Gerade weil die Welt widersprüchlich ist, kommt man mit oberflächlichen Erklärungen und Eindrücken nicht sehr weit. Wir sehen in den letzten Jahren, wie das „Altbekannte“ und Vertraute vor unseren Augen zerbröckelt. Die traditionellen Parteien, die Kirche, die bürgerliche Demokratie, der Sozialstaat – all das wird nach jahrelangen Krisenerfahrungen, Sparmaßnahmen und immer wieder gebrochenen Versprechen hinterfragt.
Laut einer OGM-Umfrage vom Juli 2021 „genießen“ wesentliche Säulen der bürgerlichen Gesellschaft in Österreich vor allem Misstrauen: Versicherungen -23% Vertrauen, Medien -20%, katholische Kirche -19%, Regierung -17%, Banken -13%, Industriellenvereinigung -9% usw. Allein scheinbar neutrale oder für „Sicherheit“ bekannte Institutionen können einen deutlich positiven Wert erreichen, also genießen von einer größeren Mehrheit der Bevölkerung das Vertrauen (Polizei +53%, Verfassungsgerichtshof +45%, Arbeiterkammer +44%...).
„Die harten Erfahrungen, die Menschen Anfang 20 in den letzten zwei Jahren gemacht haben, führen laut Politikwissenschaftern wahrscheinlich zu einer – potenziell dramatischen – Radikalisierung ihrer Weltsicht,“ sorgt sich die „Financial Times“ und verweist auf eine Studie der Cambridge Universität, nach der der Glaube an das demokratische System bei 18-34-Jährigen schon vor der Pandemie den tiefsten Abfall der Geschichte verzeichnete.
Gleichzeitig sahen wir eine Reihe von inspirierenden Massenbewegungen rund um den Globus, über die Klimabewegung, Black Lives Matter, Aufstände in Chile (2019), dem Sudan (2019), einen Kampf gegen Militärdiktaturen (Arabische Revolution 2011-13, Myanmar 2021) und neue linke Massenphänomene wie der Linksruck in der britischen Labour Party unter Jeremy Corbyn. Doch diese Bewegungen ebbten ab, schlugen in Konterrevolution und Rechtsruck um. Die Polarisierung nach rechts mit Politikern wie Trump oder einem zunehmenden Rassismus sind ebenso Teil der Gegenwart.
Lässt man sich von temporären Erscheinungen und Eindrücken hinreißen und verabsolutiert diese, ohne die dahinterliegenden Prozesse zu erkennen, führt das zu einem politischen Zick-Zack-Kurs und Verwirrung: Ohne einem klaren Kompass, mit dem man durch die widersprüchliche Gegenwart steuern kann, wechseln sich Euphorie und Demoralisierung in einem manisch-depressiven Politikzyklus ab. Genau deshalb benötigen wir als Revolutionäre ein stabiles, philosophisches Fundament.
Die marxistische Philosophie, der dialektische Materialismus, analysiert die objektive Realität und begreift sie in ihrer Bewegung. Wir schauen unter die Oberflächensymptome und betrachten die darunterliegenden Entwicklungstendenzen – und in welche Richtung sie zeigen.
Materialismus
Der Marxismus ist materialistisch, d.h. wir erkennen an, dass die materielle, objektive Realität die Basis ist, auf der unsere gesellschaftlichen Lebensformen, Ideen und Moralvorstellungen entstehen: Das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Der Kampf um unser Überleben, die Art wie wir produzieren, um Leben zu können, bestimmt, welche Ideen wir entwickeln und wissenschaftlichen Erkenntnisse wir gewinnen können. Beispielsweise wäre es auch dem größten Genie in der Urzeit unmöglich gewesen, ein Virus wie SARS-CoV2 zu untersuchen, geschweige denn eine Impfung dagegen zu entwickeln. Auf dieser Basis kann der Marxismus daher auch feststellen, dass der Klassenkampf – der Kampf zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten darüber, unter welchen Bedingungen wir produzieren – der Motor der Geschichte ist.
