Die Machtfrage
In den letzten Jahren sind vermehrt Artikel, Studien und Bücher zum Thema Revolution auf den Markt gekommen. Egal ob Oktoberrevolution, Deutsche Revolution oder die 68er, in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen quer durch die Gesellschaftsschichten hindurch werden diese gesellschaftlichen Umbrüche aufgrund der bestehenden sozialen Verhältnisse wieder auf die Tagesordnung gesetzt. In Zeiten der Krise der kapitalistischen Ökonomie, welche mehr denn je gezeichnet ist von Desorientierung, existenzieller Angst und dem Infragestellen scheinbar gottgegebener Ordnungen, scheinen doch die Motive auf der Hand zu liegen, warum sich gerade vermehrt das bürgerliche Lager mit dieser Thematik auseinandersetzt. Aber auch im linken Spektrum entdeckt man wieder das Phänomen Revolution. In den meisten Fällen geschieht dies allerdings, und hierin liegt objektiv gesehen das größte Problem, in einer Art und Weise, welche sich angesichts der Krise des Kapitalismus als unrealistisch erweist. Beispielhaft dafür steht das in Deutschland von vielen politisch Linken gefeierte Buch von Bini Adamczak „Beziehungsweise Revolution“ (2017). Dort heißt es: „Die neue Gesellschaft entsteht im Kampf gegen die alte. Sie wird nicht am Reißbrett entworfen, nicht vom Zentralkomitee dirigiert und erfordert vor allem keine vorhergehende Machtübernahme (262).“ Die Lösung läuft auf Transformationsprozesse, solidarische Beziehungen etc. hinaus. Abgesehen davon, dass hier ein Gegensatz von einerseits der blutigen Machtübernahme einer elitären Partei und andererseits der Solidarität der sich in den Armen liegenden Massen bedient wird, ist die Behauptung, es bräuchte keine Machtübernahme für eine neue Gesellschaft in Anbetracht der Ereignisse der verschiedenen Revolutionen völlig absurd. Egal ob die Münchner Räterepublik oder die Revolution in Chile, nicht die mangelnde Solidarität der Massen war das Problem, sondern vielmehr war die Unentschlossenheit und der Mangel an straffer Organisation in Bezug auf die Übernahme der Macht der Grund für die Massaker an so vielen, die sich nichts mehr gewünscht hätten, als eine Gesellschaft ohne Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Unzählige Revolutionen wurden blutig niedergeschlagen und ihre Wortführer ermordet. Zu nennen sind für Deutschland nach wie vor Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Auch Trotzki, als er 1938 in seinem Übergangsprogramm Bilanz zieht, ist sich darüber klar: „Die politische Weltlage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet“ und eben nicht primär durch mangelnde Solidarität der Massen. War der Niedergang der Russischen Revolution letztlich durch die Korrumpierung der KPdSU und durch die ökonomische Rückständigkeit der Sowjetunion herbeigeführt, lag der Niedergang der 68er Bewegungen eher an der Abwesenheit einer proletarischen Führung.
Die Stimmung der Massen drückte sich 1917 in Russland im Bild des „großgewachsenen Arbeiters“ aus, von dem Milijukow laut Trotzki erzählt, wie er, „mit der Faust dicht vor dem Gesicht des Ministers [gemeint ist Tschernow]“ der Übergangsregierung während der Julitage, zu eben diesem schrie: „Nimm, Hundesohn, die Macht, wenn man dir sie gibt (Geschichte der Russischen Revolution, Bd.II Oktoberrevolution).“ Die Macht des Menschen über andere Menschen ist nicht das Ziel der sozialistischen Gesellschaft, aber eine notwendige Bedingung, um eine Gesellschaft ohne Unterdrückung aufzubauen. In den Tagen der Russischen Revolution lag die Macht, wie wir im Nachhinein wissen, buchstäblich auf der Straße. Was aber, wenn sie besonders heute auf den Seehandelsstraßen der Weltmeere liegt?
