Trügerischer Aufschwung
Wenn man der Mehrheit der bürgerlichen Ökonomen glaubt, geht es der deutschen Wirtschaft, zehn Jahre nach dem Absturz von 2008, wieder erstaunlich gut. Der Sachverständigenrat Wirtschaft der Bundesregierung erwartet ein Wirtschaftswachstum von 2,2% in Deutschland für dieses Jahr, ähnlich wie der IWF.(1) Auch weltweit stellen die Ökonomen des IWF einen zyklischen Aufschwung fest. Schaut man jedoch etwas genauer hin, erkennt man schnell, dass der vermeintliche Aufschwung trügt: Der IWF spricht von einem „anämischen“ (=blutarmen) und „unvollständigen“ Aufschwung. Unvollständig ist der Aufschwung aus Sicht der IWF-Ökonomen in dreifacher Hinsicht:
Erstens nütze dieser Aufschwung hauptsächlich hohen Einkommen, während niedrige und mittlere Einkommen stagnierten. Trotz eines allgemeinen Aufschwungs könne eine Mehrheit der Bevölkerung ihren Lebensstandard nicht verbessern und profitieren in der Folge nicht vom Wirtschaftswachstum.
Zweitens stellen die Ökonomen des IWF fest, dass trotz des allgemeinen, weltweiten Aufschwungs eine bedeutende Anzahl von Ländern ein negatives Wachstum verzeichnet, nämlich ein Fünftel aller Länder und ein Viertel aller aufstrebenden Märkte im Jahr 2017.
Und drittens verschleiere der aktuelle Aufschwung nur die langfristige Entwicklung: In der kommenden Periode (2017 bis 2022) erwarten die Wirtschaftsexperten ein Weltwirtschaftswachstum von 1,4%. Im Vergleich zum Vorkrisenwachstum der Jahre 1996 bis 2005 von 2,2% ist das ziemlich wenig und alles andere als ein “Boom“ oder eine Erholung auf Vorkrisenniveau.(2)
Uns Marxisten wundert diese Entwicklung nicht. Auch in Zeiten der Krisen verläuft die wirtschaftliche Entwicklung zyklisch. Aber der jetzige Aufschwung ist von so schwacher Natur, dass von einer „Erholung“ oder einem Ende der Krise keine Rede sein kann.
Auch die Ökonomen des IWF erkennen das. Sie stellen klar, dass der gegenwärtige Aufschwung keine Erholung der Weltwirtschaft auf Vorkrisenniveau darstellt. Im Gegenteil: Sie sprechen von einem „kurzen Fenster des Aufschwungs“ das Politiker für „unpopuläre“ und „ambitionierte Strukturreformen“ nutzen sollten um sich auf den nächsten Absturz vorzubereiten. Dass dieser Absturz kommt, daran zweifeln nicht einmal die Ökonomen des IWF. Für die Arbeiterklasse heißt die Empfehlung der IWF-Ökonomen noch mehr Kürzungen und Konterreformen und keinen Spielraum für soziale Reformen, sogar in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs.
Die kommende Krise: Sinkende Produktivität, massive Zunahme riskanter Finanzspekulationen und Protektionismus als Folge der Überproduktionskrise
Das Wirtschaftswachstum ist blutarm und schwach, von einem Boom kann keine Rede sein. Gleichzeitig hat sich das Volumen der Börsen weltweit seit der Krise von 2008 verdoppelt.(3) Die Spekulation an den Finanzmärkten hat sich mehr und mehr von der Realwirtschaft entkoppelt und spiegelt in keinster Weise mehr das tatsächliche Wirtschaftswachstum wieder. Sie ist zu einer gigantischen Blase geworden.
Die Ursache dieser gigantischen Spekulationsblase ist die tiefe organische Krise des Kapitalismus: Auf Grund der weltweiten Überproduktion lohnt es sich immer weniger für Kapitalbesitzer in neue Produktionsanlagen zu investieren. Wozu neue Fabriken bauen, wenn die alten auf Grund der geringen Nachfrage noch gar nicht ausgelastet sind? Die Realwirtschaft fällt in der Folge immer mehr als profitables Investitionsfeld weg, spekulative Finanzgeschäfte treten an ihre Stelle. Der Boom an den Börsen ist also keinesfalls der Motor einer wirtschaftlichen Erholung, sondern im Gegenteil, Vorbote der nächsten schweren Krise.
Die Folge der niedrigen Investitionen ist auch eine niedrige Produktivität. Der Marxismus erklärt, dass das Geheimnis der Lebensfähigkeit jedes Wirtschaftssystems die Erreichung der maximalen Produktivität der Arbeit ist. Eines der wichtigsten Elemente in der Entwicklung des Kapitalismus war gerade das Wachstum der Arbeitsproduktivität. Seit 200 Jahren hat der Kapitalismus die Produktivität der menschlichen Arbeitskraft auf ein bisher ungeahntes Niveau gehoben. Aber dieser Fortschritt stößt jetzt an seine Grenzen. Eine Studie des Zentrums für Wirtschafts- und Politikforschung über Produktivität im September 2015 ergab, dass die weltweite Produktivität zwischen 2007 und 2012 jährlich um 0,5% gestiegen ist; halb so viel wie im Zeitraum 1996-2006. In der jüngeren Periode von 2012 bis 2014 hatte es jedoch bei Null Prozent komplett aufgehört.
Auch in Deutschland hat die sinkende Investitionsbereitschaft eine sinkende Produktivität zur Folge. In einer Studie mit dem Titel „The slowdown of German productivity growth“(4) heißt es unter anderem: „Gleichwohl hat sich der Anstieg der Arbeitsproduktivität in Deutschland in den letzten Jahren ebenfalls deutlich verlangsamt. Derzeit gibt es keine Anzeichen für eine Trendumkehr. Gleichzeitig haben wir eine relativ schwache Investitionstätigkeit im privaten Sektor beobachtet. [...] Es ist wahrscheinlich, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und damit auch der materielle Wohlstand langfristig bedroht sind.“
Anstatt dass der Kapitalismus Innovation und technische Weiterentwicklung voran treibt, ist er in der Folge seiner inneren Widersprüche zum Hindernis wirtschaftlicher Produktivität und Weiterentwicklung geworden. Die Produktivkräfte sind dem Kapitalismus über den Kopf gewachsen. Privateigentum und Nationalstaat sind von den Motoren wirtschaftlicher Entwicklung und Innovation zu ihren Fesseln geworden. Sie müssen gesprengt werden, sie werden gesprengt.
Die weltweite Überproduktion drückt sich zudem in einem Handelskrieg zwischen der EU, China und den USA aus. Deutschland exportierte im vergangenen Jahr 50,5 Milliarden Euro mehr Waren in die Vereinigten Staaten, als es von dort importierte.(5) Um die amerikanische Wirtschaft zu stärken, kündigte US-Präsident Trump an die Einfuhrzölle für Stahl und Aluminium auf 25% (Stahl) und 19% (Aluminium) drastisch zu erhöhen. Damit würde der zweitgrößte Absatzmarkt der deutschen Stahlindustrie wegfallen. Damit nicht genug. Auch die chinesische Stahlindustrie, die unlängst schon von einer massiven Überproduktionskrise heimgesucht wurde, könnte nicht mehr in dem Maße Stahl in die USA exportieren und die Konkurrenz auf dem europäischen Markt würde steigen. Damit stehen tausende Arbeitsplätze auf dem Spiel. Der Kampf um die Absatzmärkte, welche durch die Überproduktionskrise immer kleiner werdenden, wird härter.
Die kommende Krise: Deutschland und die EU
Deutschland ist in vielerlei Hinsicht, wirtschaftlich und politisch abhängig von der EU. Zum einen ist die EU der größte und wichtigste Absatzmarkt für die exportorientierte deutsche Wirtschaft. Gerät Europa tiefer in die Rezession und bricht dieser Markt weg, wäre das ein empfindlicher, schwerer Schlag für die deutsche Wirtschaft. 30% der deutschen Arbeitsplätze hängen am Export, in der Industrie sind es sogar 55%.(6) Die Profite der Kapitalisten würden massiv einbrechen.
Zum anderen braucht Deutschland die EU als politischen und wirtschaftlichen Block um mit den wirtschaftlichen Großmächten (USA, China, Russland) mithalten zu können. Deutschland alleine hätte keine Chance dem Konkurrenzdruck dieser Großmächte standzuhalten (genau so wenig wie andere europäische Länder). Deutschland würde im Kampf um die in der Überproduktionskrise immer rarer werdenden Absatzmärkte den kürzeren ziehen. Die Stabilität und Stärke der Europäischen Union ist eine Überlebensfrage für die deutsche Wirtschaft.
Aber genau diese Stabilität bröckelt überall in der EU: Besonders in den südeuropäischen Ländern steht die EU seit der Krise von 2008 und den darauffolgenden Jahren für brutale Austeritätspolitik im Interesse Deutschlands. Laut einer Studie der London School of Economics stehen rund 50% der griechischen Bevölkerung der EU kritisch gegenüber.(7) Aber auch in anderen Ländern, etwa in Frankreich, steigt die Ablehnung der EU in der Bevölkerung. Jüngstes Beispiel sind die Parlamentswahlen in Italien am 4. März, bei denen euroskeptische Parteien eine klare Mehrheit erhielten. Der schwerste Schlag für die Stabilität der EU ist mit Abstand der Brexit. Der Austritt eines der wirtschaftlich und politisch wichtigsten Länder aus der EU hat die herrschende Klasse tief erschüttert.
Die EU ist alles andere als stabil. EU-skeptische Stimmungen in der Bevölkerung wachsen, vor allem osteuropäische Staaten fordern mehr „nationale Souveränität“. Die Handlungsfähigkeit der EU ist geschwächt und das in Zeiten, in denen die EU für die herrschende Klasse immer wichtiger wird:
Die chinesische Konkurrenz bringt die deutsche Exportwirtschaft immer mehr in Bedrängnis. Chinesische Stahlfirmen machen der deutschen Wirtschaft den europäischen Markt streitig. Auch auf dem Feld der Autoproduktion wird China zum Konkurrenten. Bis 2020 sollen 50% der chinesischen Autoverkäufe Elektro-Autos sein.(8) Will die deutsche Bourgeoisie den wirtschaftlichen (und politischen) Kampf mit China gewinnen, braucht sie eine starke EU.