Damit stellt sich der Marxismus in die philosophische Tradition des Materialismus – und gegen den Idealismus, der davon ausgeht, dass die menschlichen Ideen die Entwicklung der Gesellschaft und Geschichte bestimmen. Diese Vorstellung, dass letztendlich der „Geist“ das Primäre ist, läuft schlussendlich immer auf die Vorstellung eines Gottes hinaus. Auch wenn heutige Idealisten sich oft als atheistisch verstehen, lässt ihre Philosophie keinen anderen Schluss zu.
Dennoch ist es nicht so, wie es dem Marxismus oft fälschlicherweise untergeschoben wird, dass die Wirtschaft das einzig bestimmende Element der Entwicklung ist. Im Gegenteil: Ideen sind hochrelevant dafür, wie Menschen die Welt um sich begreifen und verändern können. Doch, das ist der Punkt, sie sind „Produkte ihrer Zeit“ und können sich nicht über die materiellen Bedingungen hinwegsetzen. Ideen spielen eine wichtige Rolle, aber revolutionäre, vorwärtstreibende Ideen können nur dann „realisiert“ werden, wenn sie der Richtung der historischen Entwicklung entsprechen, oder, wie das geflügelte Zitat von Victor Hugo lautet, wenn „ihre Zeit gekommen ist“.
Ideen spiegeln letztlich gesellschaftliche Kräfte wider. Allgemein gesehen sind die herrschenden Ideen einer Zeit die Ideen der herrschenden Klasse – sie sind das ideologische, moralische Unterfutter ihrer Herrschaft. So waren der Katholizismus und die Kirche eine wichtige Rechtfertigung für die Herrschaft von Königen und Fürsten im Feudalismus. Doch im Schoß dieser alten Gesellschaftsordnung entwickelten sich die Widersprüche und die Anfänge einer neuen Produktionsweise entstanden.
Der Aufstieg des Bürgertums führte zu einer enormen Entwicklung des menschlichen Denkens und des Materialismus, der im 17. Jahrhundert in Großbritannien durch Francis Bacon neu geboren wurde und dem französischen Materialismus des 18. Jahrhundert den Weg bereitete.
Der Materialismus und Rationalismus der Aufklärung waren die Ideengeber für die Französische Revolution, die ihr ein theoretisches Fundament, Forderungen und Ziele gaben. Sie riefen die „Vernunft“ aus gegen den Aberglauben und die Irrationalität der Kirche und des Klerus. Diese großen Denker gehören zu unserem revolutionären, philosophischen Erbe. Und wie auch die bürgerliche Revolution ihre ideologischen und theoretischen Vorreiter und Wegbereiter gebraucht hat, braucht auch die sozialistische Revolution ihr festes, philosophisches Fundament.
Der englische und französische Materialismus des Bürgertums wollte streng naturwissenschaftlich nur Fakten und Daten gelten lassen und unterzog sämtliche natürliche und gesellschaftliche Phänomene einer rigiden Untersuchung. Es sollte eine widerspruchsfreie, klare Darstellung der Welt gefunden werden. Doch dieser Anspruch führte auch zu einer starren, mechanischen Überbetonung. Die reale Welt funktioniert nicht wie ein mechanischer Apparat mit ewig bestehenden, distinktiven Einzelteilen, die wie ein Uhrwerk in einem ewigen Kreislauf zusammenwirken. Wer hat dieses Uhrwerk schließlich in Bewegung gesetzt? Wie kann aus Ruhe Bewegung entstehen? Diese Fragen kann der mechanische, metaphysische Materialismus nicht erklären und verknöchert somit – zum Idealismus!
Dialektik und die Widersprüche des Kapitalismus
Die Realität ist ständiger Veränderung und Entwicklung unterzogen und permanent in Bewegung. Und jede Bewegung ist im Grunde ein Widerspruch in sich. Genau um die Widersprüchlichkeit der Welt und die Prozesse, die in ihr vorgehen, zu erfassen, braucht man daher die Dialektik, die nichts anderes ist als die „Logik der Bewegung, Entwicklung, Evolution“ (Trotzki, Über dialektischen Materialismus). Deren Gesetze beschrieb Engels als „die allgemeinsten Gesetze (…) der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst.“ (Dialektik der Natur)
Man kann nun berechtigterweise fragen: Was hat das mit meinem realen Leben und mit dem Verständnis des Kapitalismus zu tun?
