Kategorie: Theorie |
|||
Reformen ja – Reformismus nein! |
|||
|
|||
Vorwort zur Broschüre "Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution", Reihe Aufstand der Vernunft Nr. 13 - hier erhältlich |
|||
|
|||
Warum legen wir 100 Jahre nach ihrer Ermordung im Januar 1919 eine alte Streitschrift Rosa Luxemburgs aus dem vorletzten Jahrhundert gerade heute wieder auf? Weil die an die Oberfläche tretenden grundlegenden Differenzen in der damaligen Arbeiterbewegung, mit denen sich die Autorin auseinandersetzte, gerade auch im 21. Jahrhundert höchst aktuell und brisant sind. Es geht um Grundfragen, Strategie und Perspektiven der sozialistischen und Arbeiterbewegung. Namen und Begriffe mögen sich geändert haben, die wesentlichen Sachverhalt jedoch nicht. Die aus einer Artikelserie hervorgegangene Broschüre „Sozialreform oder Revolution“ erschien erstmals im Jahre 1899 und erregte in der aufstrebenden deutschen Sozialdemokratie viel Aufsehen. Die damals erst 29 Jahre alte Rosa Luxemburg hatte sich nach dem Studium der Nationalökonomie in der Schweiz erst ein Jahr zuvor in Deutschland niedergelassen. Als junge Revolutionärin polnisch-jüdischer Abstammung war sie vor der Zarenpolizei im russisch besetzten Polen geflohen. Die euphorische junge Marxistin war davon überzeugt, dass sie in der stärksten Partei der 1899 gegründeten Sozialistischen Internationale einen Beitrag zum internationalen Siegeszug des Sozialismus leisten könnte. Sie sah sich in der aufstrebenden SPD des späten 19. Jahrhunderts am Ziel ihrer Hoffnungen angekommen. Sie stürzte sich mit Elan in die sozialistische Bildungsarbeit. Bei aller von Vortragsreisen und Publizistik geprägten Hektik blieb ihr nichts Menschliches fremd. Die alte deutsche Sozialdemokratie hatte zwölf Jahre Verfolgung unter den Bismarck‘schen Sozialistengesetzen (1878-1890) überlebt, verzeichnete einen anhaltenden Mitgliederzustrom und errang fortlaufende Wahlerfolge. Im Erfurter Programm von 1891 bekannte sie sich zum revolutionären Marxismus und wissenschaftlichen Sozialismus, wie ihn Karl Marx und Friedrich Engels geprägt hatten. Von reaktionären Kräften im Kaiserreich als „vaterlandslose Gesellen“ verschrien, waren die Akteure der Sozialdemokratie von einem unvermeidlichen Siegeszug des Sozialismus überzeugt. Von Marx und Engels hatten sie gelernt, dass der Kapitalismus zwangsläufig krisenhaft ist und sich mit dem modernen Proletariat seine eigenen Totengräber schafft. Die Aufwärtsentwicklung des deutschen Kapitalismus in jenen Jahren förderte auch den Aufstieg der Arbeiterbewegung. Diese schuf sich starke und mächtige Organisationen mit großen Apparaten: Gewerkschaften, Parlamentsfraktionen, Parteibüros, über 90 Tageszeitungen, Parteischulen und Bildungseinrichtungen, Konsumgenossenschaften und Vorfeldorganisationen. Eine Folge und Kehrseite dieser Entwicklung: Es bildete sich allmählich eine Funktionärsschicht und Bürokratie heraus, die abgehoben und besser gestellt war als die Masse der Arbeiter. So bezogen hauptamtliche Gewerkschaftssekretäre ein Mehrfaches des Durchschnittseinkommens der Mitglieder. Und ganz allmählich entwickelten die Angehörigen dieser Apparate ein Eigeninteresse, das in immer größeren Widerspruch mit den traditionellen marxistischen Grundüberzeugungen geriet. Rosa Luxemburg war rasch ernüchtert über die einseitige Fixierung eines spießigen Parteivorstands auf Parlamente. Sie spürte und kritisierte die zunehmende