarisierung nach links und rechts als Bedrohung ihrer Interessen an
Daher waren sie nachvollziehbar erfreut, als im Mai 2017 ein unbekannter Kandidat der „Mitte“, Emmanuel Macron, Marine Le Pen in der Stichwahl schlug und Frankreichs jüngster Präsident wurde. Keine der traditionellen Parteien schaffte es in die Stichwahl. Die Medien machten darüber viel Getöse. Sie behaupteten, dass Macron eine absolute Mehrheit gewonnen habe. Aber das stimmt nicht. Die absolute Mehrheit bildeten faktisch jene 70 Prozent, die ihn nicht wählten. Die Medien blendeten auch die Tatsache aus, dass der linke Jean-Luc Mélenchon als der populärste Politiker in Frankreich gilt.
In Wirklichkeit ist die politische Mitte eine Fiktion. Die Gesellschaft ist zunehmend gespalten zwischen einer kleinen Gruppe von Menschen, die das System kontrollieren, und der überwältigenden Mehrheit, die ärmer werden und sich offen gegen das System auflehnen. „Die Mitte erobern“ war eine Idee von Tony Blair (Begründer von „New Labour“ und britischer Premierminister von 1997 bis 2007)
Diese Idee ist ebenso kindisch wie einfach: man bemüht sich um eine Übereinkunft zwischen Parteien, die sich auf unterschiedliche Klassen stützen. Aber dabei stellt sich ein kleines Problem: eine solche Übereinkunft ist unmöglich, weil die Interessen dieser Klassen völlig entgegengesetzt und unvereinbar sind. Dieser Gegensatz kann in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs zeitweilig verschleiert werden, aber in aktuellen Zeiten der kapitalistischen Krise wird er offensichtlich und unübersehbar.
Im Juni 2016 war die Brexit-Abstimmung Großbritanniens Sprung ins Ungewisse. Das war ein weiteres politisches Erdbeben, dessen Ergebnisse jetzt erst spürbar sind. In dem verzweifelten Bemühen, die schwache britische Verhandlungsposition zu stärken, hat Premierministerin Theresa May Mitte 2017 überraschend vorgezogene Neuwahlen anberaumt. Dies tat sie in der von Hinz und Kunz geteilten Erwartung, dass die Konservativen niemals verlieren könnten.
Laut Meinungsumfragen hatten die Konservativen einen Vorsprung von 20 Prozentpunkten. Sämtliche Medien waren der Ansicht, dass Labour unter linken Parteichef Jeremy Corbyn niemals eine Wahl gewinnen würde. Vergessen wir nicht, dass der rechte Labour-Flügel mit seiner erdrückenden Mehrheit in der Parlamentsfraktion in den vergangenen zwei Jahren alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um Jeremy Corbyn mit einer medialen Schmähkampagne loszuwerden.
Diese Versuche schlugen fehl. Vor der Parlamentswahl bereiteten sie sich darauf vor, Corbyn als mutmaßlichen Wahlverlierer wieder abzusägen und sehnten sich eine Wahlniederlage herbei. Aber zur allgemeinen Überraschung kämpfte Labour mit einem linken Wahlprogramm und legte stark zu. Die Konservativen verloren ihre absolute Mehrheit und der angeblich unwählbare Jeremy Corbyn wurde der populärste Politiker des Landes.
Vor nicht allzu langer Zeit gehörte Großbritannien zu den stabilsten Ländern Europas. Jetzt gehört es zu den instabilsten. Das Ergebnis des Brexit-Referendums und die Gärung in Schottland waren Symptome einer vorhandenen tiefen Unzufriedenheit, die nur keinen anderen Ausdruck fand. In der Person von Jeremy Corbyn hat diese Massenunzufriedenheit jetzt einen politischen Ausdruck in Form eines starken Linksrucks gefunden, der für die marxistische Strömung in Großbritannien große Chancen in sich birgt, weil sie als einzige Kraft diese Erscheinung verstanden hat, die alle pseudo-trotzkistischen Sekten jahrzehntelang für unmöglich gehalten haben.