Die kapitalistische Klassengesellschaft ist ein widersprüchliches System. Einerseits produzieren wir tagtäglich gesellschaftlich an gemeinsamen Arbeitsplätzen, stellen unsere Produkte kollektiv über die ganze Welt verteilt her und sind in jedem einzelnen Lebensakt voneinander abhängig: Das Haus in dem ich wohne, das Essen, das ich verzehre, das Wissen das ich mir aneigne, all das sind Ergebnisse von gemeinschaftlicher, menschlicher Arbeit.
Doch die Früchte dieser Arbeit, die Waren, die Produkte und die Profite eignet sich eine kleine Minderheit an Kapitalisten an, die die Arbeiterklasse ausbeutet. Die Konkurrenz zwischen einzelnen Kapitalisten, ihren Nationalstaaten und verschiedenen Sektoren in der Anarchie des „freien Marktes“ erzeugen permanent Ungleichheit und Krisen. Die Ursachen unserer Probleme sind gesellschaftlich – doch sie werden ständig individualisiert: weil „du“ keinen Job findest, weil „du“ im falschen Land geboren bist, weil „du“ nicht genug leistest; das ist die allgegenwärtige Entfremdung im Kapitalismus und erzeugt das Gefühl von Machtlosigkeit gegenüber dem System.
In wirtschaftlichen Aufschwungsphasen werden die Widersprüche des Kapitalismus abgemildert. Ein Sozialstaat, Zugang zu Bildung und stabile Zukunftsperspektiven zeichneten im Westen das Leben der Nachkriegsgeneration aus.
Doch der Kapitalismus folgt heute einer Abwärtstendenz; er befindet sich im Niedergang. Die Unterordnung der Gesellschaft unter das Profitinteresse der Herrschenden erzeugt Kriege, Hunger und Umweltzerstörung. Die Vereinten Nationen schätzen, dass 2020 weltweit zwischen 720 und 811 Millionen – das ist jeder 10. Mensch – hungerten. Die Kluft zwischen Arm und Reich erreicht historisch beispiellose Ausmaße; 1 Prozent der Menschheit gehören 45% des globalen Vermögens. Naturkatastrophen nehmen indes rasant zu. Zwischen 2000-9 waren es fünfmal so viele, wie in den 1970er Jahren. Das Konfliktbarometer des Heidelberg Institute for International Conflict Research zählte 2020-21 „full-scale“ Kriege (+6 in einem Jahr). Das sind heute die prägnantesten Ausdrücke eines Systems, dass den Zenit überschritten hat.
Eine zentrale Aussage der Dialektik ist, dass früher oder später alles in sein Gegenteil umschlägt. Dies lässt sich eindrücklich an den einst fortschrittlichen Ideen der Bürgerlichen darstellen. Denn die „Vernunft“ und die „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, die Schlachtrufe der aufstrebenden Bourgeoisie, sind heute nichts als hohle Phrasen.
Es gibt steigenden Unmut und Zorn. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein darüber, dass das System gänzlich verrottet ist und die Welt vollständig umgekrempelt werden muss. Viele Menschen verspüren ein brennendes Bedürfnis, die gegenwärtigen Zustände zu zerschlagen und die permanente Zerstörung des Planeten und unseres Lebens nicht länger hinzunehmen.
Strategen der herrschenden Klasse beobachten das mit zunehmendem Unwohlsein. Auf der einen Seite verdammen bürgerliche Kommentatoren die Polarisierung in der Gesellschaft und Politiker, die diese schüren (Trump, Bolsonaro, Johnson, etc.). Doch ihr Ruf nach einer (klassenübergreifenden) „Vernunft“ verhallt ungehört. Denn die Herrschenden, die sich sehnlichst nach der „Mitte“ und der „Vernunft“ sehnen, sind gleichzeitig zunehmend darauf angewiesen, das wachsende Gefühl der Solidarität, des Klassenkampfs und des Widerstands zu unterbinden, indem sie Spaltung bewusst schüren und die Polarisierung befeuern.
