(...) Vieles erinnert an die Situation nach 1929. Auch damals folgte dem Börsencrash eine Vertrauenskrise der Institutionen des Marktes. Mit einem ganzen Bündel von Gesetzen wurden damals den Unternehmen und Finanzinstitutionen Vorschriften und Auflagen gemacht." (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30. Juni 2002).
Wo er recht hat, da hat er recht, der kluge Kopf hinter der FAZ. Bemerkenswert in diesem Kommentar ist auch folgender Satz: "Der Kapitalismus muß angesichts der Krise seine Überlegenheit nachweisen." Welch ein Kontrast zu den Verlautbarungen der letzten Jahre. Über 10 Jahre lang haben bürgerliche Medien und Politiker uns mit Parolen von der "Überlegenheit" des Kapitalismus und dem "endgültigen Scheitern" des "Sozialismus" überschüttetet - und jetzt muß der in die Krise geratene Kapitalismus erst noch "seine Überlegenheit nachweisen". Anfang Juli stürzte der amerikanische Dow-Jones-Aktienindex an einem Tag um 282 Punkte ab. Dies löste Kettenreaktionen an den asiatischen und europäischen Aktienmärkten aus und ließ die Kurve in den USA weiter nach unten gehen. Auslöser der Panik war eine Serie von Bilanzfälschungsskandalen, die das Vertrauen der Investoren in aller Welt stark erschütterten und die Aktienindizes in aller Welt auf neue Tiefststände drückten, wie sie seit Jahren bzw. Jahrzehnten nicht mehr verzeichnet worden waren.
Heftige Ausschläge
Woher kommt diese plötzliche Panik? Die Wall Street wurde in den letzten Wochen ständig durch schlechte Profiterwartungen der Konzerne erschüttert. Das Problem liegt aber noch tiefer. Es ist deutlich geworden, wie extrem schwankend die Stimmung der Kapitalistenklasse sein kann. Elf Jahre nach dem Ende der Sowjetunion und zwölf Jahre nach dem Ende der DDR bestimmen Pessimismus und Zukunftsangst die Sorgen der Kapitalisten. Vorbei sind die Zeiten, da die große Mehrheit der Ökonomen blindes Vertrauen in das sogenannte "Neue Ökonomische Paradigma" ausdrückte. Jetzt dämmert es auch den größten Verfechtern der "freien Marktwirtschaft": das kapitalistische Schiff ist leckgeschlagen, hat Maschinenschaden und treibt richtungslos auf stürmischer See. Die Profite der großen Konzerne sind eingebrochen. Und Profite sind das Lebensblut des kapitalistischen Systems. Ohne Profite gibt es keine Investitionen. Lassen sich die Profite nicht wieder deutlich erhöhen, so ist auch keine wirkliche Erholung der Wirtschaft vorstellbar. Eigentlich sollte dieses ABC allen Kapitalisten bekannt sein. Aber trotzdem und vielleicht wider besseres Wissen haben viele Kapitalbesitzer - und Regierungen - gerade in den letzten Monaten frohlockt: "Die Rezession ist vorüber. Die US-Wirtschaft befindet sich wieder im Aufschwung, es geht aufwärts." Jetzt zeigt sich, auf welch wackligem Boden der Aufschwung der US-Wirtschaft im ersten Quartal 2002 stattgefunden hat. Es waren ausschließlich höhere Konsumausgaben und der Zustrom fremden Kapitals, die Wachstum brachten. Konsumausgaben gründen sich zunehmend auf Kredite - ein Zustand, der nicht ewig andauern kann. Die gesamte Struktur der US-Wirtschaft ist grundlegend ungesund - ein Versuch, sich den Gesetzen der Schwerkraft zu entziehen. Neben dem Zahlungsbilanzdefizit und der riesigen Verschuldung von Konzernen und privaten Haushalten besteht noch ein riesiges und wachsendes staatliches Haushaltsdefizit. Dies alles zeigt den Ernst der Lage an. Es ist natürlich Folge verminderter Steuereinnahmen in der Rezession, aber auch Folge der Politik von Bush, der gleichzeitig Steuersenkungen umsetzte und Ausgaben etwa für Militär und Subventionen an die amerikanische Landwirtschaft erhöhte. Bei jedem anderen Land der Erde hätte der Internationale Währungsfonds (IWF) einer solchen Situation schon längst eingegriffen und harte Auflagen verhängt, wäre das Kapital in Milliardenhöhe abgeflossen und die Währung zum Objekt von Spekulanten geworden. Aber die einzigartige Situation der USA - größte nationale Volkswirtschaft der Welt und einzige verbliebene Supermacht - hat ein solches Szenario bislang verhindert. Die USA sitzen auf einem riesigen Schuldenberg. Solche aufgetürmten Berge erleben früher oder später gewaltige Erdrutsche. Die jüngsten Einbrüche der Aktienkurse sind da ein erster Vorbote gewaltigerer Erdrutsche in der Zukunft.