Gleichzeitig wachsen Russlands Ambitionen, wieder wirtschaftlich und politisch Weltmacht zu werden. Besonders in den letzten Jahren hat Russland versucht in Osteuropa bedeutend an Einfluss zu gewinnen und den Einfluss der EU zurückzudrängen.
Hinzu kommt, dass die USA sich mehr und mehr offen auf ihre eigenen imperialistischen Interessen konzentrieren und nicht mehr automatisch an der Seite Europas stehen. Das haben jüngst die angedrohten Strafzölle auf Aluminium und Stahl gezeigt.
Um seine Interessen durchzusetzen, brauch vor allem die deutsche Bourgeoisie, ein Handlungsfähiges Europa; politisch, ökonomisch und militärisch. Dieses Europa wird aber in der Folge der Klassenkämpfe in den Mitgliedsstaaten und der wachsenden allgemeinen Unzufriedenheit mit dem Status Quo immer instabiler.
Besonders mit Blick auf die Entwicklung in Europa bewahrheitet sich unsere Analyse, dass der Versuch der herrschenden Klasse das ökonomische Gleichgewicht wieder herzustellen das politische und soziale Gleichgewicht untergraben hat.
Die kommende Krise: Die Niedrigzinspolitik der EZB
Als Folge der expansiven Geldpolitik der EZB, mit der sie versuchte der Staatsschuldenkrise entgegenzuwirken, sank der Leitzins massiv. Daher ergibt sich, dass Kredite für Staaten aber auch für Unternehmen enorm günstig sind. Es entstehen so genannte „Zombiefirmen“, die sich nur auf Grund dieser Kredite am Leben halten können, würden die Zinsen wieder steigen, würden sie zahlungsunfähig und gingen pleite. In den letzten zehn Jahren hätten in Deutschland 170.000 bis 300.000 Unternehmen zusätzlich pleite gehen müssen. Geht der EZB die Puste aus und muss sie den Leitzins wieder anheben, werden diese Pleiten innerhalb kurzer Zeit nachgeholt. Neben dem Entstehen einer solchen Blase sinkt dank der Niedrigzinspolitik auch die Produktivität. Die „Zombiefirmen“ sind an sich unproduktiv, binden aber dadurch, dass sie nicht pleite gehen, volkswirtschaftliche Produktionsmittel.(9)
Die EZB kündigte nun an ab Mitte nächsten Jahres damit zu beginnen den Leitzins schrittweise wieder anzuheben. Das gefährdet nicht nur unproduktive Firmen, die sich bis lang nur auf Grund der niedrigen Zinsen über Wasser halten konnten, sondern in gleicher Weise auch Staatshaushalte. Um die Schwarze Null nicht zu gefährden, muss Finanzminister Scholz noch härter sparen und Staatsausgaben kürzen. Dabei fehlen jetzt schon Millionen Euro in der Pflege, der Bildung und der Infrastruktur.
Die kommende Krise: Schlussfolgerungen
Wann der nächste Absturz kommt ist nicht vorhersehbar. Fest steht, dass er die Weltwirtschaft härter treffen wird, als der Absturz von 2008. Deutschland steht als drittgrößte Exportnation und viertgrößte Volkswirtschaft im Vergleich wirtschaftlich im Moment noch recht gut da: Die Auftragsbücher der deutschen Industrie sind weitestgehend voll, deutsche Großkonzerne sind weltweit Marktführer. Spätestens mit dem nächsten Absturz wird sich das massiv ändern: Grade Deutschland als Exportnation würde unter einer weltweiten Rezession leiden, schließlich hängen über die Hälfte der Arbeitsplätze in der Industrie am Export.
Die Bürgerlichen werden gezwungen sein, die Arbeiterklasse offen anzugreifen und auch in Deutschland eine brutale Austeritätspolitik durchsetzen. Nicht weil sie von Natur aus böse Menschen sind, sondern weil es die einzige Handlungsoption für die Bourgeoisie in der kapitalistischen Krise ist. Das deutsche Erfolgsmodell der „Sozialpartnerschaft“ wird ausgehöhlt werden, die Bürgerlichen werden unter diesen Bedingungen auf eine Rechtsregierung setzen, welche ohne zu zögern die aus Sicht der Bürgerlichen „nötige“ Austeritätspolitik durchsetzt. Ähnlich wie zuvor in Österreich beginnt die herrschende Klasse bereits sich einen rechten Flügel in der CDU heranzuzüchten. Schlüsselfigur ist in dieser Hinsicht Jens Spahn, der in letzter Zeit mehr als einmal durch arbeiterfeindliche Äußerungen von sich reden gemacht hat. Spahn schreckt nicht davor zurück auf alle Kosten die Interessen der Kapitalisten gegen die Arbeiterklasse durchzusetzen, egal wie unmenschlich sie auch sein mögen.
Ein solcher Angriff der Bürgerlichen wird zwangsläufig eine Gegenreaktion der politischen Linken und der organisierten Arbeiterbewegung hervorrufen. Je mehr der Lebensstandart der Arbeiterklasse zerstört wird, desto mehr reift die Einsicht, dass es so wie es ist nicht weiter gehen kann. Die Wut auf den Status Quo, die sich jetzt schon unter der Oberfläche anhäuft, wird ansteigen und früher oder später einen politischen Ausdruck in Form einer linken Massenbewegung finden. Die Folge eines offenen Angriffs der Bürgerlichen wird ein Anstieg des Klassenbewusstseins und eine Zunahme des Klassenkampfes in Deutschland sein. Die Gewerkschaften werden angesichts der brutalen Sparpolitik in die Opposition gehen, auch wenn die Gewerkschaftsführung versuchen wird auf jeden faulen Deal aufzuspringen und die Radikalisierung der Massen zu stoppen.
Fest steht: Wir steuern auf eine Situation zu, in der die drängendsten Forderungen der Arbeiterklasse immer weniger im Kapitalismus erfüllt werden können. Er muss überwunden werden.
Soziale Ungerechtigkeit und stagnierender Lebensstandard
In Deutschland wächst die Vermögensungleichheit immer mehr. Der Lebensstandard der breiten Bevölkerung stagniert oder sinkt, die Zukunft wird unsicherer. Der aktuelle Aufschwung hat ausschließlich den hohen Einkommen genutzt. Laut der Unternehmensberatung McKinsey konnten rund zwei Drittel aller Haushalte in den 25 entwickeltesten Ländern ihr Einkommen in den letzten zehn Jahren nicht verbessern.(10) 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben heute weniger Kaufkraft und Lebensstandard als vor 20 Jahren. In Deutschland ist die Vermögensungleichheit so groß wie seit 1913 nicht mehr.(11)
Besonders die junge Generation bekommt das zu spüren: Die Millennials, also die Generation der 15 bis 30 Jährigen, verdient wesentlich weniger als ihre Eltern im selben Alter. Sie haben einen niedrigeren Lebensstandard als ihre Eltern, ändert sich die Lohnentwicklung nicht bedeutend, werden sie in ihrem gesamten Leben weniger verdienen als ihre Eltern. Der Satz „Unseren Kindern soll es einmal besser gehen!“ lässt sich schon lange nicht mehr im Kapitalismus erfüllen.(12)
Die Arbeitslosigkeit ist in Deutschland laut der offiziellen Statistik so niedrig wie seit Jahrzehnten nicht. Gleichzeitig wachsen atypische und prekäre Beschäftigungsbedingungen stetig an. Immer mehr Menschen arbeiten befristet oder als Leiharbeiter. Eine sichere und beruhigende Zukunftsperspektive und einen gesicherten Lebensstandard gibt es für sie noch weniger als für den Rest der abhängig Beschäftigten. Tarifliche Lohnerhöhungen gleichen meist grade mal die Inflation aus.
Krise in allen Lebensbereichen
Die Krise des Kapitalismus und der bürgerlichen Klassengesellschaft äußert sich auch in der wachsenden Häufigkeit von psychischen Störungen. Grund dafür sind unter anderem prekäre Arbeitsverhältnisse, stetig steigender Leistungsdruck, Überlastung. Das betrifft nicht nur Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern auch zunehmend Studierende, Auszubildende, Schülerinnen und Schüler. Auch die Lebenssituation im Alter ist von wachsender Unsicherheit und Armut geprägt, so dass psychische Störungen wie Burn-Out, Depressionen und Ängste mittlerweile als sogenannte „Volkskrankheiten“ grassieren. Die fehlende Sicherheit und Perspektive, von der bereits Jugendliche in der Schulzeit betroffen sind, einhergehend mit umfassender Entfremdung bei der Arbeit, an der Uni oder Schule, aber auch in anderen Lebensbereichen, haben ihre Grundlage in den materiellen Verhältnissen unserer Gesellschaft und sind deshalb gesellschaftlich nur auf Grundlage einer sozialistischen Revolution überwindbar. Diese Teile der Gesellschaft werden bei Zuspitzung der Klassenkämpfe, mitunter in diese mit hineingezogen und aktiv intervenieren.