In Österreich spiegelt sich das in der Marginalisierung der „sozialpartnerschaftlichen“ Schwarzen in der ÖVP und dem Aufstieg des Slim-Fit-Raiffeisen-Posterboys Sebastian Kurz und seiner Clique wider. Permanente Sündenbock-Mentalität, Schimpfen über Ausländer, Migranten, Flüchtlinge und Sozialschmarotzer werden in der Regierungs-PR abgespult und der Kanzler erklärt, die Pandemie sei ab sofort „individuelle“ Verantwortung. Dass rassistische Vorurteile auch in der Arbeiterklasse Anklang finden, ist Ausdruck der momentanen Individualisierung und kein Urteil über eine angeblich unverbesserliche „menschliche Natur“. Diese Spaltungsmechanismen werden zurückgedrängt, sobald sich die Arbeiterklasse kollektiv in Bewegung setzt.
Während der Kapitalismus also einerseits das Gewebe der Gesellschaft zerreißt und das Altbekannte und Vertraute ständig untergräbt, schafft er andererseits die Basis für den kollektiven Kampf der Arbeiterklasse gerade gegen das kapitalistische System. Die Krise des Kapitalismus lässt sich nicht mit PR-Gags wegmanipulieren.
Kleinbürgerlicher Utopismus und subjektiver Idealismus
Empiriker, die nur Momentaufnahmen und oberflächliche Symptome sehen, erkennen diesen tief revolutionären Prozess nicht. Sie verabsolutieren einzelne Aspekte der Gegenwart, können ihre Ursachen und ihren Prozess nicht erklären, geschweige denn einen Ausweg aufzeigen.
Der Pessimismus durchdringt das Kleinbürgertum, das angesichts der Aussichtslosigkeit seiner eigenen Existenz, zerrieben zwischen den großen Klassen der Gesellschaft, unwillkürlich zu trübseligen Schlussfolgerungen kommt. Doch dieser triefende Pessimismus hat nun auch immer mehr in der herrschenden Klasse selbst die frühere Ideologie der „Weitsicht“ und „Vernunft“ verdrängt: Die Bourgeoisie hat heute zu Recht nur düstere Perspektiven für ihr eigenes System vor Augen und stützt sich immer mehr auf eine Ideologie, die diese düsteren Perspektiven so weit wie möglich verallgemeinert.
Aber auch innerhalb der Linken finden kleinbürgerliche Vorstellungen eine große Anhängerschaft. Diejenigen, die „linke“ Antworten suchen, jedoch die marxistische Philosophie und die daraus fließende Klassenanalyse der Gesellschaft ablehnen, suchen ihre Antworten in eben dieser kleinbürgerlichen Philosophie des subjektiven Idealismus. Denis Diderot, ein französischer Materialist des 18. Jahrhunderts, beschrieb diesen subjektiv-idealistischen Zugang so:
„Idealisten werden diejenigen Philosophen genannt, die nur ihre eigene Existenz und die Existenz der Empfindungen, die sich in ihnen selbst abspielen, und nichts anderes anerkennen. Ein extravagantes System, das seine Entstehung, wie mir scheint, nur Blinden zu verdanken haben kann!“ (Brief für die Blinden zum Gebrauch für die Sehenden, zitiert in: Materialismus und Empiriokritizismus von Lenin)
Den Schrecken des Kapitalismus sehen subjektive Idealisten nicht in seinen Klassenwidersprüchen, sondern in der „rechten Ideologie“ seiner Vertreter begründet. Sie wollen daher Ideen mit Ideen begegnen. Sie wollen neue Geschichten erzählen („Narrative konstruieren“), rufen nach „echter“ Demokratie, Menschenrechten und Gleichberechtigung, an die sich die Herrschenden bitte halten mögen. Ein leuchtendes Beispiel ist der kürzliche Auftritt Alexandria Ocasio-Cortez‘ (AOC), Gallionsfigur der „Linken“ innerhalb den US-Demokraten, die ein Ballkleid mit der Aufschrift „Tax the Rich“ zur Met-Gala mit 35.000$ Eintrittstickets trug.