Kapitalistische Überproduktionskrise
Oberflächliche Beobachter könnten zu der Annahme verleitet werden, daß die Krise von der Börse ausgeht. Dies ist aber eine optische Täuschung. Die Panik an den Börsen ist nur ein Symptom der tiefer liegenden Krise und nicht ihre Ursache. Es ist schon seit längerem klar, daß die Aktienkurse deutlich überhöht waren und keinen Bezug zu den Konzerngewinnen oder Gewinnerwartungen mehr hatten. Darauf haben Marxisten schon vor Jahr und Tag hingewiesen. Marx erklärte schon im 19. Jahrhundert, dass die kapitalistische Überproduktion Krisenursache ist. Das kapitalistische System ist anarchisch. Der Kapitalist produziert in seiner Gier nach Mehrwert für den Markt, ohne Rücksicht darauf, ob der Markt ihre Produkte überhaupt aufnehmen kann. In einer Aufschwungsphase machen sie sich alle auf dem Markt breit, Absatz und Profit steigen, die Nachfrage steigt solange, bis es zur Sättigung kommt und die Spirale wieder nach unten geht und Absatz, Preise und Profite sinken. Dann können die Kapitalisten nicht mehr den Mehrwert realisieren, sie investieren nicht mehr, es kommt zur Krise. Genau dies ist in den letzten beiden Jahren eingetreten.
"Der Markt kann eine Warenmasse absorbieren zu fallenden, unter ihren Kostenpreisen gefallnen Preisen, die er zu ihren früheren Marktpreisen nicht absorbieren könnte. Die Übermasse der Waren ist immer relativ; d.h. Übermasse bei gewissen Preisen. Die Preise, zu denen die Waren dann absorbiert werden, ruinierend für den Produzenten oder Kaufmann." (so Marx in "Theorien über den Mehrwert")
Telekom-Krise
Genau so ist es geschehen. Beispielhaft sei hier die Telekombranche genannt. Im Januar ging der Telekomkonzern Global Crossing bankrott - bis dato einer der Stars der Branche. Die Konzernleitung hatte sich verkalkuliert: sie verschuldete sich in Milliardenhöhe und verlegte modernste Telekomleitungen. Doch diese Idee hatten auch andere Konkurrenten. Ergebnis: der Markt für Telekomleitungen ist gesättigt. Viele modernste Kabel liegen ungenutzt in der Erde. Es gibt im Telekombereich massive Überproduktion und Überkapazitäten, und die Preise sind in den Keller gerutscht. Im Aufschwung sind Kredite reichlich und günstig zu bekommen, und Investoren gehen die absurdesten Risiken ein. Geld spielte keine Rolle. Steigende Aktienkurse brachten frisches Kapital in die Konzerne. Viele dot.com-Klitschen schossen wie Pilze aus dem Boden und ihre Aktien fanden reißenden Absatz - und kein Mensch, vor allem kein Bankier, wagte es, kritische Fragen zu stellen. Damit hat es jetzt ein Ende. Der vor wenigen Jahren noch gepriesene High-Tech-Sektor der "New Economy" ging als erster baden. Plötzlich haben die Investoren entdeckt, daß sie ihr Geld wohl nie zurück bekommen würden und erst recht keinen Profit erzielen würden. Die Flucht aus den Aktien spricht für sich. Da hielten es dann viele Konzernchefs für angebracht, mit "kreativer Buchhaltung" die Aktionäre zu beruhigen und ihnen vorzugaukeln, daß es keinen Grund zur Panik gäbe und das Geld immer noch da wäre. In den vergangenen Aufschwungsjahren - als das Geld reichlich floss - stellte niemand die Frage, ob in den Schaltzentralen der Konzerne wirklich mit sauberen Mittel gearbeitet würde. Jetzt - im kalten Wind der Rezession - ist es amtlich: Gier und kriminelle Machenschaften sind in amerikanischen Konzernen Alltag. In den zurückliegenden Aufschwungsjahren haben die Top-Manager der Konzerne die Geschäftsbücher manipuliert und sich persönlich üppig vergüten lassen. Gleichzeitig haben sie die Belegschaften gnadenlos ausgepresst, Arbeitshetze gesteigert, Personal abgebaut, entlassen, die Arbeitsproduktivität erhöht, alles getan, um das letzte Stück Mehrwert aus der Arbeitskraft herauszupressen. Sie haben sich auf dem Rücken der Arbeiter und Angestellten bereichert. Jetzt entpuppen sich die Industriekapitäne der USA als Kriminelle, die den Konzern an den Abgrund des Bankrotts geführt haben. Die Enthüllungen der letzten Monate richten in mehrfacher Hinsicht Schaden an. Das Vertrauen der Investoren in eine Geschäftswelt, in der die Bilanzen systematisch schöngefärbt wurden, ist nicht mehr vorhanden. Wer einmal das Gefühl gehabt hat, mit seiner Geldanlage getäuscht worden zu sein, hält sich zurück. Die Nervosität der Investoren führt zu noch größerer Instabilität. Weitaus heftigere Crashs sind zu befürchten.