Gärung unter der Oberfläche
Die Angst vor dem sozialen Abstieg bestimmt das politische Bewusstsein und die Wahlentscheidung vieler. Das zeigen Erhebungen wie die Sachsenumfrage, eine Studie im Auftrag der sächsischen Landesregierung über die größten Ängste und Sorgen der Sachsen, auch mit der Zielsetzung den großen AfD Wahlerfolg in Sachsen zu verstehen. Die Studie ergab, dass die größte Angst der Sachsen ist, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander geht (83%). Auf Platz zwei die Sorge, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt verloren geht (71%), auf Platz drei, dass es die zukünftige Generation schlechter haben wird, gefolgt von Platz vier, dass die Rente zum Leben nicht reichen wird (61%). Erst viel weiter hinten finden wir die Angst, Opfer eines Terroranschlags zu werden (23%).(13)
Die Unzufriedenheit und der Frust über diese Zustände wachsen in der Bevölkerung. Immer mehr sind mit dem Status Quo unzufrieden und wollen eine Veränderung. Diese Stimmung war entscheidend für den Ausgang der letzten Bundestagswahl: Die Parteien, die für den Status Quo, für Stagnation, eben diese schlechten Zustände stehen, wurden massiv abgestraft. Das politische Zentrum erodiert, eine politische Polarisierung ist zu beobachten. Das politische Zentrum in Form von CDU/CSU und SPD fuhr eine historische Niederlage ein. In der Folge verteilten sich die Stimmen auf der Suche nach „etwas anderem“ auf sechs unterschiedliche Parteien mehr oder weniger gleichzeitig. Aber auch innerhalb der beiden Mitteparteien Union und SPD nimmt die politische Polarisierung zu, bei der SPD nach links (erstarken der linken Opposition, vermeintlich linke Rhetorik der Führung), bei der Union nach rechts (innerparteiliche, rechte Opposition gegen Merkel und ihre Flüchtlingspolitik, CSU will die „demokratische Rechte“ in der CSU organisieren). Die GroKo wird das erodieren der politischen Mitte und die politische Polarisierung weiter befeuern. Der Versuch die politische Stabilität mit der GroKo herzustellen, untergräbt diese Stabilität langfristig.
Der Gärungsprozess unter der Oberfläche beginnt sich langsam in einer politischen Krise niederzuschlagen. Bis lang war Deutschland politisch eines der stabilsten Länder Europas. Erst ca. 5 Monate nach der Bundestagswahl hat sich die Regierung gebildet. Das ist für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich und Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Krise.
Die Jamaika-Verhandlungen, nach Schwarz-Gelb das Wunschprojekt der Bourgeoisie für „unpopuläre Strukturreformen“, ist nach dem Austritt der FDP gescheitert. Viele fragten sich danach entsetzt, was die FDP und ihren Vorsitzenden Lindner wohl dazu bewegt haben mag. Letztlich lässt sich darüber nur spekulieren. Wahrscheinlich ist, dass Lindner plant, sich als deutschen Macron zu inszenieren. Er hat Begriffen, dass die Mitteparteien (CDU und SPD) die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu spüren bekommen und immer unbeliebter werden. Lindner wollte unbedingt vermeiden, dass die FDP als Juniorpartner und Anhängsel der CDU wahrgenommen wird und so, mit der CDU an Beliebtheit verliert. Das hätte ihm die Chance genommen, sich als neue, „innovative“, „dynamische“ Bewegung zu inszenieren, die vermeintlich eine Alternative zu den etablierten Parteien darstellt, de facto aber die gleiche neoliberale Politik verfolgt.
SPD und LINKE
In Deutschland gibt es zwei traditionelle Arbeiterparteien mit Massenanhang, welche in unterschiedlichem Maße verbürgerlicht sind und unterschiedliche Schichten der Arbeiterklasse repräsentieren: SPD und LINKE.
Die SPD ist die historisch gewachsene Partei des deutschen Proletariats. Auch der schändlichste Verrat der verbürgerlichten SPD-Führung, etwa 1914 die Zustimmung zu den Kriegskrediten oder 1918 die Niederschlagung der proletarischen Revolution, änderten nichts an der Tatsache, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse und vor allem ihres organisierten Teils aus Tradition und aus Mangel an einer glaubwürdigen Massenalternative überwiegend auf die SPD als ihre politische Repräsentantin schaute. Vor allem die Rolle der SPD im Nachkriegsaufschwung, welche in Verbindung mit den Gewerkschaften noch Lebensqualität steigernde Reformen für die Arbeiterklasse durchgesetzt hatte, bleibt ein Ankerpunkt für die Illusionen in den Reformismus, welche nur teilweise durch die Agenda 2010 und weitere arbeiterfeindliche Gesetze zerstört wurden.
Die Gründung der Partei DIE LINKE hat diesen enttäuschten Menschen eine neue - etwas radikalere - Illusion in den Reformismus ermöglicht, aber grundlegend nichts verändert. SPD und LINKE teilen sich diese Rolle jetzt, ohne dass eine der beiden Parteien mit Reformismus, Privateigentum an Produktionsmitteln oder Sozialpartnerschaft brechen würde. Die Führungen beider Parteien sind bemüht, ihren Mitgliedern und Wählern die faulen Kompromisse und kapitalistischen Sachzwänge als soziale Errungenschaften oder notwendige Eingeständnisse zu verkaufen. DIE LINKE hat ihre historische Massenbasis seit 1990 in den östlichen Bundesländern stabilisiert, die SPD ist vor allem im Westen traditionell noch stark verankert.
Während die LINKE hauptsächlich die finanziell schlechter gestellten Schichten des Proletariats vertritt (Niedriglohnsektor, prekär Beschäftigte, Hartz-IV-Empfänger), bilden finanziell besser gestellte Schichten des Proletariats, viele Angehörige des Öffentlichen Dienstes und Aufsteiger in das Kleinbürgertum die traditionelle und immer älter werdende Mitglieder- und Wählerbasis der SPD.
Wie Lenin in seiner Imperialismustheorie erklärt, erzielt die Bourgeoisie der imperialistischen Länder durch die Ausbeutung fremder Erdteile enorm hohe Profite, so genannte Extra-Profite, die ihr ermöglichen vergleichsweise hohe Löhne zu zahlen und die Arbeiterbewegung gewisser Maßen zu bestechen. So kann sie sich leidige Arbeitskämpfe ersparen. Die Arbeiteraristokratie, die sich so heran bildet, sieht dank ihrer hohen Löhne und ihrem vorerst gesicherten Lebensstandard keinen Sinn in harten Auseinandersetzungen mit der Bourgeoisie. Viel mehr entwickelt sie, wie Lenin erklärt, teilweise ein kleinbürgerliches Klassenbewusstsein. Genau dieser Teil des Proletariats schaut auf die SPD. Der Begriff der Arbeiteraristokratie bezog sich ursprünglich auf England und die USA bis zum 1. Weltkrieg und hat sich in den vergangenen 100 Jahren gewandelt. Es wäre heute allerdings falsch, den mechanischen Schluss zu ziehen, dass besserverdienende Lohnabhängige per se nicht kampfbereit, sondern reaktionär seien. Gerade die Bedrohung des bislang hohen Lebensstandards kann diese Schicht der Klasse mobilisieren.
Wer in früheren Jahrzehnten bei einem großen Konzern, im Öffentlichen Dienst, bei Bahn, Post und Telekom beschäftigt war, sah sich auf der sicheren Seite und konnte oftmals auch seine Söhne und Töchter in der Firma unterbringen. Dies hat sich mit der Zerschlagung von Konzernen (Hoechst, Opel etc.), der Privatisierung von ehemaligen Staatsbetrieben und anhaltenden Umstrukturierungen gründlich gewandelt. Hoch qualifizierte Angestellte, oftmals mit akademischem Abschluss, wähnen sich nicht mehr so sicher wie früher und sind unter aktuellen Bedingungen nicht grundsätzlich vor einem Absturz in Hartz IV sicher. Piloten bei der Lufthansa kämpfen seit Jahren zur Verteidigung ihres hohen Lebensstandards, während Billigflieger wie Ryanair diesem stolzen Berufsstand nur prekäre Bedingungen anbieten.
Wenn der Begriff der Arbeiteraristokratie heute noch Sinn machen könnte, dann am ehesten in Bezug auf eine dünne Schicht von Akteuren des Ko-Managements, die im Rahmen des deutschen „Mitbestimmungsmodells“ eine besondere Stellung und Privilegien genießen, darunter führende Gewerkschaftsfunktionäre und etliche freigestellte Betriebsräte in Großbetrieben und Konzernen. Sie klammern sich an die alte Idee der „Sozialpartnerschaft“, träumen von der vermeintlichen „Klassenharmonie“ früherer Jahrzehnte und sehen ihre Rolle nicht als Klassenkämpfer, sondern bestenfalls als Schlichter und Moderatoren im Klassenkampf. Sie gehören auch zu den glühendsten Verfechtern der Großen Koalition und viele werden „bis zuletzt“ die Sozialpartnerschaft und damit letztlich auch die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse verteidigen.
Hinzu kommt, dass der Apparat und die Führung der SPD bedingungslos die Interessen des Kapitals innerhalb der Arbeiterbewegung vertreten, schließlich hängen ihre Karrieren zu sehr am kapitalistischen System und der Gunst der Bourgeoisie. Abgehalftertes SPD-Spitzenpersonal findet immer ein warmes Plätzchen in den Chefetagen der Wirtschaft. Dies zeigt nicht nur die Karriere von Ex-Kanzler Gerhard Schröder als Lobbyist von Gazprom und Rosneft. Jüngstes Beispiel dafür ist der Wechsel von Hannelore Kraft, langjährige SPD Ministerpräsidentin von NRW, zu einem Kohlekraftkonzern. Bei der LINKEN ist das jedoch keineswegs anders. Die Parteiführung steht fest auf dem Boden von Privateigentum und Sozialpartnerschaft und versucht die Partei mehr und mehr auf einen angepassten, etablierten, Kurs zu steuern.
Der einzige Grund, warum der Verbürgerlichungsprozess der LINKEN noch nicht so weit fortgeschritten ist, wie bei der SPD, ist, dass die SPD-Führung dank zahlreicher Regierungsbeteiligungen deutlich öfter die Gelegenheit hatte der herrschenden Klasse ihre Treue zu demonstrieren. Die Regierungsbeteiligung der Linken in Thüringen oder Berlin und die Zustimmung zur Autobahnmaut im Bundesrat haben jedoch gezeigt, dass es in der Praxis keinen qualitativen Unterschied zwischen SPD und LINKE gibt.