Katalonien
Die Katalonien-Krise ist eine Widerspiegelung der Sackgasse, in der sich der spanische Kapitalismus befindet, und das Ergebnis des Verrats durch den Stalinismus und den Reformismus, der zur Missgeburt der Verfassung von 1978 führte. Dieser Verrat ermöglichte der morschen herrschenden Klasse in Spanien wichtige Bestandteile des alten Franco-Regimes hinter einer „demokratischen“ Verfassung zu verstecken.
Jetzt, 40 Jahre später, rächt sich die Vergangenheit. Die Menschen in Katalonien haben die Realität der spanischen Demokratie am eigenen Leib erfahren, als die Polizei mit Gummiknüppeln auf unbewaffnete und schutzlose BürgerInnen einschlug – Männer und Frauen, Jung und Alt – deren einziges Vergehen der Wunsch war, über die Zukunft ihres Landes abzustimmen.
Die Führer dieser Bewegung taten ihr Bestes, um die rechte Regierung Rajoy in Madrid davon zu überzeugen, dass sie es mit der Unabhängigkeit natürlich nicht ernst meinten. Sie „proklamierten“ ein unabhängiges Katalonien, erklärten aber auch, dass es „nicht umgesetzt würde“. Sie verhielten sich wie Generäle, die eine Armee mobilisieren, diese kriegsbereit machen, den Gegner zum Handeln herausfordern und dann die weiße Flagge hissen. Man kann sich keinen sichereren Weg zur Demoralisierung der Soldaten vorstellen.
Aber die katalanischen Führer glaubten, diese Manöver würde sie vor der Wut ihrer Feinde retten, doch damit lagen sie leider falsch. Schwäche lädt zur Aggression ein. Die Kräfte in Madrid verhafteten die wichtigsten Führer der Unabhängigkeitsbewegung und beschuldigten sie, einen Aufstand geplant zu haben, entmachteten die autonome katalanische Regierung und verhängten eine direkte Herrschaft der Zentralregierung, um die Unabhängigkeitsbewegung zu zerschlagen. Der katalanische Präsident Carles Puigdemont floh ins Exil nach Belgien.
Die katalanischen bürgerlichen Nationalisten hatten sich dummerweise vorgestellt, sie würden die Unterstützung durch die EU erhalten, aber sie wurden schnell von dieser Illusion geheilt. Brüssel und Berlin erklärten ihnen in unzweideutiger Weise, dass ein unabhängiger katalanischer Staat von Europa nicht anerkannt würde. Soviel zur demokratischen Legitimation der EU-Führer!
Falls die regierende PP gedacht hatte, sie könne das Problem mit brutaler Gewalt lösen, so lag auch sie falsch. Marx erklärte, dass die Revolution die Peitsche der Konterrevolution benötigt. Am Samstag, den 21.Oktober demonstrierten 450.000 Menschen in Barcelona, während in weiteren Städten in ganz Katalonien zehntausende auf die Straßen gingen, um die Freiheit für ihre verhafteten Führer zu fordern.
Die Wahlen vom 21. Dezember waren ein Schlag ins Gesicht der spanischen Regierung. Diese Wahlen fanden unter außergewöhnlichen Umständen statt, angefangen damit, dass sie von der spanischen Regierung einberufen worden waren, nachdem die katalanische Regierung abgesetzt und das katalanische Parlament aufgelöst worden waren. Sechs bedeutende Führer der Pro-Unabhängigkeits-Parteien sind entweder noch im Gefängnis oder im Exil und konnten aus diesen Grunde nicht am Wahlkampf teilnehmen. Sie wurden von der Gefängnisleitung sogar bestraft, weil sie Nachrichten aus dem Gefängnis geschmuggelt hatten, die während der Wahlveranstaltungen verlesen wurden. Das alles geschah unter Berufung auf den Artikel 155 der Verfassung von 1978.
Trotz alledem lag die Wahlbeteiligung bei 81,94%. Das war die höchste Wahlbeteiligung nicht nur für Wahlen zum katalanischen Parlament, sondern auch für das spanische Parlament in Katalonien und ganz Spanien. Die in Spanien regierende PP erhielt nur noch drei Sitze und der Pro-Unabhängigkeits-Block gewann erneut die absolute Mehrheit im katalanischen Parlament. Aus diesem Grund befinden wir uns in der gleichen Lage wie zuvor.