Korruptionsepidemie
Der Zusammenbruch des Enron-Konzerns letzten Winter war der größte Fall dieser Art in der Geschichte der USA. Die Konzernleitung mußte zugeben, daß die Profite in den Vorjahren in Wirklichkeit um 600 Millionen Dollar niedriger gelegen hatten als ausgewiesen. Dies war der bislang größte Firmenzusammenbruch in der US-Geschichte. Auf die Skandale um kriminelle Machenschaften bei den Konzernen Tyco, Global Crossing und Qwest Communications folgte der Telekomunikationsriese WorldCom. Hier mußte das Management im Juni eingestehen, daß es "aus Versehen" die Bilanzen in Milliardenhöhe gefälscht und Profite mit Verlusten "verwechselt" hatte. Ebenso waren der weltberühmte Bürogerätehersteller Konzern Xerox und der Pharmagigant Merck gezwungen, solche Machenschaften einzugestehen. Daß derlei Praktiken aber nicht nur die "Verfehlungen" einzelner auf der anderen Seite des Atlantiks sind, zeigen die Skandale um den französischen Medienkonzern Vivendi und den irischen Pharmahersteller Elan. Die gegenwärtige Krise ist aber mehr als nur eine ökonomische Krise. Sie hat tiefgreifende politische und psychologische Auswirkungen. Schon vor Ausbruch dieser Welle von Skandalen begannen viele Menschen in den USA, den Sinn dieses Systems in Frage zu stellen. Die sehr hohe Zahl von Stimmenthaltungen bei US-Wahlen gibt einen Hinweis darauf, wie sehr "normale" US-Amerikaner vom politischen Establishment und dem Präsidenten entfremdet sind. Im September 2001 rief ein durch Wahlbetrug an die Macht gekommener Präsident George W. Bush den "Krieg gegen den Terror" aus. Seine dadurch rasch angewachsene Popularität wird er aber auf Dauer nicht halten können.
Kein Vertrauen in das "freie Unternehmertum"
In der Vergangenheit war das "freie Unternehmertum" für die US-Amerikaner eine "heilige Kuh". Das ändert sich jetzt. Die Stimmung in der Gesellschaft beginnt umzuschlagen. Mißtrauen und offene Kritik schlagen dem Großkapital entgegen. Und diese Stimmung weitet sich auch auf Politiker und den Präsidenten selbst aus. Nur so lassen sich die scharfen Töne von Republikanern und Demokraten einschließlich Präsident Bush gegen die Machenschaften US-amerikanischer Konzerne erklären. Denn sie wissen, daß sie zumindest den Eindruck erwecken müssen, daß etwas getan wird, denn sonst schwappt die Krise von der Wirtschaft auf die Politik über.