Dass die SPD noch kein stinkender Leichnam ist und ein Großteil der Arbeiterklasse immer noch auf die SPD schaut, zeigen die gewaltigen dynamischen Zuckungen, die seit einem Jahr durch diese Partei gehen:
Zuerst der Schulz-Hype, der die SPD binnen weniger Wochen von 20% auf 30% in den Umfragen beförderte. Der Schulz-Hype hat gezeigt, dass die Massen durchaus auf die SPD schauen und sich einen authentischen, klaren Linksschwenk wünschen würden. So verhasst die SPD-Bürokratie auch in der Arbeiterklasse ist, würde die SPD eine authentische, linke Führung und ein linkes Programm erhalten, würden sich die Massen der SPD in großen Mengen zuwenden. Das hat Corbyn in Großbritannien gezeigt und der Schulz-Hype lässt ahnen, dass das auch in Deutschland möglich wäre. Schnell wurde jedoch klar, dass Schulz einen solchen Linksschwenk eben nicht verkörpert. Seiner kühnen Rhetorik folgten unbedeutende oder keine Forderungen. So verlor die SPD in den Umfragen wieder und erhielt bei der Bundestagswahl im September 2017 20,5%. Drei Wochen später, als die SPD-Spitze bundesweit noch den Gang in die Opposition verkündete, schnitt sie bei der Landtagswahl in Niedersachsen deutlich besser als erwartet ab und blieb mit Abstand stärkste Partei.
Die zweite Dynamik, die wir in letzter Zeit in der SPD beobachten konnten ist die #NoGroKo Kampagne. Die #NoGroKo Kampagne ist die größte innerparteiliche, linke Opposition in der SPD seit Jahrzehnten. Auch wenn ihre Wortführer teilweise genau so zur Bürokratie gehören und keine wirkliche sozialistische Wende der SPD wollen, etwa Juso Chef Kühnert, so ist die Dynamik die diese Kampagne entfesselt hat, doch bemerkenswert.
Als drittes müssen wir festhalten, dass nach dem Aufruf „Tritt ein, sag nein!“ über 25 000 Neumitglieder in die Partei eingetreten, in der Hoffnung die GroKo zu verhindern und die Partei zu „erneuern“, also glaubwürdiger, sprich linker, zu machen.
Die SPD als Partei ist also keineswegs in der gesamten Arbeiterklasse verhasst. Die oben genannten Phänomene zeigen, dass die SPD für große Teile der Arbeiterklasse immer noch ein wichtiger Bezugspunkt ist und keinesfalls ignoriert wird. Wer angesichts dieser Tatsachen die SPD als rein bürgerliche Partei verschreit, hat die wichtigsten Lehren aus der Corbyn-Bewegung nicht verstanden.
Die britische Labour Party war vor der Wahl Jeremy Corbyns zum Parteichef mindestens genau so rechts, wie die SPD es heute ist. Sämtliche ultra-linken Sekten erklärten die Labour Party zur „bürgerlichen Partei“ die auf immer und ewig rechts bleiben werde und „broken beyond any repair“, also unwiderruflich kaputt, sei. Eine Linkswende der Partei und das Entstehen einer proletarischen Massenbewegung um und in der Labour Party erschien ihnen als eine Unmöglichkeit.
Unsere Tendenz gab, trotz unabhängiger Arbeit an Universitäten, die Orientierung auf die Labour Party nicht auf. Uns war bewusst, dass durch die kapitalistische Krise eine Radikalisierung der Arbeiterklasse stattfinden würde, die sich auch in den Gewerkschaften und damit der Labour Party widerspiegeln wird. Jetzt stehen all diese ultra-linken Sekten erstaunt am Rande des Geschehens.
Auch die soziale Zusammensetzung der Mitgliedschaft beider Parteien weist keinen qualitativen Unterschied auf: Während es bei der SPD 16% Arbeiter, 30% Angestellte, 42% Beamte und 12% Selbstständige gibt, gibt es bei der LINKEN 19% Arbeiter (nur 3% mehr), 32% Angestellte, 34% Beamte und mit 16% sogar mehr Selbstständige als in der SPD. Im Gegensatz zu den beiden Arbeiterparteien SPD und LINKE stellen in den bürgerlichen Parteien (CDU 34%, CSU 35%, FDP 41%) die Selbstständigen die größte parteiinterne Gruppe da. Auch die Verbindung zu den Gewerkschaften ist in der SPD höher als in der LINKEN: Während nur 32% der LINKEN-Mitglieder Gewerkschafter sind, sind es bei der SPD immerhin 42%.(14)
Allerdings sind diese Prozentwerte reine Momentaufnahmen. Wie die SPD-Mitgliederabstimmung über den Koalitionsvertrag gezeigt hat, haben die in der SPD organisierten Lohnabhängigen eine tiefe Loyalität gegenüber jeder Parteiführung entwickelt und sind längst nicht der dynamischste Teil der Klasse. Die Zeiten, in denen die Arbeiterklasse traditionelle Loyalität und berechenbares Wahlverhalten an den Tag legte, sind längst vergangen.
Für die These, die Linke sei eine Arbeiterpartei, während die SPD eine rein bürgerliche Kriegspartei sei, gibt es also offensichtlich keine objektive, materielle Grundlage. Das heißt nicht, dass sich das in Zukunft nicht rasch ändern könnte. Es ist möglich, dass die SPD in den kommenden Jahren das Schicksal ihrer (ehemaligen) Schwesterparteien in Frankreich, Griechenland und den Niederlanden erleidet und weitgehend bedeutungslos wird. Spätestens dann macht die Diskussion über den Charakter dieser Partei keinen Sinn mehr. Einen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit können allerdings auch linke und ex-kommunistische Massenparteien erfahren, wie das Beispiel Italien zeigt.
Nach der Niederlage der NoGroKo-Bewegung im Frühjahr 2018 hat eine neue Austrittswelle von vielfach langjährigen SPD-Mitgliedern eingesetzt. Ein gut organisierter und schlagkräftiger Gegenpol zum tonangebenden Parteiapparat, ein neues Aufbäumen der innerparteilichen Opposition ist kurzfristig nicht in Sicht.
Während die Führungen beider Parteien sich auf ihre Weise dem Druck der herrschenden Klasse beugen und zu ihren Agenten in der Arbeiterbewegung werden, versuchen viele Basismitglieder beider Parteien für die Interessen der abhängig Beschäftigten einzutreten. Dabei unterliegen sie beide mehr oder minder kleinbürgerlichen und reformistischen Illusionen und der Sabotage ihrer verbürgerlichten Führung.
Hinzu kommt, dass die SPD-Basis, die sich sowieso hauptsächlich aus der Arbeiteraristokratie und kleinbürgerlichen Emporkömmlingen rekrutiert und allein deswegen anfälliger für kleinbürgerliche Illusionen ist, dem Einfluss ihrer kapitalistischen Führung ausgesetzt ist, getrennt von den ehemals Partei-Linken und den schlechter Verdienenden, die sich hauptsächlich in der Partei DIE LINKE organisieren.
Während die SPD-Führung meist gegen Bündnisse mit der LINKEN wettert, liebäugeln mehr und mehr SPD-Basismitglieder mit einer Zusammenarbeit mit der LINKEN. Und tatsächlich braucht es eine Bewegung aller, die ehrlich für die Interessen und Forderungen der Arbeiterklasse kämpfen wollen, egal ob Mitglied bei SPD oder LINKEN. Allerdings nicht als Regierungsbündnis im Interesse der Karrieristen in den Parteiführungen von oben, sondern als geeinte Bewegung der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines, konsequenten, sozialistischen Programms.
Trotzki brachte es 1940 in dem Artikel „Klasse, Partei und Führung“ treffend auf den Punkt:
„[…] Das Proletariat kann für lange Zeit eine Führung ‚dulden‘, die schon eine vollständige innere Degeneration durchgemacht hat, die jedoch noch nicht die Gelegenheit hatte, dies angesichts großer Ereignisse zu zeigen.
Ein großer historischer Schock ist notwendig, um in aller Schärfe die Widersprüche zwischen der Führung und der Klasse zu enthüllen. Die mächtigsten historischen Schocks sind Kriege und Revolutionen. Genau aus diesem Grunde wird die Arbeiterklasse oft unversehens von Krieg und Revolutionen überrascht. Aber sogar dann, wenn die alte Führung ihre innere Korruption offenbart hat, kann die Klasse sich nicht aus dem Stegreif eine neue Führung schaffen, zumal wenn sie nicht aus der vorangegangenen Periode starke revolutionäre Kader ererbt hat, die fähig sind, sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen. […]“
Gewerkschaften und Klassenkampf
Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wirkt Deutschland für oberflächliche Beobachter nach wie vor als ein streikarmes Land und Hort der Stabilität und Klassenharmonie. Dabei standen auch in den letzten Jahren wichtige Streikbewegungen auf der Tagesordnung – so etwa die wochenlangen Arbeitskämpfe 2015 bei der Deutschen Post und in den Sozial- und Erziehungsdiensten, die anhaltende Streikbewegung bei Amazon und Anfang 2018 die größte Streikbewegung in der Metall- und Elektroindustrie (M+E) seit Jahrzehnten.
Der mittlerweile fünf Jahre andauernde Arbeitskampf bei Amazon um die Anerkennung des Tarifvertrags für den Einzel- und Versandhandel ist symptomatisch für den Aufbruch einer neuen Schicht von Beschäftigten im Dienstleistungsbereich. Anders als in Großkonzernen, wo die Gewerkschaften und Betriebsräte als „Sozialpartner“ anerkannt sind und die Tarifbindung bislang für die Kernbelegschaften unangerührt ist, sind in solchen Konzernen und Branchen die Gewerkschaftsapparate hier zu einem langfristigen Kampf gezwungen, um sich und ihre gesellschaftliche Position zu behaupten. Neue, bisher unorganisierte und unerfahrene Schichten der Klasse werden sich bewegen, organisieren und dabei aus ihrer Erfahrung heraus rasch politische Schlussfolgerungen ziehen. Wenn Gewerkschaftsapparate solche Kämpfe abzubremsen versuchen, wird es zu größeren internen Auseinandersetzungen kommen.
Allerdings ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad seit Jahren ebenso rückläufig wie die Tarifbindung. Heute repräsentiert der DGB mit seinen acht Einzelgewerkschaften noch rund sechs Millionen Mitglieder. Doch trotz eines starken Mitgliederrückgangs seit den 1990er Jahren und großer struktureller Probleme, die Ausdruck politischer Probleme sind, stellen die DGB-Gewerkschaften als Klassenorganisationen immer noch eine starke Macht dar und bleiben fester Bezugspunkt für den Klassenkampf. In Deutschland führt auch aufgrund der Geschichte der Arbeiterbewegung kein Weg an den DGB-Gewerkschaften vorbei. Sie sind nach wie vor (potenziell) in der Lage, dem Land ihren Stempel aufzudrücken. An den offiziellen Streiks der vergangenen Jahre beteiligten sich auch viele Unorganisierte.
