Kategorie: Theorie

Akademische Linke gegen die Revolution

Der für seine „Kapital“-Vorträge bekannte Professor David Harvey sprach sich kürzlich erstmals offen gegen die Revolution und die Überwindung des Kapitalismus aus. Er reiht sich damit in die Kapitulation vieler akademischen Linken, von Noam Chomsky über Angela Davis bis Judith Butler, ein.

Bild: Wikimedia commons (Veetje, CC by SA 3.0)


 

Der britische Professor und Geograph David Harvey bezeichnet sich selbst als Marxist und gilt als Eminenz für marxistische Ökonomie. Hunderttausende Menschen haben seine Vorträge zu Marx‘ Kapital gehört und sind seinen Leseleitfäden zu marxistischen Ökonomie-Texten gefolgt. Doch dieser scheinbare Lebendbeweis dafür, dass im bürgerlichen Milieu an Unis auch kritische, gar revolutionäre Stimmen, einen Platz haben, hat kürzlich genau das Gegenteil demonstriert: In einer Podcast-Folge seiner „Anti-capitalist Chronicles“ vom Dezember 2019 mit dem Titel „Global Unrest“ sprach er sich offen gegen die Revolution aus. Er ging damit den typischen Weg der „akademischen Linken“ – den Weg des Reformismus.

Seine Argumentation lautet im Kern, dass der Kapitalismus „too big to fail“ ist – dass der Kapitalismus heute so allumfassend ist, dass seine Überwindung zu heillosem Chaos und Elend führt, weil wir zu abhängig von kapitalistischer Produktion und Zirkulation sind:

„[W]enn wir den Kapitalfluss stoppen würden sofort 80% der Weltbevölkerung verhungern und handlungsunfähig werden, unfähig, sich effektiv zu reproduzieren. Also können wir uns keinerlei anhaltenden Angriff auf die Kapitalakkumulation leisten. Diese Fantasien, die ihr vielleicht hattet – die Sozialisten, Kommunisten usw. 1850 [zu Marx Zeiten] hatten, dass man sagt, okay, wir können den Kapitalismus zerstören und etwas gänzlich Neues errichten – die sind derzeit eine Unmöglichkeit.“

Seine Argumentation beruht auf der falschen Idee, dass zu Marx Zeiten die meisten Menschen auch ohne den kapitalistischen Markt überleben hätten können, da sie sich selbst mit Lebensmittel versorgen konnten, und ein Zusammenbruch des Kapitalismus daher möglich gewesen sei. Wir können nur vermuten, dass er damit wohl Bauernschaft meint, die damals die Mehrheit der Weltbevölkerung darstellte – denn die Arbeiterklasse in den Industriestädten besaß jedenfalls auch damals mehrheitlich keine Schrebergärten. Nach Harveys Logik bedeutet das, dass das für Marxisten revolutionäre Subjekt, die Arbeiterklasse, in der Minderheit sein muss, damit eine Revolution möglich ist! In seinen Augen scheint sie völlig unfähig, die Produktion und Verteilung von Gütern und die Errichtung des Sozialismus sicherzustellen.

Dies zeigt deutlich, dass ihm die Kreativität der Arbeiterklasse in revolutionären Situationen völlig unbegreiflich ist. In zahllosen Beispielen der Geschichte – von der Oktoberrevolution, über die bolivarische Revolution, bis hin zur revolutionären Bewegung im Sudan 2019 – sahen wir aber in der Realität, dass die arbeitenden Massen stets aus eigener Kraft begannen, Lebensmittelversorgung, Transport, Selbstverteidigung, ja selbst Kinderbetreuung, Straßenreinigung und noch viel mehr selbstverwaltet zu organisieren, dass also die Arbeiterklasse weitaus besser und ohne die riesige Verschwendung und Ineffizienz eines profitgetriebenen Marktes die Gesellschaft führen kann.