Was auch immer in den nächsten Monaten passiert, in Katalonien und auch in Spanien wird nichts mehr so sein wie vorher. Es sind Kräfte frei geworden, welche den falschen und heuchlerischen „Konsens“, der die Menschen um eine ehrliche demokratische Alternative zum verhassten Franco-Regime betrogen hat, zerreißen werden. Rajoy und die PP sind die wahren Erben dieses Regimes, das in der Vergangenheit die Menschen brutal mit den Füßen getreten hat und dies auch heute weiterhin tut.
Die Massenbewegungen in Katalonien sind nur die ersten Symptome der Aufruhr gegen diese Diktatur. Der gleiche Geist der Revolte wird früher oder später im gesamten Land sichtbar werden.
Reichtum und Armut
Die Unzufriedenheit, die überall zunimmt, ist der Ausdruck einer extremen Polarisierung: die Konzentration des Kapitals, die Marx vor langer Zeit vorhersagte und die seitdem von den Wirtschaftswissenschaftlern und Soziologen wütend abgestritten wurde.
Wer kann heute die Wahrheit der Marxschen Vorhersage leugnen? Die Konzentration des Kapitals hat auf laborartige Weise stattgefunden. Weniger als 200 riesige Konzerne kontrollieren heute den Welthandel. Ein obszöner Reichtum ist in den Händen einiger weniger konzentriert. Allein 2017 vergrößerten die Milliardäre ihre gemeinsamen Reichtümer weltweit um das Fünffache.
Laut Josef Stadler, dem globalen Leiter der Abteilung für vermögende Kunden (Ultra High Net Worth) der UBS, ist „die ungleiche Vermögensverteilung auf dem höchsten Stand seit 1905“. Das reichste Prozent besitzt mehr als die Hälfte des weltweiten Wohlstands, besagt ein aktueller Bericht, der die wachsende Lücke zwischen den Superreichen und dem Rest der Menschheit beleuchtet.
Ein Bericht von Credit Suisse zeigte, dass die reichsten Menschen in der Welt ihren Reichtum von 42% auf dem Höhepunkt der Finanzkrise von 2008 auf 50,1% 2017, das sind 140 Billionen Dollar, erhöhen konnten. Weiter heißt es:
„Der Anteil des obersten Prozent ist seither [seit der Krise] zunehmend, nachdem das Niveau von 2000 im Jahre 2013 überholt wurde und seitdem in jedem folgenden Jahr neue Höchstwerte erzielt wurden.“ Die Bank schreibt weiter, „die globale ungleiche Vermögensverteilung war sicherlich hoch und stieg in der Periode nach der Krise“.
Der Anstieg des Reichtums unter den schon sehr Reichen führte in den letzten Jahren zur Etablierung von 2,3 Mio. neuen Dollar-Millionären, zu denen jetzt insgesamt 36 Mio. weltweit gehören. „Die Zahl der Millionäre, die 2008 zurückging, erholte sich nach der Finanzkrise äußerst schnell und ist momentan dreimal so hoch wie 2000.“ Diese Millionäre, die 0,7% aller Erwachsenen weltweit ausmacht, kontrollieren 46% des globalen Reichtums, der aktuell bei der schwindelerregenden Zahl von 280 Billionen Dollar liegt.
Das ist die eine Seite der Medaille. Am anderen Ende des Spektrums besitzt jeder der 3,5 Mrd. ärmsten Erwachsenen Vermögenswerte von weniger als 10000 Dollar. Zusammengenommen verfügen diese Menschen, die 70% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ausmachen, nur über 2,7% des weltweiten Reichtums. Für Millionen Menschen ist das eine Frage von Leben und Tod. 2017 benötigten ungefähr 83 Mio. Menschen in 45 Ländern Nahrungsmittelsoforthilfen – über 70% mehr als 2015. Und 2018 könnten 76 Mio. diese Hilfe brauchen.