Deutsche Gewerkschaftsapparate haben die Tradition des Co-Managements besonders stark verinnerlicht. Nach zwei Weltkriegen und revolutionären Krisen wurde als Zugeständnis und zur Ablenkung von weit verbreiteten Forderungen nach Sozialisierung das legendäre deutsche Modell der "Mitbestimmung" geprägt - über die Institution von Betriebs- und Personalräten und die Einbeziehung von Belegschafts- und Gewerkschaftsvertretern in Aufsichtsräte und Verwaltungsräte. Daneben sitzen Gewerkschaftsvertreter in zahlreichen Gremien und Beiräten auf allen Ebenen - etwa bei der Agentur für Arbeit, Rundfunksendern, Krankenkassen und Selbsthilfeeinrichtungen. Die Einbindung trägt zu einer Dämpfung von Klassenkämpfen bei, fördert Bestechlichkeit und Erpressbarkeit und die Identifikation mit dem Interesse und der Sichtweise der herrschenden Klasse und ihres Staates.
So bleibt bei Streikbewegungen, die rasch Wirkung zeigen können, in aller Regel "die Faust in der Tasche". In der zurückliegenden M+E-Tarifrunde war der Druck der Basis und die Streikbereitschaft so groß, dass es nicht bei folgenlosen Warnstreiks blieb, sondern mit 24-stündigen Warnstreiks die "Warnstufe gelb" ausgerufen wurde. Eine weitere Eskalation hätte angesichts von Just-in-time-Produktion, engen Lieferketten und Exportabhängigkeit dem Kapital empfindlich wehgetan und genug Druck aufgebaut, um viel größere Zugeständnisse zu erringen. Doch genau das wollte der IG Metall-Apparat nicht. Statt Vollstreik und Solidarität über Branchen hinweg konzentrieren sich die Apparate auf die Taktik der "Nadelstiche".
Kanzlerin Merkel, Andrea Nahles und die Mehrheit der deutschen Kapitalistenklasse haben bislang auf direkte gesetzliche Angriffe gegen Gewerkschaften, Betriebsräte, Mitbestimmungsgesetze oder Tarifvertragsgesetze verzichtet. Sie umgarnen die Gewerkschaftsapparate und stützen sich auf ihre Loyalität und Kooperation. Sie werde "alles dafür tun, die Tarifbindung in Deutschland wieder zu steigern und nicht noch weiter einzuschränken", versprach Merkel beim Gewerkschaftstag der IG BCE im Oktober 2017. Dahinter steckt Kalkül: Die Gewerkschaften und Betriebsräte nicht frontal mit Gesetzesänderungen angreifen und zum massiven Widerstand provozieren, sondern sie bei anstehenden Verschlechterungen "konstruktiv" mit ins Boot ziehen. Statt Aufkündigung des legendären deutschen Mitbestimmungsmodells und Kriegserklärung an Betriebsräte und Gewerkschaften wird deren Einfluss ohnehin mit wohlwollender Begleitung durch den Staat eher indirekt beschnitten - etwa durch prekarisierte Arbeitsmärkte mit Leiharbeitern, Subunternehmen und Werkvertragsarbeitern, durch Privatisierungen und die Zerschlagung von Betrieben und Konzernen mit der Folge einer weiteren Spaltung von Belegschaften.
Anstatt die Weltkrise des Kapitalismus zu analysieren, sich dem tatsächlichen Interessengegensatz zwischen den Klassen zu stellen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, herrscht in vielen Köpfen in den Gewerkschaftszentralen noch der Traum von der Rückkehr in die vermeintlich "goldenen" 60er und 70er Jahre vor, als vor dem Hintergrund von relativer "Vollbeschäftigung" ein steigender Lebensstandard, Zugeständnisse der herrschenden Klasse und spürbare Sozialreformen den Alltag prägten.
So gehörten die staatstragenden Gewerkschaftsspitzen Anfang 2018 zu den glühendsten Verfechtern der neuen Großen Koalition. Dies ist nicht verwunderlich. Als bei den Sondierungen zwischen Union, FDP und Grünen die Liberalen mit arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindlichen Parolen Aufmerksamkeit suchten, muss dies für die auf Konsens und Abmilderung von Klassenkonflikten orientierten Gewerkschaftsbosse wie ein Schock gewirkt haben. Ein sichtbar starker Einfluss der FDP am Kabinettstisch hätte die Gewerkschaftsapparate zur Organisierung von Gegenwehr gezwungen. Die letzten großen und übergreifenden bundesweiten Mobilisierungen, mit denen die Gewerkschaftsapparate Druck auf die Regierungspolitik auszuüben versuchten, liegen lange zurück.
Vielen DGB-Spitzenfunktionären dürfte ein Stein vom Herzen gefallen sein, als die FDP die Sondierungen verließ und eine SPD-Regierungsbeteiligung wieder in den Bereich des Möglichen rückte. Denn für die Gewerkschaftsapparate war und ist es durchaus angenehm, einen direkten Draht zu SPD-Parteifreunden in den Ministerien zu haben und wenigstens das eine oder andere Ding unterhalb der gesetzgeberischen Ebene auf dem kurzen Dienstweg zu klären.
Doch allzu idyllisch waren GroKo-Zeiten und SPD-Regierungsbeteiligungen aus Gewerkschaftssicht auch nicht. So wurden seit 2013 zumindest von Teilen des DGB (insbesondere ver.di) kritisierte Projekte wie das Tarifeinheitsgesetz, das Freihandelsabkommen CETA, Ausländermaut und der Einstieg in die Autobahnprivatisierung durchgeboxt. Es blieb bei der privaten Riester-Rente, der Agenda 2010, den Hartz-Reformen und einer Legalisierung von Leiharbeit - also bei klassischen FDP-Projekten, die vom rot-grünen Kabinett ab 1998 auch ohne FDP auf den Weg gebracht wurden. Unvergessen bleibt auch die vom SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering im Kabinett Merkel I (2005-2009) durchgesetzte Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre.
Die größten Sozialabbaumaßnahmen der letzten zwei Jahrzehnte tragen die Namen von SPD-Mitgliedern, die über Gewerkschaftsapparate und Co-Management steile Karrieren hinlegten: Riester und Hartz. Beides waren Kernstücke der "Reformen" unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder (1998-2005) und beide Projekte haben Armut per Gesetz massiv gefördert. Bei all diesen Programmen, sogenannten "Arbeitsmarktreformen" und den großen Privatisierungsprojekten der letzten Jahrzehnte haben die Gewerkschaftsapparate in aller Regel nicht auf Widerstand und Verhinderung, sondern auf "konstruktive Mitgestaltung" gesetzt. Dabei hätten die Gewerkschaften im Interesse aller abhängig Beschäftigten genug Grund, um mit aller Kraft gegen Hartz IV und die massive Prekarisierung der Arbeitswelt vorzugehen, weil diese Politik auch die Mitgliederbasis und Schlagkraft der Gewerkschaften massiv geschwächt hat und auf Stammbelegschaften disziplinierend wirken kann.
Der Druck des Kapitals lastet nicht nur auf den obersten Schichten des Gewerkschaftsapparats, sondern auch auf der unteren, betrieblichen Ebene. So sind Betriebsräte tagtäglich dem Druck von Management und Kapitalisten ausgesetzt. Es gehört auch zum Alltag, dass manchmal hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre mit ihren Impulsen für Arbeitskämpfe bei Betriebsräten auf Granit beißen.
Viele Unternehmer, vor allem auch kleinere und mittlere Kapitalisten, hassen die aus ihrer Sicht "linken" Gewerkschaften und setzen alles daran, um Betriebsratsgründungen von vornherein zu verhindern und aufrechte, konsequente Interessenvertreter mit Zuckerbrot und Peitsche loszuwerden.
Auffällig ist auch die EU-Hörigkeit deutscher Gewerkschaftsapparate, die auch auf internationaler Ebene in gewerkschaftlichen Dachverbänden eine führende Rolle spielen und in ihrer Rolle als Partner im Sozialdialog eher einem zahnlosen Tiger und einflusslosen Politikberater der von Kapitalinteressen gelenkten neoliberalen EU-Kommission gleichen.
Die gewerkschaftliche Politik des Co-Management, der Hinnahme von "Sachzwängen" und der "konstruktiven Mitgestaltung" bei Verschlechterungen hat in einigen Bereichen einen neuen Spielraum geschaffen für die Herausbildung und Stärkung von Berufs- und Spartengewerkschaften zu Lasten der DGB-Gewerkschaften. So gibt es etwa im Bereich der Luftfahrt neben ver.di ein buntscheckiges Nebeneinander von Organisationen, die sich auf einzelne Berufsgruppen spezialisiert haben.
Die Lokführergewerkschaft GDL ist auch nicht mehr, was sie nie war. Sie profitierte jahrelang vom Versagen der DGB-Konkurrenzgewerkschaft und galt für viele Linke als Inbegriff einer klassenkämpferischen Organisation. Inzwischen ist sie jedoch auch ganz offiziell auf dem Boden des Co-Management und der "Sozialpartnerschaft" wiederholt angekommen. "Wir bewegen uns verantwortungsbewusst in der Tarifpartnerschaft und gemeinsam mit den Arbeitgebern«, so GDL-Chef Weselsky (CDU) bei der GDL-Generalversammlung 2017. "Wir wollen Sozialpartnerschaft so leben, dass beide Seiten partizipieren. Ein Geschäft, das keinen Gewinn bringt, ist kein Geschäft", so seine Überzeugung. Die Konferenz endete mit dem Absingen der Nationalhymne.
Diese Erfahrung zeigt, dass auch sich noch so rabiat und kämpferisch gebärdende Berufsgewerkschaften letztlich von den Interessen und dem Prestigedenken ihrer Bürokratie geleitet werden. So wurden bei der GDL-Generalversammlung 2017 mehrere Anträge zur Sozialpolitik verworfen, so etwa Forderungen nach Anhebung steuerrechtlicher Pauschbeträge bei Schwerbehinderung und nach Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf sieben Prozent. "Der Antrag bezieht sich auf eine gesamtgesellschaftliche Forderung und betrifft nicht explizit die berufsgewerkschaftlichen Ziele der GDL", so die Begründung der Antragskommission für die Ablehnung und somit für einen Verzicht auf politische Einmischung.