Verknöcherung der Partei- und Gewerkschaftsapparate, setzte auf Massenaktionen von unten und warnt vor einem Militarismus zu Lasten der Sozialpolitik. Das damals anhaltende jahrelange hohe Wirtschaftswachstum des deutschen und internationalen Kapitalismus bildete die Grundlage für Zugeständnisse der Unternehmen an die Gewerkschaften. Vor allem die gut organisierten und kampfbereiten Schichten der Arbeiterklasse erreichten höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Der Druck der Arbeiterbewegung erzwang zudem politische Zugeständnisse wie etwa Arbeitsschutzgesetze und nährte damit aber auch Illusionen in einen vermeintlich neutralen Charakter des bürgerlichen Staats. Reale Verbesserungen im Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung schienen denjenigen Recht zu geben, die von einer „Hebung großer Schichten des Proletariats in den Mittelstand“ sprachen. „Wozu überhaupt noch auf einen revolutionären Kampf und die Eroberung der politischen Macht setzen, wenn wir schon heute Schritt für Schritt auf dem Reformwege Verbesserungen erreichen können?“ – solche und ähnliche Fragen gingen damals vielen Angehörigen der neu entstandenen „Arbeiteraristokratie“ durch den Kopf. Krisen sind kein „Betriebsunfall“ des Kapitalismus Als Sprachrohr dieser Führungsschicht trat Eduard Bernstein um die Jahrhundertwende in Erscheinung und verlieh ihren Interessen einen neuen theoretischen Ausdruck. Er bezweifelte und revidierte die Grundaussagen und -auffassungen des revolutionären Marxismus und wurde somit zum Begründer des „Revisionismus“. Aus oberflächlichen Wahrnehmungen der Entwicklung im damaligen Kapitalismus formten Bernstein und seine Anhänger eine iedologische Rechtfertigung für ihre Kehrtwende. Nicht mehr auf eine revolutionäre Entmachtung der Kapitalistenklasse und klassenlose Gesellschaft, sondern ausschließlich auf kleine Reformschritte sollte die Arbeiterbewegung setzen, so ihre Forderung. Bernstein argumentierte, dass Kredite die von Marx nachgewiesene Überproduktionskrise überwinden könnten. Krisen sind kein „Betriebsunfall“, sondern unvermeidlicher fester Bestandteil des Kapitalismus, entgegnete Rosa Luxemburg. Kredite lindern nicht die Krise, sondern sind ein Faktor der Instabilität, so ihre Überzeugung. Sie beschrieb „waghalsige Spekulationen“ und bezeichnete Kredite als „Vernichtungsmittel von höchst revolutionärer Wirkung“. Die durch eine Bankenkrise ausgelöste kapitalistische Weltwirtschaftskrise ab 2008 bestätigt diese Auffassung des revolutionären Marxismus. Ebenso vertrat Bernstein die Ansicht, Unternehmerverbände und Kartelle führten zur Ausschluss von Konkurrenz und könnten den wirtschaftlichen Verlauf verstetigen. Die seitherige Geschichte zeigt allerdings, dass Kartelle, Blöcke und Bündnisse in der Regel den Konkurrenzkampf nur zeitweilig aufheben und später auch wieder rasch zerbrechen können. Der aktuelle anhaltende Trend zum Aufbrechen der Europäischen Union und zur Wiederkehr des Protektionismus, also verschärfter Handelskriege auf Weltebene, bestätigt diese Kritik Rosa Luxemburgs. Für Bernstein war die wachsende Zahl von Aktionären ein Instrument, um die Macht der Kapitaleigentümer zu beschränken und sie in die Rolle eines Verwalters herabzudrücken. Davon versprach er sich eine Harmonisierung und eine stufenweise sozialisierende Einwirkung. Im Sinne Bernsteins propagierten später viele rechte Sozialdemokraten und Bürgerliche die Idee von „Volksaktien“ und „Belegschaftsaktien“, mit denen Millionen Arbeiter den Kapitaleigentümern gleichgestellt sein sollten. 