Der Jemen ist ein besonders skandalöser Fall. Als Folge eines barbarischen Aggressionskrieges von Saudi-Arabien und seiner Verbündeter haben 17 Mio. Jemeniten nicht genug zu essen und über drei Millionen Kinder sowie schwangere und stillende Frauen leiden an Unterernährung. Die heuchlerischen westlichen Medien haben die Grausamkeiten größtenteils ignoriert, die vom verbrecherischen saudischen Regime, das den Hunger bewusst als Kriegswaffe einsetzt, begangen werden.
Die Bedeutung des subjektiven Faktors
In den vergangenen Jahren stellte sich der Mittleren Osten als Hochburg der finstersten Reaktion dar. Krieg, Bürgerkrieg, Blutvergießen, religiöser Fanatismus, Massaker und Chaos. Der Schlüssel liegt in drei Ländern: Ägypten, Türkei und Iran. In diesen Ländern ist das Proletariat am stärksten und bestehen revolutionäre Traditionen. Oberflächlich betrachtet sitzt in allen drei Ländern die Reaktion fest im Sattel. Aber eine solche Einschätzung ist mangelhaft.
Die Massen in Ägypten unternahmen alles, um die Gesellschaft zu verändern. Aber es fehlte eine Führung und nur deshalb wurde die großartige Bewegung des Jahres 2011 in eine Sackgasse geführt. Da die Natur ein Vakuum verabscheut, wurde der freiwerdende Platz von Sisi und anderen reaktionären Armeegeneralen ausgefüllt. So mussten die Arbeiter und Bauern in Ägypten wieder die harte Schule der Reaktion erfahren. Aber früher oder später werden sie sich wieder erheben. Die Sisi-Diktatur ist eine baufällige Konstruktion und Bruchbude. Ihre größte Schwäche liegt auf dem Gebiet der Wirtschaft. Die Menschen in Ägypten brauchen Brot, Arbeit und Wohnungen. Aber die herrschenden Generale können dies nicht garantieren. So sind künftige Explosionen unvermeidlich.
Auch in der Türkei kam das revolutionäre Potenzial der Massen im Aufstand 2013 zum Ausdruck. Diese Bewegung wurde aber wieder unterdrückt und es gelang Erdogan, die Massen mit dem Trumpf des türkischen Nationalismus und einem brutalen Krieg gegen die Kurden abzulenken. Aber Millionen unterprivilegierter Menschen in der Türkei werden vom Nationalismus allein nicht satt. Früher oder später wird eine Gegenbewegung gegen dieses Regime einsetzen. Dafür gibt es bereits Anzeichen. Wir müssen die Entwicklung in der Türkei aufmerksam verfolgen, weil es sich hier um einen Schlüssel zum Mittleren Osten handelt.
Die Mehrzahl der Weltbevölkerung ist jung. Weltweit sind mindestens 60 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Die brennende Unzufriedenheit dieser jungen Menschen hat schon 2011 die Arabische Revolution entfacht.
Nun erleben wir das selbe Phänomen auf den Straßen in Stadt und Land im Iran. Wie üblich entbrannte diese Bewegung plötzlich und ohne vorherige Warnung. Vergleichbar mit einem schweren Stein, der in einen stillen Teich geworfen wird. Das schockierte und erstaunte alle selbsternannten Experten, besonders jene müde gewordenen alternden „linken“ Zyniker, die eingefleischte Pessimisten sind und zutiefst glauben, dass nichts geschehen wird und die Massen sich nie bewegen werden. Alle diese „klugen“ Menschen mussten staunend mit ansehen, als diese Bewegung begann, die sie nie für möglich gehalten hätten.
„Aber diese Demonstrationen sind kleiner als 2009“, sagen die Skeptiker. Ja – kleiner, aber auch radikaler, mit mehr Kraft, Kühnheit und weniger Behutsamkeit. Mit Lichtgeschwindigkeit wurden aus ökonomischen Forderungen politische Forderungen. Es ging um Arbeitslosigkeit, hohe Lebenshaltungskosten und den Sturz des gesamten Regimes. Die Protestierenden rissen Plakate des obersten Führers Ayatollah Khamenei ab – war in Iran höchst riskant ist und bisher nicht vorkam. Es wurden auch Übergriffe auf Porträts von Ayatollah Khomeini selbst gemeldet.