Berufsständische Organisationen sind zudem oftmals geprägt von einem engen politischen Horizont und geben sich in allgemeinpolitischen Fragen vielfach deutlich konservativer und reaktionärer als reformistische, sozialdemokratisch geprägte DGB-Gewerkschaften. Dies gilt auch für den Beamtenbund (dbb), der in den letzten Jahren seine Position ausbauen konnte und in bestimmten Berufsgruppen des Öffentlichen Dienstes (Gefängniswärter, Finanzbeamte, Gymnasiallehrer, obere Bundesbehörden) relativ stark verankert ist.
Klassenkampf, Schulterschluss von Beschäftigten über alle Branchen hinweg und revolutionäre sozialistische Bildungsarbeit sind die beste Waffe im Kampf gegen rechte Demagogen. Wo allerdings die Politik des "Co-Management" beim Aushandeln von Verschlechterungen greift und die gewerkschaftliche Bildungsarbeit versagt, können zunehmend auch von der extremen Rechten inspirierte und mit üppigen Finanzen ausgestattete gelbe, völkische Organisationen wie das sogenannte „Zentrum Automobil“ Fuß fassen und Betriebsratsmandate erringen. Dies zeigen auch erste Meldungen über die Betriebsratswahlen 2018. Die Wahlerfolge der AfD ermutigen sie dabei. Politisch weniger geschulte Beschäftigte und für rechte Ideen empfänglich sind, können ihren demagogischen Parolen "gegen Co-Management, Begünstigung und Korruption, Lohnverzicht als Erpressungsmittel, Arbeitsexport, faule Kompromisse und Intransparenz" auf den Leim gehen.
Diese Variante gelber Gewerkschaften ist durchaus ernst zu nehmen und ihre Erscheinung ein Ausdruck des Versagens der reformistischen DGB-Führung. Nicht zuletzt auch wegen ihrer finanziellen Abhängigkeiten von ihren Geldgebern und aufgrund des bürgerlichen, reaktionären und rassistischen Charakters ihrer Führung werden sie jedoch früher oder später in der betrieblichen Praxis versagen. Das „Zentrum Automobil“ möchte nach eigenen Angaben dem Beispiel GDL folgen und eine "Spartengewerkschaft für die Autobranche" bilden. Die o.g. Entwicklung und Anpassung der GDL-Führung zeigt, wie solche Demagogen letztlich enden werden.
DGB-Gewerkschaften und SPD waren jahrzehntelang in einer engen Symbiose verbunden. Das SPD-Parteibuch gehörte "zum guten Ton" und war für den Aufstieg in höhere Ebenen unabdingbar. Schon nach der Novemberrevolution vor 100 Jahren hat die ADGB-Bürokratie dazu beigetragen, die Sozialdemokratie wieder aufzurichten. Mit der Herausbildung der Partei DIE LINKE als linke Variante einer Sozialdemokratie ist die Monopolstellung der SPD im Gewerkschaftsapparat nicht mehr gegeben. Die noch vorhandene Bindekraft der SPD im Gewerkschaftsapparat wird mit ihrem absehbaren Niedergang weiter abnehmen.
Mit der kapitalistischen Krise bröckelt auch das Fundament und die Stabilität des Reformismus in den Gewerkschaften. Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern zeigen, dass eine tiefe Wirtschaftskrise allerdings nicht automatisch und unmittelbar sofort zu einer Radikalisierung der Gewerkschaftsapparate führt, deren oberste Schichten ohne massiven Druck von unten viel blocken und bremsen werden. Es wird aber zunehmend auch ein Nährboden für radikalere reformistische und kapitalismuskritische Oppositionsströmungen entstehen. So erhob als Reaktion auf den Schmusekurs der DGB-Spitzen gegenüber der SPD und der Großen Koalition Anfang 2018 der linke Flügel im Gewerkschaftsapparat wieder sein Haupt und "outete" sich mit dem Appell "Sozial statt GroKo-Politik". Dies ist ein allererster Hinweis auf künftige interne Konflikte innerhalb der Apparate.
Entscheidende Veränderungen erfordern einen grundlegenden Stimmungswandel in der Arbeiterklasse und Gesellschaft und massiven Druck von unten. Dies wird früher oder später eintreten. Hinderlich bei diesem Prozess sind jedoch die Akzeptanz von "Sachzwängen", reformistische Halbheiten und mangelnde revolutionäre und internationalistische Perspektiven. So können Tendenzen zu einem internationalen Handelskrieg dazu führen, dass sich Branchengewerkschaften mit der Forderung nach protektionistischen Maßnahmen vor den Karren einzelner Kapitalgruppen spannen lassen und für diese Lobbyarbeit betreiben. In der europäischen Stahlbranche ist dies bereits geschehen.
Aber mit einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse wird auch der Druck von unten auf die Gewerkschaftsapparate größer. Oftmals müssen sie zur Jagd getragen werden. Aussagekräftig sind aktuelle internationale Erfahrungen – so etwa das unerwartet starke Echo auf den Aufruf zum Frauenstreik im März 2018 und die Rentnerdemos gegen Altersarmut in Spanien. In Dänemark ist eine harte Konfrontation in der Tarifrunde für den Öffentlichen Dienst vorprogrammiert, wie es sie seit vielen Jahren nicht gegeben hat. Deutschland kann sich diesem internationalen Prozess nicht entziehen. In allen Branchen – Industrie, Verkehr, Dienstleistungen, Pflege, Verwaltung oder anderswo – hat sich viel Unmut angestaut, der sich in künftigen Bewegungen entladen wird. Viele bisher passive Schichten werden die Notwendigkeit eines aktiven Kampfes und der gewerkschaftlichen Organisation erkennen und sich organisieren.
Die Gewerkschaftsapparate, die ohne die zumindest passive Unterstützung ihrer proletarischen Massenbasis in der Luft hängen würden, müssen unter solchen Umständen auch Kämpfe führen – um sie gleich darauf wieder zu bändigen. Vergessen wir nicht, dass der alte ADGB-Vorsitzende und erklärte Massenstreikgegner Karl Legien 1920 sich an die Spitze des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch stellte und sogar der USPD die Bildung einer Arbeiterregierung anbot. Umso wichtiger ist die Präsenz der marxistischen Strömung als klare Alternative in den Gewerkschaftsstrukturen.
Trotzki sprach Ende der 1930er Jahre in einer Schrift über die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niedergangs von einer grundlegenden Tendenz: "Es gibt in der Entwicklung, oder besser, in der Degeneration der gegenwärtigen Gewerkschaftsorganisationen der ganzen Welt einen allen gemeinsamen Zug: die Annäherung an die Staatsgewalt und das Verschmelzen mit ihr. Dieser Prozeß charakterisiert die unpolitischen Gewerkschaften in gleicher Weise wie die sozialdemokratischen, kommunistischen und „anarchistischen“. Trotzkis Hauptlosung: "Vollständige und bedingungslose Unabhängigkeit der Gewerkschaften vom kapitalistischen Staat. Dies bedeutet einen Kampf für die Umwandlung der Gewerkschaften von einem Organ der Arbeiteraristokratie in ein Organ der breiten, ausgebeuteten Massen."
Der Niedergang des Reformismus
Wir befinden uns im zehnten Jahr der schwersten organischen Krise des Kapitalismus. Die Bürgerlichen versuchten der Krise mit brutaler Sparpolitik und so genannten „Strukturreformen“ auf Kosten der Arbeiterklasse Herr zu werden, also das genaue Gegenteil sozialer Reformen. Die krassesten Beispiele dafür sind die südeuropäischen Länder, etwa Griechenland oder Spanien, aber auch in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Deutschland wird eine mehr oder minder harte Kürzungspolitik umgesetzt. Lieblingsprojekt der deutschen Bourgeoisie in dieser Hinsicht war unter anderem die „schwarze Null“ im Bundeshaushalt.
Wenn Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land der EU von der Krise nicht so hart getroffen wurde wie andere Länder der EU und in der Folge auch keine so harte Austeritätspolitik nach 2008 mehr fahren musste, dann nur deshalb, weil Deutschland diese Strukturreformen mit der Agenda 2010 schon vorgezogen hat. Dadurch hat es sich einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil vor den anderen europäischen Ländern gesichert. Diese müssen ähnliche Strukturreformen jetzt nachholen (z.B. Österreich oder Frankreich). Das heißt nicht, dass es in Deutschland jetzt Spielraum für soziale Reformen gäbe, im Gegenteil! Dadurch, dass die anderen europäischen Länder jetzt in Puncto Strukturreformen nachziehen, würden soziale Reformen einen Rückschritt und einen Wettbewerbsnachteil für Deutschland bedeuten.
Auch der gegenwärtige wirtschaftliche Aufschwung bietet keinen bedeutenden Spielraum für soziale Reformen. Wie wir bereits oben gesehen haben, ist der Aufschwung schwach und unvollständig, weswegen die Ökonomen des IWF und der Sachverständigenrat Wirtschaft der Bundesregierung (die „Wirtschaftsweisen“) den Politikern raten, den jetzigen Aufschwung für „unpopuläre“ und „ambitionierte Strukturreformen“ zu nutzen um sich auf den nächsten Absturz vorzubereiten. In der euphemistischen Sprache der bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftler wird das dann wie folgt formuliert: „Die gute konjunkturelle Lage bietet beste Chancen für eine Neujustierung der Wirtschaftspolitik, um Deutschland auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten“ (Christoph M. Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrates) Der deutliche Haushaltsüberschuss eröffne Spielräume für „wachstumsfreundliche Reformen“. Konkret heißt das vor allem Steuersenkungen zu Gunsten von Unternehmern und besser Verdienenden – wieder das Gegenteil sozialer Reformen.