100 Jahre später feierte diese Idee mit der Privatisierung der Deutschen Telekom eine neue kurze Scheinblüte. Der Absturz der T-Aktie ernüchterte Millionen Kleinsparer, die sich zuvor zum Kauf des „Wertpapiers“ hatten verleiten lassen. Wenn heute bei Hauptversammlungen großer Aktiengesellschaften einzelne aufmüpfige Kleinaktionäre den Konzernchefs kritische Fragen stellen, werden sie in aller Regel mit der geballten Macht der Großaktionäre überstimmt. Sie sind letztlich machtlos. Der Kapitalismus mit seinen großen, global operierenden Konzernen und Banken lässt sich nicht durch Aktien aus den Spargroschen der Arbeiter aufkaufen, warnte Rosa Luxemburg. Er lässt sich letzten Endes auch nicht schrittweise durch die Vorbildwirkung von Genossenschaften humanisieren und zurückdrängen. Rosa Luxemburg erklärte, dass Produktivgenossenschaften “im günstigsten Falle auf kleinen lokalen Absatz und auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs, vorzugsweise auf Lebensmittel angewiesen sind”. Auch der im Lager Bernsteins verbreiteten Auffassung, gesetzlicher Arbeitsschutz sei bereits eine „Beschränkung des kapitalistischen Eigentums“, ein Element „gesellschaftlicher Kontrolle“ und „ein Stück Sozialismus“, hielt Rosa Luxemburg knallhart entgegen: Es geht bei solchen Maßnahmen nicht um einen „Eingriff in die kapitalistische Ausbeutung, sondern eine Normierung und Ordnung dieser Ausbeutung“. Treffend erklärte sie: „Und wenn Bernstein die Frage stellt, ob in einem Fabrikgesetz viel oder wenig Sozialismus steckt, so können wir ihm versichern, dass in dem allerbesten Fabrikgesetz genau so viel 'Sozialismus' steckt wie in den Magistratsbestimmungen über die Straßenreinigung und das Anzünden der Gaslaternen, was ja auch 'gesellschaftliche Kontrolle' ist.“ Ganz im Sinne Bernsteins behauptete übrigens Generationen später der SPD-Kanzler Helmut Schmidt (1974-82), Arbeitslosenversicherung sei bereits „ein Stück Sozialismus“. Die seitherigen Rückschritte bei der Absicherung von Erwerbslosen bis hin zu den Hartz-Gesetzen zeigen, dass die von Bernsteins Anhängern propagierten „kleinen Reformschritte“ nicht zum Sozialimus führen, sondern längst wieder nach hinten gehen. „Die Idee Fouriers, durch das Phalanstère-System das sämtliche Meerwasser der Erde in Limonade zu verwandeln, war sehr phantastisch. Allein die Idee Bernsteins, das Meer der kapitalistischen Bitternis durch flaschenweises Hinzufügen der sozialreformerischen Limonade in ein Meer sozialistischer Süßigkeit zu verwandeln, ist nur abgeschmackter, aber nicht um ein Haar weniger phantastisch“, brachte es Rosa Luxemburg treffend auf den Punkt. Das Phalanstère war übrigens Modell einer von dem französischen utopischen Frühsozialisten Charles Fourier (1772–1836) „am grünen Tisch“ ausgedachte Produktions- und Wohngenossenschaft mit idealerweise 1620 Mitgliedern. Als äußerst weitsichtig erwies sich Rosa Luxemburgs mit ihren Warnungen vor den praktischen Konsequenzen der revisionistischen Theorie: „Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß unwesentliche Veränderungen in der alten.