Diese Linken können sich eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung nicht vorstellen und sind von einem tiefen Pessimismus befallen. „Ich bin ganz und gar nicht der Meinung (…) dass es jetzt an der Zeit sei, zur traditionellen linken Politik, also zur Klassenpolitik zurückzukehren“, erklärt etwa die prominente Verfechterin eines sogenannten Linkspopulismus, die belgische Akademikerin Chantal Mouffe. Und weiter: „Ich war nie davon überzeugt, dass die Pandemie ein Fenster für progressive Politik öffnen würde. Und heute bin ich eher pessimistisch.“
Der sich radikal gebende philosophische subjektive Idealismus, der nicht weiter als bis zur eigenen Nasenspitze sieht, ist letztlich nur der Zwilling der klassisch-bürgerlichen Ideen – in der Praxis landen beide stets auf der gleichen Seite der Barrikade. Linksliberale Forderungen, losgelöst vom Klassenkampf, sind weit davon entfernt die Profitgier der Reichen zu stoppen. Sie werden als symbolpolitisches Zugeständnis von den Kapitalisten aufgesogen und in ihrem Interesse verwirklicht.
So die Forderung der CO2-Steuer der Klimabewegung, die nun als protektionistische Zollpolitik gegen feindliche Wirtschaftsblöcke (v.a. China) implementiert wird und die Kosten für völlig unzureichende, kosmetische Umweltmaßnahmen den Massen aufhalsen soll.
So der Ruf nach „Demokratie“ und „Schutz von Frauen und Kindern“ in Afghanistan, wo die Taliban als das „kleinere Übel“ akzeptiert werden, um zumindest „NGO-Hilfsgelder wieder ins Land fließen“ zu lassen. So der Appell nach Repräsentanz von Frauen oder Minderheiten in Regierungen und Aufsichtsratsposten – der zwar die Wiener Polizei auf Twitter mit Sternchen gendern lässt, die systematische Unterdrückung der Frau aber weiterhin völlig unangetastet lässt.
Gerade daran sieht man deutlich, wie eine idealistische philosophische Basis in der Praxis zum Spielball nicht nur der Herrschenden wird, sondern auch Reformisten, die jedes Vertrauen in die Arbeiterklasse verloren haben und sich in Hoffnung an die Klassenzusammenarbeit mit den Herrschenden klammern, in die Hände spielt.
Es ist eine Philosophie der Rechtfertigung des Bestehenden. Und das gerade in einer Zeit, in der der Kapitalismus gebrechlicher und instabiler nicht sein könnte!
In der Praxis waren es genau diese Ideen und ihre Verfechtern, die die zahlreichen Massenbewegungen der letzten Jahre in eine Sackgasse geführt haben. Sie stellten in entscheidenden Momenten die Machtfrage nicht und forderten die Kapitalisten nicht heraus. In Chile wurde aus der Forderung der Sturz des Milliardärs-Präsidenten („Piñera raus!“) ein Dialog um eine verfassungsgebende Versammlung; die Black Lives Matter Bewegung, bei der Polizeistationen unter Applaus der Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung angezündet wurden und die die Abschaffung der Polizei forderte, ging in einem „geringeres-Übel-Wahlkampf“ für den Kriegstreiber Joe Biden auf. Fridays for Future weigerte sich, „politisch“ zu sein und aus „system change, not climate change“ wurden sie zur Marionette einer grün-kapitalistischen Fraktion der Bourgeoisie.