"Die amerikanische Wirtschaft hat aber auch ein moralisches und kulturelles Problem. Seit dem betrügerischen Bankrott des Energiehändlers Enron unter Beteiligung eines führenden Wirtschaftsprüfers fragen sich die Amerikaner, was denn noch alles zu Tage kommen könnte. (...) Noch vor zwei Jahren waren die mächtigen Firmenchefs, die CEOs, die Helden des Wirtschaftslebens, nach den jüngsten Skandalen um Enron, Tyco und andere ist der Ruf der Berufsgruppe erst einmal ruiniert. Einem CEO traut man in den USA inzwischen alles Schlechte zu." ("Süddeutsche Zeitung" vom 26. Juni 2002 in einem Kommentar mit dem Titel "Ökonomie der Angst")
Noch nie war eine US-Regierung so eng persönlich mit der Wirtschaft verflochten wie die gegenwärtige. George W. Bush und sein Vizepräsident Dick Cheney stehen unter dem Verdacht, als Geschäftsleute in früheren Jahren selbst krumme Geschäfte gedreht zu haben. Cheney war Chef von Halliburton, einem Zulieferer für die Erdölindustrie.Bush war Direktor von Harken Energy. 1990 verkaufte er acht Tage vor der Bekanntgabe größerer Verluste eine höhere Anzahl von Harken-Aktien mit hohem Gewinn. Er hätte diese Transaktion melden müssen. Bush ist daher in der Defensive und muß sich in der Öffentlichkeit für seine Verfilzung mit dem Großkapital verantworten.
Es gibt keinen "fairen" und "humanen" Kapitalismus
Natürlich sind all diese Machenschaften in der Natur des Kapitalismus begründet, und es läßt sich auch mit juristischen Mitteln kein "fairer" und "humaner" Wettbewerb herstellen. Im Gegenteil - in aller Regel können sich reiche Geschäftsleute mit Hilfe gewiefter Juristen auch aus fast aussichtlosen Situationen befreien. Es gibt ein Gesetz für die Reichen und eines für die Armen. Doch in den letzten Monaten ist vielen Millionen US-Amerikanern deutlich vor Augen geführt worden, wie eng Großkapital, Politik und Justiz miteinander verfilzt sind. Weltweit steckt der Kapitalismus in einer Sackgasse. Neue Krisen und Rückschläge brechen aus, noch ehe die alten Krisen überwunden werden konnten. Zunehmend erkennen Menschen, daß mit diesem System etwas Grundlegendes nicht in Ordnung ist. Althergebrachte Überzeugungen, Meinungen und Vorurteile werden in Frage gestellt. Viele verlieren auch den Glauben an politische Führer, die sie bisher unterstützt hatten. So berichtet die Süddeutsche Zeitung (28. Juni 2002) in einem Artikel über das "Watergate des Kapitalismus": "Das Debekal im inneren Zentrum des Kapitalismus ist in der Geschichte der Wall Street nicht ohne Präzedenzfall. Lynn Strout (...) erinnerte in der Nachrichtensendung des Fernsehsenders PBS daran, dass die amerikanische Börse nach dem Schwarzen Freitag von 1929 bis zum Jahre 1954 brauchte, um auf den alten Stand zu kommen. Schlechter könnte die Stimmung, selbstverschuldet wie sie ist, nicht sein."
Die gegenwärtige Krise ist keine vorübergehende, zyklische Krise. Die Hoffnung auf einen bevorstehenden Aufschwung, der alle Probleme löst, trügt. Der Kapitalismus befindet sich jetzt in einer Epoche seines langfristigen Niedergangs. Der Charakter der kapitalistischen Krise, ihre Tiefe, Dauer und vor allem ihre Auswirkungen auf die Psychologie der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen - dies alles hängt vom jeweiligen geschichtlichen Hintergrund ab. Die zyklischen Krisen in der kapitalistischen Aufschwungsperiode zwischen 1948 und 1974 waren so harmlos, daß sie kaum wahrgenommen wurden. Das ist heute ganz anders geworden. Die Rezessionstendenzen der letzten beiden Jahre haben dem weltweiten Kapitalismus eine tiefe Vertrauenskrise und globale Instabilität nicht nur im ökonomischen Sinn beschert.
Neue Epoche von Kriegen
Die Militärpolitik von Bush ist Ausdruck der Tatsache, daß die USA ausgerechnet zum Zeitpunkt einer tiefen Systemkrise als die einzige Supermacht der Erde übriggeblieben sind. Für die meisten Menschen in den sogenannten "Entwicklungsländern", aber auch in einigen reicheren "Schwellenländern" - etwa in Südamerika - ist das Leben heute die reinste Hölle. Der sogenannte "Krieg gegen den Terror" verschleiert kaum die Bestrebungen der USA, alle Erdteile zu beherrschen. Doch trotz militärischer Überlegenheit hat die Kriegsführung seit Oktober 2001 für die USA keine stabilen Erfolge gebracht. Anstatt Afghanistan zu befrieden, haben die USA überall im Nahen und Mittleren Osten weitere Instabilität geschaffen. Anstatt den Terrorismus zu bekämpfen, gedeiht der Nährboden für neue Erschütterungen vom Schlage eines 11. September.