“ Diese kühne Prognose bewahrheitete sich schon wenige Jahre später. Denn der Glaube an einen regulierbaren Kapitalismus und an kleine Reformschritte als ausschließliche Strategie desorientierte die organisierte Arbeiterbewegung und vor allem ihre führenden Kräfte. Als sich die Krise des kapitalistischen Systems und die Gegensätze zwischen den kapitalistischen Mächten in der Katastrophe und dem Gemetzel des 1. Weltkriegs entluden, waren die Spitzen von Sozialdemokratie und Gewerkschaften schon so weit in das System integriert, dass sie den „Burgfrieden“ mit der herrschenden Klasse besiegelten. Als der Krieg vier Jahre später die Revolution auslöste und die Forderung nach Sozialisierung der Produktionsmittel auf die Tagesordnung setzte, verbündeten sich die Spitzen von SPD und Gewerkschaften mit den Unternehmerverbänden und reaktionären Kräften. Somit retteten sie das kapitalistische Eigentum und organisierten die gewaltsame Zerschlagung der aus den revolutionären Kämpfen heraus entstandenen Arbeiterräte. All dies taten sie vorgeblich im Namen des „Sozialismus“. Aus Angst vor der Enteignung und aus Respekt vor einer wachgerüttelten und kämpferischen Arbeiterschaft war die herrschende Klasse 1918 schlagartig zu großen Zugeständnissen bereit. Acht-Stunden-Tag, gewerkschaftliche Rechte und Sozialreformen waren allerdings kein Ausdruck von vermeintlich zur „Vernunft“ gekommenen Unternehmern, sondern ein befristetes Nebenprodukt revolutionärer Kämpfe. Die von der Arbeiterklasse erhoffte grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse durch Sozialisierung wurde mit Tricks und Kniffen vertagt und „auf die lange Bank geschoben“. Statt Arbeiterräten als betriebliche und gesellschaftliche Machtorgane entstanden Betriebsräte mit sehr eingeschränkten Befugnissen. Doch trotz aller Enttäuschungen in den Revolutionsjahren ab 1918 lebte die Sehnsucht nach einer grundlegenden Veränderung der Machtverhältnisse und einer sozialistischen Gesellschaft in der deutschen Arbeiterschaft auch in den 1920er Jahren weiter. Vor diesem Hintergrund setzten der Gewerkschaftsbund ADGB und linke Sozialdemokraten in den 1920er Jahren auf das vom Bernsteinschen Revisionismus geprägte Konzept der „Wirtschaftsdemokratie“. Über eine schrittweise Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung sollten die Verfügungsgewalt des Kapitals eingeschränkt und das Kräfteverhältnis verändert werden, so die Theorie. Doch das deutsche Kapital wollte angesichts der Weltwirtschaftskrise nichts von „Mitbestimmung“ der Beschäftigten, „Wirtschaftsdemokratie“ und „Sozialpartnerschaft“ mit Gewerkschaften und Sozialdemokratie wissen. Es setzte darauf, die unter revolutionärem Druck der Revolution 1918 gemachten Zugeständnisse wieder rückgängig zu machen. Die mit der Weltwirtschaftskrise einher gehende hohe Arbeitslosigkeit bot den Anlass für eine Offensive des Kapitals an der Tariffront und bei staatlichen Sozialleistungen. 1933 brachten führende Kreise des Kapitals den Hitlerfaschismus an die Macht. Seine Hauptmission bestand in der Zertrümmerung der Arbeiterbewegung. Hitler leistete für das Kapital ganze Arbeit. Die illusionäre Hoffnung von Sozialdemokratie und Gewerkschaftsspitzen, dass der Staatsapparat der Weimarer Republik ihre organisatorische Existenz verteidigen und ihnen die Nazis vom Leibe halten würde, ging nicht auf. Nach dem Inferno des 2. Weltkriegs und der Zerschlagung des Hitlerfaschismus 1945 war die Sehnsucht nach einem radikalen Neuanfang in der arbeitenden Bevölkerung weit verbreitet. Selbst Teile der CDU sprachen sich für „Sozialismus“ aus. Die Forderung nach Sozialisierung von Großkonzernen, Banken und Großgrundbesitz fand ihren Ausdruck in zahlreichen