Unstrittig ist also der Irrsinn des Gedankens, dass die Arbeiterklasse auf die Machtergreifung verzichten könnte, um den Sozialismus aufzubauen. Aber was bedeutet dies konkret? Sicherlich steht der Staatsapparat nach wie vor im Fokus. Ohne die entscheidenden Schaltstellen dieses Apparats, kann man die politisch-ökonomische und die militärische Macht weder kontrollieren noch zielorientiert entwickeln. Zudem kann ein Weltwirtschaftssystem nur global überwunden werden. Trotzki radikalisiert diese Erkenntnis in seiner Schrift „Die permanente Revolution“ (1929) und entgegnet auf die polemische Frage, welches Land denn nun ökonomisch reif für den Sozialismus sei: „Nicht nur nicht das zurückgebliebene China, sondern überhaupt kein Land der Welt könnte in seinem nationalen Rahmen den Sozialismus aufbauen […]. (130).“ Bis heute sind fast alle Versuche einen Arbeiterstaat zu errichten und mit diesem die Weltrevolution voranzutreiben in der Isolation durch die kapitalistische Ökonomie, durch u.a. Handelsblockaden, im Keim erstickt worden. „Die gigantische Bedeutung der Sowjetunion“, und dies gilt nach Trotzki letztlich für jeden Arbeiterstaat, „liegt darin, daß sie der Stützpunkt der Weltrevolution ist, und keineswegs darin, daß sie in der Lage wäre, den Sozialismus unabhängig von der internationalen Revolution aufzubauen (1241).“ Für heute gilt das gleiche mit vielleicht dem Unterschied, dass die Weltwirtschaft als solche noch verflochtener ist als damals und die Machtübernahme eines Staates durch Revolutionäre eine erhebliche weltwirtschaftliche Erschütterung bedeuten würde.
Erobert die Arbeiterklasse eines beliebigen Staates also diesen, dann muss sie mit bestimmten politischen und ökonomischen Strukturen in diesem Staat brechen und die Revolution politisch, ökonomisch und militärisch verteidigen und vorantreiben. So kommt die Arbeiterklasse des eroberten Staates der Arbeiterklasse in anderen Ländern zu Hilfe mit dem Ziel, dass nach und nach mehr Staaten in die Hände der Arbeiterklasse fallen, bis die Weltrevolution siegt. Eine Gemeinschaft aus Arbeiterrepubliken kann (letztlich) durch weitere ökonomische Maßnahmen nach und nach zum Absterben ihrer eigenen Existenz beitragen. Dies bedeutet den Eintritt in das Stadium des Sozialismus, einer universellen und qualitativ neuen Daseinsform, deren höchste Stufe der Kommunismus bildet. Die Welt wie wir sie vorfinden, ist immer schon zwischenmenschliche Beziehung und somit Produkt menschlicher Arbeit. Ändern wir die Art und Weise dieser Arbeit und brechen mit ihrer entfremdeten Form, verändern wir die gesamte Lebenswelt und machen den Weg frei zur höchsten Form menschlicher Existenz. Die Arbeiterklasse muss die Macht ergreifen. Diese Macht ist nichts Abstraktes, sondern der vorhandene Staatsapparat jedes Landes. Dieser muss in den Händen der Arbeiterklasse zugleich zerschlagen und als Instrument des Fortgangs der Weltrevolution verwendet werden.
Die Macht der See
Auf der einen Seite bildet die Macht, welche die Arbeiterklasse benötigt, den Staat eines jeweiligen Landes. Doch auf der anderen Seite liegt die eigentliche Macht auf den Weltmeeren. Nach wie vor werden über 90% des Welthandels über die Schifffahrt abgewickelt. Das Volumen hat sich seit 1970 mehr als vervierfacht. Durch eine massive technische Aufrüstung ist es möglich, immer weniger Personal für die Verfrachtung von Gütern und die Besatzung im Allgemeinen zu verwenden. Diejenigen allerdings, die auf diesen Schiffen arbeiten, leben meist unter unmenschlichen Bedingungen. Sie kommen oft aus Ländern wie den Philippinen, China, Rumänien oder der Ukraine; sie sind Monate weg von der Heimat und haben keinerlei Rechte. Gerade auf dem juristischen Sektor liegen die größten Probleme. Ein Schiff auf internationalen Gewässern unter einer bestimmten Flagge im Auftrag eines beliebigen Riesenkonzerns führt zu einer Menge juristischer Taschenspielertricks. So kann es dazu