Niemand formulierte das in letzter Zeit ehrlicher als Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Im Spiegel rechnet Scholz vor, dass der neuen Bundesregierung insgesamt 1,4 Billionen Euro zur Verfügung stünden. Das sei der Rahmen, aus dem alle Ausgaben finanziert werden müssten. "Ansonsten sind wir auf zusätzliches Wachstum und daraus entspringende Steuermehreinnahmen angewiesen", sagte Scholz. "Bei allen zusätzlichen Wünschen müssen wir genau schauen, was wir uns leisten können und was nicht." Im Klartext ist das eine Absage an größere soziale Reformen. Es ist auch kein Zufall, dass Scholz jeglichem Versuch einer Aufweichung von Hartz IV eine Absage erteilt hat.
Betrachten wir die Gesamtsituation in Deutschland, fallen uns zwei Tatsachen auf: 1. Die soziale Ungerechtigkeit wächst, untere und mittlere Einkommen stagnieren, es gibt ein zunehmendes Problem mit Altersarmut, der Lebensstandard der meisten Menschen wird immer unsicherer – kurz, es muss sich etwas ändern. 2. Die gesamte wirtschaftliche Lage, bedingt durch die tiefe organische Krise des Kapitalismus, lässt keinen bedeutenden Spielraum für soziale Reformen.
Trotzdem versuchen die Reformisten der SPD und der LINKEN in diesen Zeiten durch soziale Reformen im Rahmen der vorherrschenden kapitalistischen Eigentumsverhältnisse den Lebensstandard der Arbeiterklasse zu heben. Die selbe Politik verfolgt der DGB. Es genügt die oben geschilderte Einsicht um zu verstehen, dass sie damit scheitern müssen.
Die reformistischen Parteien können aus den o. g. Gründen der Arbeiterklasse also nicht mehr bescheren, was sie haben will. Sie werden aus Sicht der Arbeiterklasse nutzlos (und das völlig zu recht!), weil sie ihre Funktion, den Lebensstandard der Arbeiterklasse zu heben nicht mehr erfüllen können. „Wieso noch SPD wählen, wenn man eh weiß, dass die ihre Wahlversprechen nicht halten?“
Die Folge ist der Niedergang der sozialdemokratischen Parteien, den wir zur Zeit Europaweit beobachten können. Angefangen mit Pasok in Griechenland, über die PS in Frankreich oder PvdA in den Niederlanden, die alle bei den letzten Wahlen im einstelligen Prozentbereich gelandet sind. Die PSOE in Spanien erhielt 20%. Das ist zwar nicht so katastrophal wie in anderen Ländern, im Vergleich zu ihrer vorherigen Größe und Bedeutung aber dennoch ein herber Schlag. Diese Entwicklung ist aber nicht nur auf die alten Sozialdemokratien beschränkt. Auch neue Linksparteien, die sich auf Grund ihrer reformistischen Beschränkungen den kapitalistischen Sachzwängen gebeugt haben, erleben einen Niedergang in die Bedeutungslosigkeit, z.B. SYRIZA.
Die einzige Ausnahme bildet die britische Labour Party, die unter Jeremy Corbyn einen radikalen Linksschwenk vollzog. In der Folge entstand eine breite linke Massenbewegung in und um die Labour Party und ihren neuen Vorsitzenden. Bei der letzten Parlamentswahl gewann Labour binnen weniger Wochen 20% dazu auf der Grundlage eines radikalen linken Programms. Selbstverständlich ist auch das Labour-Programm unter Corbyn ein reformistisches in seinem Charakter, weil es versucht seine sozialen Forderungen durch Parlament und Regierung durchzusetzen und nicht konsequent mit dem Privateigentum bricht. Jedoch werden hier soziale Forderungen aufgestellt, ohne sich groß um die Befindlichkeiten der herrschenden Klasse zu kümmern. Außerdem hat die Corbyn-Bewegung eine Dynamik ausgelöst, die schon längst über das Programm und die Person Corbyn hinaus Relevanz hat.
Die SPD ist ebenfalls vor diese Wahl gestellt: Radikaler Linksschwenk (Labour) oder Untergang in der Bedeutungslosigkeit (Pasok, PS, PvdA). Die Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten und der Abgang Sigmar Gabriels als Parteichef weckten in vielen SPD-Anhängern und Unterstützern die Hoffnung auf eine authentischere, linkere Politik. Der Schulz-Hype, bei dem die SPD binnen kurzer Zeit in den Umfragen auf 30% stieg, hat gezeigt, dass sich viele Wähler auch in Deutschland eine Linkswende wünschen und in dieser Hinsicht Potential besteht.
Schnell wurde jedoch klar, dass Schulz weder links noch glaubwürdig ist. Seiner Rhetorik in Sachen sozialer Gerechtigkeit folgten keine ernsthaften, konkreten, linken Forderungen. Das ist wenig verwunderlich, schließlich saß Schulz lange Jahre im Parteivorstand und trug die gesamte vorherige Politik der SPD mit, von der Agenda 2010 bis zur fatalen Bankenrettung. Die Quittung dafür erhielt die SPD bei der letzten Bundestagswahl, wo sie mit knapp 20% eine historische Niederlage erlitt. Anfang 2017 trat Schulz als vermeintlich glaubwürdiger und „linker“ Hoffnungsträger an, schnell wurde klar, dass sein Gerede von sozialer Gerechtigkeit eben nichts als Gerede ist und er nicht den erhofften Wandel bringt. Das war die erste Enttäuschung, die Schulz seinen Wählern und Unterstützern bescherte.
Die zweite folgte nach der Wahl: Anstatt wie nach der Wahl angekündigt in die Opposition zu gehen und „der Union auf die Fresse zu geben“ (Nahles), folgte die SPD nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen dem Ruf der staatstragenden Verantwortung und machte den Weg für eine Große Koalition frei. Und nicht nur das: Hinzu kommt, dass Sondierungsergebnis und Koalitionsvertrag jeglicher bedeutenden sozialen Reform entbehren. Vollends verlor Schulz seine Glaubwürdigkeit, als er, entgegen seiner vorherigen Ankündigung kein Minister unter Merkel zu werden, nach den Koalitionsverhandlungen Außenminister werden sollte. Auch wenn er mittlerweile auf das Amt verzichtete, gab das seiner persönlichen Glaubwürdigkeit den letzten Todesstoß. Die Entzauberung von Martin Schulz hat der Glaubwürdigkeit der SPD schweren Schaden zugefügt und gleichzeitig innerparteiliche Dynamiken in Gang gesetzt, die durchaus bemerkenswert sind.
Die SPD ist in einem Dilemma: Sie kann für die Arbeiterklasse keine sozialen Reformen erkämpfen, sie wird daher nutzlos und verliert massiv an Unterstützung. In der Folge wird sie auch als staatstragende Partei für die herrschende Klasse irrelevant. Der Wert der SPD bestand aus Sicht der herrschenden Klasse darin, dass sie durch reformistische Politik die Arbeiterklasse in das System mit eingebunden hat. Wenn aber immer weniger Lohnabhängige der SPD vertrauen, kann sie diesen Zweck nicht mehr erfüllen.
Der Versuch der SPD, ein bisschen linker zu reden, aber weiter bürgerliche Politik zu machen, ist mit dem Versuch Schulz gescheitert. Bleibt die SPD auf ihrem Kurs, wird sie weiter absinken und damit auch ihre staatstragende Relevanz verlieren.
Dass die LINKE vom fortschreitenden Niedergang der SPD nicht viel stärker profitieren kann, liegt daran, dass sie sich nicht qualitativ von der SPD unterscheidet: Wie die SPD ist sie eine reformistische Partei, die mehrheitlich versucht durch Regierungsbeteiligungen soziale Reformen zu erreichen. Da wo sie regiert (vornehmlich in Ostdeutschland) ist sie in ihrer Regierungspraxis kaum von der SPD zu unterscheiden. Der rechte Flügel innerhalb der LINKEN, der die Mehrheit stellt, versucht sich mehr und mehr den etablierten Parteien anzubiedern um „ernst genommen zu werden“. Der Sozialismus sei eine „Fantasie“, man konzentriert sich lieber auf „Verbesserungen im hier und jetzt“. Wenn es aber zwei reformistische Parteien gibt, die sich qualitativ nicht unterscheiden, wendet sich die Mehrheit der Wähler der größeren zu.
Zwar gibt es in der Linken einen revolutionären Flügel, allerdings ist dieser in der Minderheit und nicht gut organisiert. Er bestimmt nicht das Bild der Partei nach außen.
Die Rolle der AfD
Viele Menschen betrachten starke Ergebnis der AfD bei der Bundestagswahl 2017 als sehr bedrohend. Der rasante Aufstieg einer Partei, welche größtenteils offen rassistischen ist und teilweise klar antisemitische Mitglieder in Parlamenten und Führungsebenen hat ist für die bürgerliche Gesellschaft in Deutschland in dieser Dimension ein Novum. Der Protest gegen diese Partei ist eine wichtige Aufgabe und muss vor allem gemeinsam mit den Klassenorganisationen unterstützt werden. Doch kann man die AfD nicht „kaputt-protestieren“, es muss erkannt werden, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielt, um sie zu besiegen.
CDU, FDP und AfD sind letztlich nur drei Spielarten ein und der selben Sache. Alle drei sind bürgerliche Parteien, die unterschiedliche Flügel der herrschenden Klasse vertreten. Ähnlich wie Trump und Le Pen, vertritt die AfD eher das Kleinbürgertum, welches mit ihren verhältnismäßig kleinen Unternehmen der Globalisierung kaum stand halten kann. Sie sind beunruhigt durch das aktuelle Weltgeschehen und setzen auf protektionistische Außenpolitik, da ihre kleinen Unternehmen dem ausländischen Konkurrenzdruck nicht standhalten können. Sie wünschen sich eine Ruhe und Ordnung, gewisser maßen eine alte, bessere Welt zurück, die es so nie gab.
Währenddessen repräsentieren CDU und FDP, ähnlich wie Clinton und Macron, eher das Großkapital: Große Banken und weltweit agierende Konzerne. Sie haben ein großes Interesse an freiem Handel, um Kapital und Waren besser exportieren zu können, genau so wie an einer offeneren Einwanderungspolitik. Für sie sind Flüchtlinge bzw. Einwanderer generell keine Konkurrenz, sondern billige Arbeitskraft und Mittel zur Lohndrückerei.