politischen Programmen, Reden und Proklamationen jener Zeit und spiegelte sich in abgeschwächter Form sogar in Landesverfassungen und im Grundgesetz von 1949 wieder. Dieser konsequente Neuanfang wurde jäh ausgebremst, der diskreditierte Kapitalismus wieder aufgerichtet. Statt Sozialisierung wurde, um Dampf abzulassen, in der Bundesrepublik unter dem Druck der Belegschaften in Betrieben der Kohle- und Stahlindustrie (Montanindustrie), damals das industrielle Rückgrat der Wirtschaft eine weiter reichendes Mitbestimmungsmodell eingeführt, das seither jedoch nicht den weitgehenden Kahlschlag in der Branche verhindern konnte, dafür aber umso mehr führende Belegschafts- und Gewerkschaftsvertreter in das Management einband. Der in den 1950er Jahren einsetzende Wirtschaftsaufschwung schien bei oberflächlicher Betrachtung den Anhängern von Bernsteins Lehre Recht zu geben. In jenen Jahren verzeichnete der westdeutsche Kapitalismus hohe Wachstumsraten und über Jahre sogar eine annähernde Vollbeschäftigung. Er machte, wenn auch nicht ohne massiven Druck von unten, Zugeständnisse an die arbeitende Klasse. Dies besiegelte den endgültigen Rechtsruck der SPD, die sich im Godesberger Programm von 1959 programmatisch endgültig von ihren ohnehin unverbindlichen marxistischen Lippenbekenntnissen abwandte und die kapitalistische Marktwirtschaft akzeptierte. „Demokratischer Sozialismus“ bedeutete in diesem Sinne nichts anderes als sozialer Kapitalismus. Für eine ältere Generation macht sich der nostalgische Rückblick auf die „guten alte Zeiten“ am früheren SPD-Kanzler Willy Brandt (1969-74) fest, zu dessen Regierungszeiten es tatsächlich eine Reihe spürbarer Sozialreformen gab. Doch diese Zeiten sind längst vergangen und die weltweite kapitalistische Wirtschaftskrise bietet keinen Spielraum und keine Basis mehr für realen Fortschritt zugunsten der arbeitenden Menschen. Was rechte Sozialdemokraten vom Schlage eines Gerhard Schröder oder Tony Blair als „Reformen“ in Angriff nahmen, brachte in aller Regel spürbare Rückschritte für den Lebensstandard und die Lebensqualität der arbeitenden Bevölkerung und eine Vermögensumverteilung von unten nach oben, ganz gleich ob „Gesundheitsreform“, „Rentenreform“, „Bahnreform“, „Postreform“ oder „Pflegereform“. Das massenhafte Scheitern sozialdemokratischer und linker Regierungen in aller Welt und die tiefe Krise der sie tragenden Parteien sind eine deutliche Warnung. So traten etwa Frankreichs Präsident Francois Hollande, die griechische PASOK und die brasilianische PT einst als Hoffnungsträger an und wurden massiv abgestraft, als sie die Erwartungen ihrer Wählerschaft zutiefst enttäuschten. Die anhaltende tiefe Krise der SPD macht sich daran fest, dass sie seit Willy Brandt mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder und Wähler verloren hat. Auch in Österreich und der Schweiz hat die Sozialdemokratie mit ihrer eigenen Politik den Grundstein für eine gefährliche Abwärtsspirale gelegt. Die Krise trifft aber nicht nur die klassischen sozialdemokratischen Parteien. So knickte auch die Anfang 2015 mit großen Hoffnungen ins Amt gewählte Regierung der griechischen Linkspartei Syriza in Griechenland unter dem Druck von Kapitalistenklasse und „Troika“ nach wenigen Monaten im Juli 2015 nahezu widerstandslos ein und übernahm die Drecksarbeit für das Kapital. Die tiefe Krise in Venezuela und die prekäre Position der sozialistischen Regierung unter Präsident