Was Harvey stattdessen vorschlägt, ist ein lupenrein bürgerlicher Standpunkt:

„[Das K]apital ist too big to fail … Wir müssen sogar einige Zeit darauf verwenden, es aufzupäppeln, zu reorganisieren, und vielleicht sehr langsam und über lange Zeit verschieben. Aber ein revolutionärer Sturz des kapitalistischen Wirtschaftssystems ist Nichts, was derzeit denkbar ist. Das wird und kann nicht passieren, und wir müssen sicherstellen, dass es nicht passiert.“

Das Programm, das er sich wünscht „ist eines, dass das kapitalistische System so verwaltet, dass wir es davon abhalten, zu monströs zum Überleben zu sein“.

Intellektuelles Spiel vs. revolutionäre Praxis

In Harveys Argumenten werden zwei Gründe deutlich, aus denen der Marxismus im universitären Umfeld nicht unverfälscht überleben kann: Die ganze Logik des wissenschaftlichen Betriebs verlangt, dass Philosophie, Methoden und Theorie ausschließlich der Betrachtung der Welt – nicht aber ihrer radikalen Veränderung – dienen sollen. Harvey selbst sagte in einem Interview mit Jacobin Magazine (7.8.2019):

„Ich sagte einigen Master-Studenten mal zufällig, dass wir vielleicht Marx lesen sollten. Also fing ich an Marx zu lesen, und es erschien mir zunehmend relevant. Auf eine Art war es mehr eine intellektuelle, als eine politische Wahl. Aber nachdem ich ein paar Mal wohlwollend Marx zitiert hatte, sagten die Leute ich sei Marxist. Ich wusste nicht, was das heißt, aber nach einer Weile hörte ich auf es zu verneinen und sagte ‚okay, dann bin ich eben Marxist, auch wenn ich nicht weiß, was das heißt‘ – und ich weiß es immer noch nicht. Es hat jedoch eindeutig eine politische Message, und zwar als Kritik am Kapital.“

Und er stellt Karl Marx’ persönliche politische Praxis als persönliche Vorliebe, denn als logische Konsequenz und Notwendigkeit dessen Theorien dar:

„Marx sagte, dass wir die Welt nicht verstehen, sondern verändern müssen. Aber ich denke nicht, dass seine Praxis darauf hindeutet, dass er kein Interesse am Verstehen und Erklären der Welt hatte…“ und er bleibt folglich beim ersten Teil, dem Versuch des Verstehens der Welt, stehen.

Losgelöst von dem Druck der Arbeiterklasse, durch eine Organisation und reale Kämpfe, herrscht an Unis der soziale Druck der Bourgeoisie, vermittelt durch den Dschungel universitärer Bürokratie und des wissenschaftlichen Apparats. Das fehlende Vertrauen in die Arbeiterklasse und sogar der Zweifel an ihrer Existenz ist daher in verschiedenen Schattierungen bei fast allen sogenannten marxistischen Akademikern vertreten.

Es war einmal die Arbeiterklasse

„Die klassische Arbeiterklasse existiert in vielen Ländern nicht mehr, und die Basis traditioneller Linkspolitik ist damit verschwunden … Also brauchen wir einen neuen linken Ansatz, den ich antikapitalistische Politik nennen würde: mit Fokus nicht einfach auf den Betrieb, sondern auf's alltägliche Leben, Wohnen, soziale Versorgung, Umwelt, kulturelle Veränderung und Transformation“, sagt Harvey im selben Interview.

Diese Ansichten Harveys kamen nicht völlig aus dem Nichts. In vergangenen Publikationen begann er bereits, die Arbeitswertlehre von Marx umzuinterpretieren (siehe z.B. sein Text „Marx’s refusal of the labour theory of value“) und dem neoliberalen Kapitalismus eine besonders brutale Art der Ausbeutung, die außerhalb der „normalen“ Funktionsweise das Kapitalismus liegt, zu attestieren: die „Akkumulation durch Enteignung [dispossession]“, womit er beispielsweise Landraub, Privatisierungen aber auch das Kreditsystem meint. In beiden Fällen läuft seine Argumentation darauf hinaus, die Rolle der Produktion und der Arbeiterklasse hinunterzuspielen, zugunsten von breiteren, linken und „partikularen“ Bewegungen.