kommen, dass auf einem Schiff unter englischer Flagge eines chinesischen Konzerns eine philippinische Seefahrerin im Monat ca. 120 Euro für einen 16-Stunden-Tag bekommt. Interessant aber scheint, dass dieses immense Potential der Macht, welches die See als Ort des Welthandels bildet, so gut wie überhaupt nirgends diskutiert wird. Während etwa in allen Medien eine harte Debatte über Diesel-Fahrverbote geführt wird, scheint es keinen zu interessieren, dass nur 15 der größten Schiffe weltweit so viel Stickstoffoxid und Schwefeloxid ausstoßen wie 760 Mio. zugelassene PKW. 2012 wurden 1,863 Mrd. t Rohöl, 903 Mio. t Mineralöle, 1,093 Mrd. t Eisenerz, 1,550 Mrd. t Container, 1,205 Mrd. t anderer Schuttgüter und 992 Mio. t diverser Waren auf dem Seeweg transportiert. Insgesamt beläuft sich der Transport des internationalen Güterverkehrs über den Seeweg auf neun Milliarden Tonnen. De facto bedeutet dies, dass es nahezu nichts an Waren gibt, die nicht mittelbar oder unmittelbar von den Seewegen abhängen. Alles, von der Jacke über die Klobrille, vom Auto über den Fernseher, von der Farbe der Hausfassade über die Raviolidose, die Warenproduktion hängt letztlich von der See ab. Gegenwärtig hängt das ganze ökonomische System an der Seemacht und dem sie garantierenden „freien Handel“ bzw. der Garantie der offenen Seewege ab. Freier Handel meint hier selbstverständlich nichts anderes als die kapitalistische Warenzirkulation.
Hafenarbeiter können den kapitalistischen Welthandel lahmlegen
Auch in Bezug auf den militärischen Aspekt lässt sich sagen, dass eine Weltmacht immer eine Seemacht sein musste. Rom wurde erst zu einer Weltmacht, als es die Macht zur See erlangte; Napoleon eroberte ganz Europa, bis er von der Seemacht England geschlagen wurde. Im Ersten Weltkrieg hat man gesehen, was Handelsblockaden auslösen, im Fall der Seeblockade des Deutschen Reichs durch England: Hunger und Verderben. England war mit den Häfen in all seinen Kolonien zugleich überall auf der Welt militärisch präsent. Außerdem wird seit dem frühen 21. Jahrhundert rabiat gegen die somalischen Piraten vorgegangen. Plötzlich konnten sich alle einigen – u.a. Russland, Deutschland, die USA, Indien und China – dass man das Piratentum sofort vernichten muss. Es scheint, als wäre der Seeverkehr die verwundbarste Stelle des Kapitalismus. Überlegen wir mal einen Moment, was es bedeuten würde, wenn die gut organisierten Hafenarbeiter aller Länder in einem Generalstreik gleichzeitig die Arbeit niederlegten. Sie hätten damit ein starkes Machtmittel in der Hand, um den Welthandel empfindlich zu stören und notfalls auch Militärtransporte zu verhindern oder eine Blockade bestimmter Transporte durchzusetzen. So könnten etwa gezielte Blockaden von Rohstoffen riesige Konzerne in kürzester Zeit ökonomisch vernichten ohne auch nur eine Fabrik oder Produktionsstätte zu zerstören. Würde Deutschland nur einen Tag an der Ausfuhr seiner Exportwaren gehindert, wäre das Ergebnis fatal für die Kapitalisten. Es scheint einen guten Grund zu haben, dass der Fakt Seemacht so wenig Beachtung findet. Der Seehandel bildet das Herz des Welthandels und ist somit auch der Motor, der die ökonomische Ausbeutung in dieser Weise möglich macht. Durch ihn ist es den Unternehmen möglich für eine Jacke mit Liefer-, Material-, und Produktionskosten von 4,80 Euro made in Bangladesch im Einzelhandel 100 Euro zu verlangen. Der berühmte Konteradmiral und Stratege Alfred Thayer Mahan (1840-1914) legte treffend dar, dass der eigentliche Vater der imperialistischen Expansion die See war. Die See schenkte in gewisser Weise dem Imperialismus das Leben. Es gibt wohl gute Gründe anzunehmen, die See könnte in Zukunft auch den Tod des Imperialismus bedeuten. Nämlich dann, wenn ein aus der sozialistischen Weltrevolution hervorgegangener Arbeiterstaat sich auf die Solidarität der Hafenarbeiter weltweit stützen kann.
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