Die Welt steht in Flammen. Wie erleben die größte Krise des Kapitalismus. In zahlreichen Ländern gibt es Massenbewegungen gegen die herrschenden Verhältnisse und das bestehende System. Wieso dann noch einmal ein Buch über Ideologien herausbringen?
Sicher fragen sich viele: Warum sollte man sich mit Philosophie beschäftigen, wenn gerade auf der Welt so viele Dinge passieren und alles in Bewegung geraten ist? Viele dieser Bewegungen sind zwar sehr inspirierend. Wenn man sich anschaut, wie die Bewegungen in Hong Kong, im Sudan, in Chile, in Ecuador und anderswo ablaufen, wird deutlich, dass ein enormer Frust der Massen mit dem herrschenden System und ein enormer Wille und Opferbereitschaft, etwas zu verändern, vorhanden ist. Doch wohin die Reise gehen soll, ist nicht ganz klar. Vor allem haben die Parteien, Gruppen, Organisationen oder auch Individuen, die an der Spitze dieser Bewegungen stehen, in allen Fällen kein klares Konzept, wie die Bewegung gewinnen kann. Wenn man sich ernsthaft damit auseinandersetzen will, wie man die Welt verändern kann und wie man gewinnen kann, dann ist die Frage der Philosophie, also der Grundlage, wie man die Welt versteht, zentral. Wer etwa anders als wir Marxisten keine klare Klassenanalyse hat, der kommt zu dem Schluss wie beispielsweise manche im Sudan, dass man mit den Reaktionären und dem Militär verhandeln und in eine gemeinsame Regierung gehen kann. Oder am Beispiel von Hong Kong setzt man seine ganzen Hoffnungen in bürgerliche Demokratie und in abstrakte Konzepte von “Demokratie” und “Freiheit”. Genau deshalb muss man gerade jetzt die philosophische Grundlage der Welt studieren, weil wir sehen, dass solche Bewegungen nicht aufhören, sondern weitergehen werden. Kein einziges Problem ist gelöst und wir brauchen die Ideen, die den Bewegungen zum Sieg und zum Sozialismus verhelfen.
Neben einem Einführungstext, der die Notwendigkeit marxistischer Philosophie erklärt, sind in dem Buch eine Reihe von Texten enthalten, die sich mit Ideen befassen, die vor allem an den Universitäten eine Rolle spielen. Was kann man sich darunter vorstellen?
Die Texte richten sich vor allem gegen die akademische Entstellung des Marxismus. Das heißt, es geht wirklich um Ideen, die vor allem aus den Universitäten kommen, aber nicht rein universitäre Gedanken sind, sondern meistens Ideen sind, die der herrschenden Klasse nützen. Diese haben eine gewisse Popularität oder einen gewissen Einfluss erlangt und beeinflussen auch heute noch politische Bewegungen und Parteien. Bei der Auswahl der Texte sind wir chronologisch vorgegangen und haben uns als „progressiv” und „links” geltende Denkrichtungen oder Personen herausgesucht. Deshalb starten wir am Anfang mit Georg Lukács, der heute nicht mehr viel rezensiert wird, aber dessen Gedanken sehr viel Einfluss auf die Konzepte der Frankfurter Schule hatten, über die mehrere Texte in dem Buch enthalten sind. In dieser Tradition stehen vor allem in Deutschland die Antideutschen. Von Lukács übernommen wurde die Ablehnung der marxistischen Gesetzmäßigkeiten in der Natur. Dadurch sind sie immer mehr in Richtung Idealismus abgeglitten bis hin zur völligen Überbetonung der Psychologie und der Ideen und haben später selber eine sehr reaktionäre Rolle gespielt.
Es folgt ein Text über Louis Althusser, welcher eigentlich vor über zehn Jahren in einer tatsächlichen Debatte in der Sozialistischen Jugend Österreichs (SJÖ) entstand, in der es um die Frage der Staatstheorie ging. Damals haben wir in dieser Debatte argumentiert, warum Althusser nicht eine Modernisierung, sondern eine Entstellung des Marxismus ist, die sich geschickt zu verstecken versucht. Doch auch er lehnt viele Grundsätze der marxistischen Philosophie ab und kommt zu einer sehr idealistischen Staatsauffassung, die dem Reformismus heute sehr viele Argumente in die Hand gibt.
Weiter geht es mit dem Konzept der Intersektionalität, was eng verknüpft ist mit der Frage der Identitätspolitik und einen gewissen Einfluss im deutschsprachigen und angelsächsischen Raum hat. Sie geht von der richtigen Feststellung aus, dass es mehrfache Unterdrückung gibt, beispielsweise wenn man Frau und Arbeiterin oder von Rassismus und Sexismus betroffen ist. Doch statt den gemeinsamen Kampf zu organisieren, spaltet das Konzept der Intersektionalität die Menschen in immer kleinere Identitäten anhand von verschiedensten Kombination von Unterdrückungsformen.