Wer waren diese Protestierenden? Überwiegend junge, arme, arbeitslose Menschen, nicht die Universitätsstudenten, die frühere Proteste beherrschten. Sie waren unorganisiert, gehörten keiner politischen Gruppierung an und hatten keine Leitidee, dafür aber nur ein Ziel: die Sehnsucht nach Veränderung. Aber das ist Ausgangspunkt jeder Revolution.
Das Regime wurde bis ins Mark erschüttert. Es versteht, dass diese Bewegung genau wegen ihres Klasseninhalts potenziell eine gefährlichere Bedrohung darstellt als die millionenfache Bewegung in Teheran 2009. Die Unschlüssigkeit des Regimes scheint auf den ersten Blick unverständlich. Angesichts der relativ geringen Stärke dieser Demonstrationen und des mächtigen Unterdrückungsapparats in den Händen der Mullahs hätte man annehmen können, dass das Regime diese Bewegung genau so auslöscht wie ein Mann eine Kerze mit zwei Fingern.
Doch während ich diese Zeilen schreibe, hat das Regime noch keine ernsthafte Unterdrückungsmaßnahme gestartet. Die Hunde bellen, aber sie beißen nicht. Warum? Dafür gibt es zwei Hauptgründe. Erstens ist das Regime durchweg gespalten und real viel schwächer als in der Vergangenheit. Zweitens verstehen die Regierenden, dass hinter den Demonstranten Millionen Iraner stehen, die nach Jahren von nagender Armut, Arbeitslosigkeit und steigenden Lebensmittelpreisen die Nase gestrichen voll haben.
Sie haben schon lange ihr Vertrauen in die Mullahs verloren, die angeblich Moral und Ehrlichkeit verkörpern, aber genau so korrupt sind wie die Beamtenschaft von Schah Reza Pahlewi in der Vergangenheit. Jedes harte Vorgehen gegen Protestierende würde eine Gegenbewegung auslösen und Millionen auf die Straße bringen – diesmal Arbeiter und nicht nur Studierende und Mittelschichten.
Nun ist es schwer vorherzusagen, wie die Zukunft dieser Rebellion aussehen wird. Ihre Hauptschwäche liegt in der fehlenden Organisation. Ohne klaren Aktionsplan und ein festes Verständnis der Taktik und Strategie könnte jede Bewegung ihre Energie vergeuden und in unkoordinierte Randale ausarten. Darauf hofft das Regime inständig. Also stellt sich wieder knallhart die Frage nach einer revolutionären Führung.
1938 schrieb Leo Trotzki, dass sich die Krise der Menschheit letztlich auf die Krise der proletarischen Führung zurückführen lässt. Es gab in den vergangenen Jahren viele revolutionäre Bewegungen: in Ägypten, der Türkei, Iran, Griechenland. Aber in jedem einzelnen Fall wurden die Massen mangels einer revolutionären Führung ausgebremst. Hätte es in Ägypten beim Sturz von Mubarak 2011 auch nur eine kleine revolutionäre Partei gegeben, so wäre die seitherige Entwicklung völlig anders verlaufen.
Erinnern wir uns daran, dass die Bolschewiki im Februar 1917 nur 8000 Mitglieder in einem überwiegend bäuerlich geprägten Land mit 150 Millionen Einwohnern hatten. Doch in einem Zeitraum von nur neun Monaten wurden sie zu einer mächtigen Partei, die in der Lage war, die Arbeiter und Bauern an die Macht zu führen.
Am Beginn eines neuen Jahres können wir zuversichtlich sein, dass sich neue revolutionäre Möglichkeiten in einem Land nach dem anderen bieten werden. Der Iran zeigt, dass jederzeit scharfe und plötzliche Wendungen möglich sind. Wir müssen darauf vorbereitet sein und jede Gelegenheit nutzen, um ausgehend von den fortgeschrittensten Teilen der Klasse die Ideen des Marxismus zu verbreiten und unsere Kräfte aufzubauen.
Den Verängstigten, Abtrünnigen und Skeptikern, die die Perspektive der Revolution bestreiten, können wir nur mit Galileo Galileis trotzigen Worten zurufen: Eppur si muove – Und sie bewegt sich doch!
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