In der jetzigen Situation gibt es also nicht nur einen Widerspruch zwischen den Interessen von Proletariat und Bourgeoisie, sondern auch zwischen Klein- und Großbürgertum. Während die meisten Lohnabhängigen bei großen Konzernen angestellt sind und dadurch für den Moment noch einen gesicherten Lebensstandard haben oder sich zumindest noch in relativer Sicherheit wähnen, spürt das Kleinbürgertum am frühesten und stärksten die Auswirkungen der kapitalistischen Krise und sucht Zuflucht in den Versprechungen von Ruhe und Ordnung und der Rückkehr in die guten alten Zeiten, als noch kein Weltmarkt das eigene Unternehmen bedrohte.
Dabei reißt das Kleinbürgertum aber auch einen Teil der unzufriedenen und prekarisierten Arbeiterklasse mit. Nach dem Kleinbürgertum, besteht die zweitgrößte Gruppe der AfD UnterstützerInnen aus prekär Beschäftigten. Das hat zur Folge, dass in das AfD Wahlprogramm auch vermeintlich „progressive“ Forderungen wie der Mindestlohn oder die Stärkung der gesetzlichen Rente einfließen, während das Grundsatzprogramm der AfD vor allem aus Kernsätzen des Neoliberalismus besteht. Wie „sozial“ und „progressiv“ die AfD wirklich ist, wird sich am Abstimmungsverhalten der AfD zeigen, wenn die LINKE Anträge zu diesen Themen in den Bundestag einbringt.
Gerade deswegen bringt es auch wenig gegen AfD-Wähler moralisch zu argumentieren. Der objektive Grund für das Erstarken der AfD ist der Unmut über den fallenden Lebensstandard, der hier, wegen des Fehlens einer radikalen, linken Massenbewegung seinen politischen Ausdruck findet. Und nur auf dieser Ebene, nur mit der konsequenten Stellung der sozialen Frage, hat man eine Chance, AfD-Wähler von der Nutzlosigkeit der AfD in dieser Hinsicht zu überzeugen.
Beachtet werden muss aber auch die anhaltende Rechtsentwicklung der Partei, erst wurde mit Bernd Lucke und später mit Frauke Petry stets der „gemäßigte“ Parteiflügel geschlagen, was den faschistischen Flügel um Björn Höcke, Alexander Gauland und Andre Poggenburg stets gestärkt hat.
Es wäre aber falsch die AfD in Gänze als faschistische Partei zu bezeichnen, denn sie stellt den zunehmend autoritären Charakter der kapitalistischen Gesellschaft weltweit in Deutschland dar. Solange der nationalkonservative Flügel um Jörg Meuthen und Alice Weidel die Oberhand behält, hat die AfD jedoch mehr mit der CSU gemein als einer faschistischen Partei. Welcher Flügel sich schlussendlich durchsetzen wird ist jedoch noch nicht abzusehen. Auch Spaltungen der Partei können sich ergeben.
Politisches Vakuum
Bei der Bundestagswahl 2017 konnten die beiden historischen Arbeiterparteien SPD und LINKE grade einmal 29% der Stimmen erzielen. Sie wurden also nur von einer Minderheit der Arbeiterklasse gewählt. Die Mehrheit der Arbeiterklasse hat bürgerliche Parteien gewählt, viele auch die AfD.
Der Lebensstandard der meisten stagniert oder sinkt und ist nicht mehr sicher, die Vermögensungleichheit ist enorm. Es entsteht Unzufriedenheit mit der allgemeinen Lage, mit dem Status Quo, mit dem Establishment. Man will kein „Weiter so“. In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse der Bundestagswahl für SPD und CDU zu betrachten. Gleichzeitig sind SPD und LINKE nicht dazu in der Lage eine konsequente linke und Systemalternative vorzuschlagen und den Unmut der Bevölkerung in einem linken Programm zu kanalisieren. Ein Teil dieses Unmuts wird durch die AfD kanalisiert, die als an sich kleinbürgerliche Partei, teile des Proletariats bzw. Lumpenproletariats mit vermeintlich sozialen Forderungen mitreißen kann. Der Großteil der Unzufriedenen wird aber auch nicht von der AfD repräsentiert, sondern hat im Moment noch überhaupt keinen politischen Ausdruck gefunden.
In diesem Sinne ist ein politisches Vakuum in Deutschland entstanden: Ein wachsender Teil der Bevölkerung, deren Lebensstandard sinkt und der daher den aktuellen Status Quo ändern möchte, aber in ihrer Mehrheit weder von SPD und LINKEN noch von AfD repräsentiert wird und noch nach einem geeigneten politischen Ausdruck sucht. Die Natur lässt jedoch kein Vakuum zu, auf kurz oder lang wird dieser Unmut in der Bevölkerung einen politischen Ausdruck finden, so wie in anderen Ländern mit Corbyn, Sanders, Mélenchon etc.
In welcher Gestalt das geschehen wird, ob in Form einer radikalen Linkswende der SPD wie in Großbritannien (eher unwahrscheinlich), in einer radikalen Linkswende der LINKEN oder durch eine ganz unabhängige, neue Bewegung, lässt sich nicht vorherbestimmen.
Die Aufgaben der Marxistinnen und Marxisten in Deutschland
Wir steuern auf turbulente Zeiten zu. Der Versuch der Bürgerlichen das wirtschaftliche Gleichgewicht nach der Krise von 2008 wieder herzustellen hat das soziale und politische Gleichgewicht untergraben. Der Kapitalismus ist in der schwersten organischen Krise seiner Existenz und kein Ausweg ist in Sicht. Die ökonomische Krise wird in logischer Folge zu einer sozialen und politischen, die den gesellschaftlichen und politischen Status Quo untergräbt.
Die Bürgerlichen haben versucht der Krise durch eine brutale Kürzungspolitik auf Kosten der Arbeiterklasse zu begegnen. In der Folge sinkt oder stagniert der Lebensstandard der Arbeiterklasse, die soziale Ungerechtigkeit wächst – und mit ihr die Unzufriedenheit. Diese Unzufriedenheit wächst stetig, sie hat jedoch noch keinen positiven politischen Ausdruck gefunden, weder SPD und LINKE noch AfD vermögen es diesen Unmut vollends aufzufangen, in Deutschland ist ein politisches Vakuum entstanden.
Eher früher als später wird dieses Vakuum gefüllt werden, die wachsende Unzufriedenheit wird einen politischen Ausdruck finden, auch in Deutschland wird eine breite, linke Massenbewegung entstehen. Das Entstehen einer solchen Massenbewegung (wie Sanders in den USA, Corbyn in Großbritannien oder Melenchon in Frankreich) ist der erste Schritt in einem Prozess der Radikalisierung des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse.
Ein „deutscher Jeremy Corbyn“ würde die Arbeiterklasse zwar im Kampf hinter sich vereinen und organisieren, jedoch wird er mit einem linksreformistischen Programm keine wirkliche, endgültige Lösung für die drängenden Probleme der Menschen bieten können. Eine Lösung dieser drängenden Fragen ist im Kapitalismus unmöglich, die sozialistische Revolution ist notwendig.
Das hat uns vor allem das Beispiel von SYRIZA in Griechenland gezeigt. Nach dem Niedergang von PASOK war SYRIZA als neue linke Partei mit dem Versprechen angetreten, die neoliberale Austeritätspolitik zu beenden. Hinter ihr versammelte sich eine breite linke Massenbewegung und bescherte ihr einen Wahlsieg. In der Regierung brach SYRIZA jedoch nicht mit dem Kapitalismus und war in der Folge gezwungen all die neoliberalen Konterreformen durchzuboxen, die schon ihre Vorgängerregierung durchboxen musste. Aus diesem Beispiel müssen alle, die es mit dem Kampf gegen Austerität und für die Interessen der Arbeiterklasse ernst meinen, lernen!
Was ist also unsere Aufgabe als Marxistinnen und Marxisten? Marx und Engels schreiben im Manifest der kommunistischen Partei: „Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.“
Als Marxistinnen und Marxisten verstehen wir, dass die Forderungen der Arbeiterklasse nicht im Kapitalismus erreicht werden können. Er muss gestürzt, die Rätedemokratie muss errichtet und die sozialistische Wirtschaft aufgebaut werden. Gerade weil wir Realisten sind haben wir keine (klein-)bürgerlichen Illusionen in den bürgerlichen Staat als neutralen Vermittler oder die Gutherzigkeit der Bourgeoisie. Unsere Aufgabe und unsere Verantwortung ist es, der Arbeiterklasse und besonders ihren fortschrittlichsten Elementen diese Wahrheit geduldig zu erklären.
Dabei dürfen wir uns nicht sektiererisch von all jenen, die noch kein revolutionäres Bewusstsein haben absondern, sondern müssen geduldig die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus und des Aufbaus des Sozialismus erklären, hart in der Sache, weich im Ton. Ausgehend von den Forderungen die im Interesse der Arbeitnehmer erhoben werden, müssen wir erklären, warum diese Forderungen (dauerhaft) nur durch sozialistische Maßnahmen erreicht werden können. Entsteht eine linke Massenbewegung a la Corbyn, ist es unsere Aufgabe diese zu unterstützen, aber auch solidarisch zu kritisieren, da wo sie durch bürgerliche Illusionen an Privateigentum und bürgerlichem Staat festhält. Dabei erlangt das Übergangsprogramm und die Übergangsmethode große Bedeutung.
Um ein Faktor in der Arbeiterbewegung und in der kommenden vorrevolutionären Epoche sein zu können, muss unsere Organisation quantitativ und qualitativ wachsen. Wenn die Produktionsverhältnisse in Widerspruch zum technischen Entwicklungsstand der Produktionsmittel geraten, äußert sich dieser Widerspruch in tiefen, organischen Systemkrisen. In der Folge entstehen immer wieder in der menschlichen Geschichte revolutionäre Situationen. Ob diese revolutionären Situationen genutzt werden können, hängt davon ab, ob es eine revolutionäre Organisation gibt, die die Situation analysiert, eine korrekte Strategie entwickelt, den Kampf koordiniert und die Kräfte der Klasse bündelt. Diese Organisation aufzubauen ist unser Ziel.
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