Enthalten ist noch ein Beitrag zur Queer Theory, was gleichzeitig eine Abhandlung des Postmodernismus ist, der eine objektive Realität, die man wahrnehmen oder verändern kann, leugnet und zu einer völligen Passivierung führt.
Um zu sehen, wo der Einfluss solcher Ideen wirklich sichtbar ist, ist zum Beispiel die Klimabewegung zu nennen. Einerseits gibt es hier Schülerinnen und Schüler, die auf die Straße gehen, fordern, dass es einen Systemwandel geben muss, und auch offen sind für revolutionäre Ideen, anderseits gibt es aber Illusionen in die Grünen und die Vorstellung, dass man den Klimawandel im Rahmen des Kapitalismus aufheben könnte. Ein anderes Beispiel ist die Frauenbewegung: In der Schweiz gab es im vergangenen Jahr einen großen Frauenstreik und wir sehen auch weltweit große Frauenbewegungen. Aber die Personen an der Spitze dieser Bewegungen vertreten tatsächlich kontraproduktive Konzepte wie etwa die Idee eines „reinen” Frauenstreiks, bei dem nur Frauen und keine Männer teilnehmen sollen, oder andere Formen der Identitätspolitik.
Zum Ausdruck kommen diese Ideen auch in Frage der „Narrative”, also der Idee, eine neue linke „Geschichte zu erzählen”, was eng verknüpft ist mit dem Begriff des „Linkspopulismus”, der als positiv und als erstrebenswert verstanden wird. Diese Idee ist sehr prominent in den Parteien SYRIZA und Podemos, aber auch in der deutschen Linkspartei wird offen von der Notwendigkeit eines neuen linken „Narrativs” gesprochen und in Österreich gibt es jetzt wieder ein neues Linksprojekt, das eine neue Linkspartei auf Basis einer „Geschichte” schaffen will. Dies ist tatsächlich pure postmoderne Philosophie, wie in dem Buch kritisiert wird, weil sie die Realität als „Geschichte” versteht. Folglich muss man den Menschen nur schöne Geschichten erzählen, anstatt den realen Klassenkampf zu organisieren, weil auch Klassen im Grunde nichts anderes als Geschichten sind. All die genannten Ideen werden in dem Buch grundlegend auseinandergelegt und es wird genau erklärt, warum diese uns nicht weiterhelfen, Ausbeutung und Unterdrückung in der Gesellschaft zu überwinden. Es ist sehr hilfreich für Revolutionärinnen und Revolutionäre, sich mit diesen Ideen zu beschäftigten, damit sie mit offenen Augen auf diese verwirrten Ideen zugehen und freundlich im Ton, aber hart in der Sache dagegen argumentieren können.
Das Horkheimer-Zitat „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen” macht oft in linken Kreisen die Runde. Wo liegen die Widersprüche zwischen dem Marxismus und der Frankfurter Schule?
Die Frankfurter Schule hat schon in den 1930er Jahren begonnen. In dem Buch ist auch ein Text des deutschen Trotzkisten Walter Held enthalten, welcher damals schon eine Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule geführt hat. Besonders hat er an ihnen kritisiert, dass sie sehr „“links” und „marxistisch” klingend schreiben, aber zu ihren Ideen keine Praxis entwickeln. Zu den real existierenden Kämpfen jener Zeit wie zum Beispiel die Moskauer Prozesse, in denen die linke Opposition gegen Stalin in der Sowjetunion verfolgt und ausgemerzt wurde, haben sie keinerlei Stellung bezogen. Sie haben die Schicksalsfragen der internationalen Arbeiterklasse und des Sozialismus somit in Wahrheit ignoriert und sich lieber intellektuellen Themen gewidmet. In der frühen Frankfurter Schule findet man noch einige Zitate, die sehr links klingen. Doch wenn man genau liest, sieht man auch schon in den damaligen Texten, dass zwar sehr viel von historischem Materialismus, marxistischer Philosophie etc. geredet wird, aber schon ein gewisser Idealismus erkennbar ist. Begründet wird dies damit, dass sie als Monisten nicht für eine Trennung von Ideen und Materie sind. Auch Marxisten sind Monisten, da wir die Welt als ein Ganzes sehen. Doch der „Monismus” der Frankfurter Schule sieht Ideen und Materie als gleichwertig an und von diesem Ausgangspunkt schummeln sie idealistische Konzepte wie die Überbetonung der Psychologie mit ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich die Frankfurter Schule der US-Besatzung, die den Kapitalismus in Westdeutschland auch ideologisch festigen wollte, untergeordnet und im bürgerlichen Staatsapparat festgesetzt. Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main wurde mit Mitteln der US-amerikanischen Besatzungsmacht, Westdeutschlands und privater Investoren wiederaufgebaut. Beim Auswahlverfahren für Offiziere im Rahmen der Wiederbewaffnung Westdeutschlands wirkten sie beratend mit. Das Übergehen in das Lager der bürgerlichen Reaktion wurde durch die Unterstützung der USA im Vietnamkrieg und die Ablehnung der Studentenbewegung deutlich.