Diese altbekannten Töne, aufgetischt als Neuheit (antikapitalistische Politik, ein Novum!) rühren von einem völligen Unverständnis für die Rolle der reformistischen Arbeiterführungen her. Deren Unfähigkeit, Arbeitskämpfe zum Sieg – oder überhaupt – zu führen, ihre Kollaboration mit dem Kapital und die darauffolgende Schwächung und direkte Sabotage der organisierten Arbeiterbewegung wird von akademischen Pessimisten als Verschwinden der Arbeiterklasse oder deren generelle Unfähigkeit, die Gesellschaft zu verändern, interpretiert.

Trotz Übelkeit das kleinere Übel

Und so reiht sich der „akademische Marxismus“ ein in die lange Liste der Apologeten des Reformismus und Kapitalismus. Dies wird derzeit gerade besonders in der Frage der Präsidentschaftswahlen in den USA überdeutlich, wo eine Reihe von prominenten linken Akademikern offen zur Unterstützung des „geringeren Übels“ Joe Bidens aufrufen (ein Schritt, den Harvey immerhin nicht getan hat). [siehe unsere Position zu den Wahlen im Artikel "Evil vs. Evil"]

So erklärte die linke Ikone, Aktivistin und Akademikerin des „marxistischen Feminismus“ Angela Davis: „Es geht darum, einen Kandidaten zu wählen, der am effektivsten unter Druck gesetzt werden kann, um der sich entwickelnden antirassistischen Bewegung mehr Raum zu geben“.

Auch die für antikapitalistische Ansichten bekannte Universitäts-Legende, der Sprachwissenschaftler Noam Chomsky, veröffentlichte kürzlich ein Video, in dem er vor apokalyptischer Soundkulisse das Ende der Zivilisation verkündete – wenn man nicht Joe Biden zum Präsidenten wähle:

„Weitere vier Jahre mit Trump könnten uns buchstäblich zum dem Punkt bringen wo das Überleben der organisierten menschlichen Gesellschaft in größter Gefahr ist (…) Wir müssen Trump loswerden und weiterhin Druck auf Biden ausüben, wie es Sanders und seine Gefährten bisher auch getan haben.“

Queer-Theoretikerin Judtih Butler, die seit neuestem in ihrem Buch „The Force of Nonviolence“ mit Hegel für die Utopie einer gewaltfreien Sozialpartnerschaft argumentiert, schließt sich in einem jüngst erschienenen Podcast-Interview dieser Sichtweise pragmatisch an: „Viele Dinge werden in einer Biden-Administration nicht überzeugend großartig sein, aber dann würden wir gegen diese Dinge kämpfen, nicht um das Ende der Demokratie bangen, oder? “

Eine Liste von Altlinken 68er-Studentenaktivisten schrieben einen öffentlichen Brief, in dem sie alle heutigen linken Studierenden ermahnen, dass „wir alle hart dafür arbeiten müssen, ihn [Biden] zu wählen. Das ist eine Bewegung, in der jeder einzelne zählt“, denn „die Existenz der amerikanischen Demokratie ist in Gefahr“ (The Nation 16.4.)

Und selbst der Philosophie-Troll Slavoj Žižek, oft (entgegen selbst seines eigenen Verständnisses) mit dem Marxismus assoziiert, welcher 2016 noch aus Trotz für Trump aufgerufen hat, druckst nun herum und meint zwar „Biden ist auf lange Sicht die gleiche Katastrophe wie Trump“, doch „Ich hoffe, dass Biden eine gute Truppe um sich aufbaut, die die Situation irgendwie unter Kontrolle bringt.“ (Irish Times, 1.8.)

„Biden ist ein trojanisches Pferd für Sozialismus“, der „nicht die Kraft hat, gegen extremistische Marxisten aufzustehen“, wetterte Trump kürzlich. Tatsächlich ist Biden aber umgekehrt das trojanische Pferd der Bourgeoisie in der Linken. Zum Glück ist damit die Geschichte nicht zu Ende.

Denn ungeachtet der intellektuellen Weisheiten wird die weltweite Polarisierung und Radikalisierung der Jugend und ArbeiterInnen weiter fortschreiten. Doch um uns genau dafür mit den richtigen Ideen zu wappnen, tun wir gut daran, die akademische Entstellung des Marxismus mit Bidens Pferd davongaloppieren zu lassen – und lieber auf unser eigenes Pferd zu setzen.

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