"Offizielle amerikanische Stellen loben dennoch weiterhin die "Präzision" der Luftangriffe und weigern sich, Kolalateralschäden zu benennen. (...) Mittlerweile soll die Zahl von 5000 Opfern erreicht sein. Damit wären in Afghanistan schon mehr Menschen zu Tode gekommen als bei den Terroranschlägen auf New York am 11. September. (...) Präsident Karzai, der die Zahl der durch versehentliche Bombardements getöteten Zivilisten von seinem Sprecher auf "unter 500" hat herunterreden lassen, gilt seither als ein Lakai Washingtons, als "Sohn von George W. Bush". (...) Niemand fühle sich sicher, die Infrastruktur sei zerstört, und im Norden gebe es Massenvergewaltigungen, zu denen es selbst unter den Taliban nicht gekommen sei. Amerika habe viel zu früh einen Sieg verkündet. Dabei habe es sein eigentliches Kriegsziel, die Zerstörung von Al Qaida, bis heute nicht erreicht. Für die Wahl Karzais habe Amerika Hunderte Millionen Dollar an die Kriegsfürsten bezahlt." (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.07.2002)
Osteuropa: "Katerstimmung"
Die pro-kapitalistische Euphorie dürfte auch in Osteuropa vorüber sein. Beispiel Polen. Über "Katerstimmung in Polen" berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 12. August 2002: "Je schlechter die wirtschaftliche Lage Polens ist, in desto rosigerem Licht erscheint vielen Polen die sozialistische Vergangenheit in ihrem Land. (...) Angesichts hoher Arbeitslosigkeit sowie immer schlechter werdender Möglichkeiten für viele, selbst Grundbedürfnisse wie medizinische Versorgung zu befriedigen, rückt die schmuddelige Geborgenheit bei der Bewertung der Vergangenheit offenbar immer mehr in den Vordergrund. (...) Ihren Unmut mit den Lebensumständen von heute äußerten vor allem die von der Transformation Benachteiligten und Chancenlosen: Menschen mit niedriger Ausbildung, die Bewohner des ländlichen Raums, Arbeiter, Bauern, Rentner. Hinzu kamen Polen mit linken politischen Anschauungen, aber auch ein Teil der Unternehmer, offenbar solche, die dem Wettbewerbsdruck nicht gewachsen sind."
Wo man auch hinblickt: Instabilität, Krisen und Erschütterungen. Auseinandersetzungen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, angeblich überholt, bestimmen wieder zunehmend den Alltag. In Lateinamerika findet die revolutionäre Bewegung in Argentinien ein Echo. Uruguay, Paraguay, Brasilien, Venezuela, Peru und andere Länder stecken in sozialen und politischen Turbulenzen. In Europa haben Generalstreiks in Spanien, Italien und Griechenland wie auch andere eindrucksvolle Streikbewegungen in Großbritannien, Frankreich, Portugal und nicht zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt, daß den abhängig Beschäftigten der Geduldsfaden reißt und die Arbeiterbewegung wieder neue Kräfte entfaltet. Diese Kämpfe der letzten Monate sind erst die Spitze des Eisbergs, erst der Anfang. Natürlich wird der im Grunde altersschwache Kapitalismus nicht freiwillig seine Überlebtheit einsehen und die Segel streichen. Er wird immer irgendeinen "Ausweg" suchen und finden (und seien es Kriege oder Militärdiktaturen oder brutalstmögliche Ausbeutung der Arbeitskraft), wenn er nicht bewußt gestürzt wird. Daher zielt die Arbeit von Marxisten darauf ab, eine starke revolutionäre Alternative aufzubauen und in der arbeitenden Klasse und der Jugend zu verankern. In den letzten Jahren waren marxistische Kräfte zwangsläufig schwach und isoliert und mußten überall fast "gegen den Rest der Welt" ankämpfen. Jetzt hat sich der Wind gedreht. In den kommenden Jahren werden wir als Marxisten nicht mehr mühselig gegen den Strom, sondern mit dem Strom schwimmen. Viele arbeitende Menschen werden aus den alltäglichen Erfahrungen heraus zu sozialistischen und marxistischen Schlußfolgerungen gelangen.
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