In linken Organisationen hat die Frage von Frauenquoten immer einen hohen Stellenwert. Was ist die Kritik daran?
Die Hauptkritik an Quoten besagt, dass Frau sein allein nichts Progressives ist, was man zum Beispiel an Angela Merkel, Theresa May, Hillary Clinton und vielen anderen nur allzu gut sieht. Nur weil man einer bestimmten Identität (Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung etc.) angehört, heißt das noch lange nicht, dass man progressiv ist oder notwendigerweise Politik für diese unterdrückte Minderheit oder Mehrheit wie im Fall von Frauen macht. Solche Identitätspolitik wird auch von der herrschenden Klasse gezielt verwendet, um mittels Quoten Leute von bestimmten Identitäten reinzuholen, die eher rechts sind und weniger kämpferischere Positionen vertreten. In linken Organisationen würde ich vor allem argumentieren, dass es ein künstlicher Mechanismus ist und eine Art Karrierismus befördert, anstatt an der Basis und in der Mitgliedschaft die Mitglieder und vor allem die Genossinnen so zu fördern, dass sie von sich aus eine führende Rolle in der Organisation einnehmen. In der Praxis wird es in reformistischen Organisationen oft verwendet, um die politische Linie der Führung bürokratisch-identitär durchzusetzen.
Auch in den fortschrittlichsten Organisationen ist es eine nachwirkende Erfahrung, dass sich Männer oftmals in den Vordergrund drängen und Frauen oft bevormunden. Wie soll man da Abhilfe schaffen?
Ich denke, es braucht in den Organisationen einfach einen sehr bewussten Umgang mit dem Thema. Nur weil man nicht für formale Quoten ist, heißt das ja nicht, dass man nicht zum Beispiel Genossinnen aktiv fördern und ihnen Verantwortung übergeben möchte. Ein solidarischer Umgang untereinander, etwas woran jede Organisation arbeiten muss, ist sehr wichtig. Mit bestimmten Themen wie Sexismus oder Rassismus muss man sich beschäftigten. Hier darf es keinerlei Toleranz geben. Übergriffe und Vorfälle müssen gründlich untersucht werden und es muss entsprechende Konsequenzen geben. Die Frage der Konsequenz wird in reformistischen Organisationen oft nicht sehr genau genommen.
In diesem Jahr feiern wir den 200. Geburtstag von Friedrich Engels. Für viele ist das Thema Naturwissenschaft und Dialektik ein Vorwand, um sich von marxistischen Grundsätzen zu verabschieden.
Oft wird behauptet, dass Marxismus nur etwas für die Gesellschaft ist, während die Natur nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniere. Doch wenn man diese Prämisse annimmt, untergräbt man das gesamte Fundament der marxistischen Philosophie. Wenn es einen fundamentalen Unterschied zwischen Gesellschaft und Natur gibt, dann stellt sich die Frage: Woher kommen die Gesetzmäßigkeiten in der Gesellschaft? Kommen sie aus der Natur, aus der Geschichte oder von einer anderen Unbekannten? Menschen sind Teil der Natur und nicht ihre Herrscher. Doch wenn man davon ausgeht, dass Menschen nicht Teil der Natur sind, ist der logische Schluss, dass es eine Form von göttlicher Einwirkung braucht, die eine völlig andere Gesetzmäßigkeit in der Gesellschaft als in der Natur produziert hat. Dies ist ein Einfallstor für völlig prinzipienlosen Idealismus. Friedrich Engels hat das Werk „Dialektik der Natur” verfasst, in dem er viele Dinge schon vorhergesehen hat, die nachher von der Wissenschaft bestätigt wurden. Dies zeigt, dass die Methode des dialektischen Materialismus dem Idealismus deutlich überlegen ist.
Hast du letzte Schlussworte, die du den Lesern mitgeben möchtest?
Wir erleben derzeit die wahrscheinlich tiefste Krise des Weltkapitalismus in seiner Geschichte. Wir befinden uns inmitten einer Periode, die von Revolution und Konterrevolution geprägt sein wird. Doch die Geschichte zeigt auch, dass wir keine „Abkürzungen“ zum Sozialismus gehen können. Um mit einem klaren Blick und einem tiefen Verständnis für die Notwendigkeiten auf die kommenden Ereignisse zuzugehen, und gewinnen zu können, ist es gerade jetzt wichtig, die Grundlagen des Marxismus zu studieren – und gegen allen möglichen idealistischen, reaktionären Humbug, der direkt der herrschenden Klasse nützt, zu verteidigen. Ich hoffe, dass das vorliegende Buch allen Revolutionärinnen und Revolutionären dabei helfen kann.
Das Buch ist in unserem Online-Shop erhältlich.
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