zeigen, dass es unmöglich ist, gleichzeitig die Interessen der arbeitenden Bevölkerung und der Kapitalistenklasse zu bedienen. Das sollten sich auch alle hinter die Ohren schreiben, die in Deutschland von einer linken Regierungsbeteiligung träumen. Schließlich ist Rosa Luxemburgs Kritik an Bernstein nicht nur für Auseinandersetzung mit dem rechten SPD-Flügel relevant. Auch in der Partei DIE LINKE, deren Vorstand alljährlich im Januar demonstrativ Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ehrt, stoßen wir auf Schritt und Tritt auf alte reformistische Ideen im modernen Gewande, die sich letztlich Eduard Bernsteins Revisionismus anlehnen. Reformen ja – Reformismus nein! Natürlich hat Rosa Luxemburg nirgendwo den Verzicht auf den Kampf um Sozialreformen gepredigt. Natürlich engagieren sich MarxistInnen hier und heute in Betrieb und Gewerkschaft, im Wohnumfeld und in der „großen Politik“ tatkräftig auch für kleinste Verbesserungen im alltag. Doch angesichts der tiefen Krise des Kapitalismus heute geht es heute weltweit meistens um Abwehrkämpfe zur Verteidigung von Errungenschaften. Die Krise schürt aber auch massiven Widerstand und schafft den Nährboden für revolutionäre Veränderungen. „Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist“, brachte es Rosa treffend auf den Punkt. Friedrich Engels hat in einem ergänzenden Vorbemerkung zu seiner Schrift „Der deutsche Bauernkrieg“ (Dritter Abdruck, Leipzig 1875) festgestellt, dass die Arbeiterbewegung einen Kampf nach drei Seiten hin führen müssse: “(....) nach der theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen (Widerstand gegen die Kapitalisten) - im Einklang und Zusammenhang und planmäßig geführt. In diesem sozusagen konzentrischen Angriffe liegt gerade die Stärke und Unbesiegbarkeit der deutschen Bewegung”, so Engels wörtlich. Der theoretische Kampf und die Besinnung auf die marxistischen Wurzeln unserer Bewegung sind in den letzten Jahrzehnten in der Arbeiterbewegung und politischen Linken zu kurz gekommen. Dies rächt sich jetzt in der Krise und muss dringend behoben werden. Mit der Auflage dieser Schrift von Rosa Luxemburg wollen wir dazu beitragen, dieses Defizit ein kleines Stück weit auszugleichen. Alle politisch bewussten Akteure der Arbeiterbewegung sollten diese Schrift studieren und die darin angesprochenen theoretischen Fragen diskutieren. „Es kann keine gröbere Beleidigung, keine ärgere Schmähung gegen die Arbeiterschaft ausgesprochen werden, als die Behauptung: theoretische Auseinandersetzungen seien lediglich Sache der Akademiker”, so Rosa Luxemburg: “Schon Lassalle hat einst gesagt: Erst, wenn Wissenschaft und Arbeiter, diese entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, sich vereinigen, werden sie alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen erdrücken. Die ganze Macht der modernen Arbeiterbewegung beruht auf der theoretischen Erkenntnis.” Vor einem Jahrhundert erschütterten Revolutionen in Russland, Deutschland und anderen Ländern die Welt. Das Studium dieser Ereignisse bietet uns die Gelegenheit, Grundfragen revolutionärer Politik wieder zu diskutieren und ihre Aktualität zu verdeutlichen. In diesem Sinne wünschen wir der Leserschaft dieser Ausgabe unserer Serie “Aufstand der Vernunft” viele neue und die Auffrischung alter Erkenntnissse. Für entsprechende Debatten, Diskussionsveranstaltungen und Seminare stehen wir gerne zur Verfügung. Hans-Gerd Öfinger, im Januar 2019 |