Individuum und Masse
Diese Rückschläge sind jedoch, wenn man einen weiteren Blick auf die Gesellschaft wirft, nur temporär. Es sind Erfahrungen, aus denen die Massen wichtige Lehren ziehen werden und zunehmend erkennen, was nützliche Ideen sind und welche Strategien in eine Sackgasse führen. Zweifellos sind solche Phasen der Ebbe im Klassenkampf begleitet von einem Gefühl der Unruhe, der Demoralisierung gewisser Schichten der Arbeiterklasse und der Vereinzelung. Die Aspekte der „Zerstörung“ des Alten überschatten für eine Zeit das revolutionäre Potenzial, das indes unter der Oberfläche weiter geschürt wird. Wir erleben Phasen, in denen die Individualisierung von Problemen, Gefühle der Einsamkeit und Ohnmacht überhandnehmen und Elemente der gesellschaftlichen Barbarei, wie Rassismus und spiritueller Obskurantismus Zulauf gewinnen.
Wenn wir heute am Arbeitsplatz um uns schauen und befinden, dass die Kollegen passiv und apathisch sind, darf man jedoch nicht in die Falle tappen, diese temporäre Phase zu verabsolutieren. Denn wir wissen, dass die grundlegenden Widersprüche nicht gelöst sind – und dass die unterirdischen Prozesse, die sich anstauende Unzufriedenheit, sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen werden! Trotzki schrieb dazu folgende Worte, die wir nur vollständig unterstreichen können:
„Idealisierung der Massen liegt uns fern. Wir haben sie unter verschiedenen Bedingungen, in verschiedenen Epochen und außerdem in den schwersten politischen Erschütterungen gesehen. Wir haben ihre starken und schwachen Seiten kennengelernt. Ihre starken Seiten: Entschlossenheit, Opfergeist, Heroismus, haben immer in Zeiten revolutionären Aufschwungs ihren klarsten Ausdruck gefunden. In dieser Periode standen die Bolschewiken an der Spitze der Massen. Danach begann ein anderes Kapitel der Geschichte, das die schwachen Seiten der Unterdrückten an die Oberfläche spülte: Ungleichartigkeit, Mangel an Kultur, ein zu beschränkter Gesichtskreis. (…)
In diesen gewaltigen Ereignissen lernten die ‚Trotzkisten‘ den Rhythmus der Geschichte, d.h. die Dialektik des Klassenkampfes. Sie lernten auch, und, wie es scheint, bis zu einem gewissen Grade mit Erfolg, wie sie ihre subjektiven Pläne und Programme diesem objektiven Rhythmus unterzuordnen haben. Sie lernten, nicht an der Tatsache zu verzweifeln, daß die Gesetze der Geschichte weder von ihrem persönlichen Geschmack abhängen, noch ihren Moralkriterien untergeordnet sind. Sie lernten, ihre persönlichen Wünsche den Gesetzen der Geschichte unterzuordnen. Sie lernten, sich auch von den mächtigsten Feinden nicht schrecken zu lassen, wenn deren Macht im Widerspruch zu den Gesetzen der historischen Entwicklung steht. Sie verstehen es, gegen den Strom zu schwimmen in der tiefen Gewißheit, daß die neue historische Flut sie an das andere Ufer tragen wird.“ (Ihre Moral und unsere)
Die gleichen Kollegen, die noch heute jammern und rassistischen Vorurteilen anhängen, können in Zukunft entschlossene Klassenkämpfer werden. Das menschliche Bewusstsein ist konservativ und hält, solange es tragbar ist, am altbekannten Trott fest. Doch die menschliche Natur ist nichts Unveränderliches und auch dieser Trott wird ins Gegenteil umschlagen und das Bewusstsein mit einem Schlag zu den objektiven Notwendigkeiten aufholen.
Die Aufgabe des Marxismus ist es, die geduldige Vorarbeit zu leisten, sodass wir uns genau auf diese Situationen des Klassenkampfes und Umschwungs vorbereiten. Engels spricht von den drei Seiten des Klassenkampfes: der „theoretischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen.“
Die Aufgabe der marxistischen Philosophie ist es, den alten Schutt der bürgerlichen Ideen zu beseitigen und den Weg freizuräumen, für jene Ideen, die tatsächlich den Bestrebungen der Massen einen Weg aufzeigen. Diese wichtige Aufgabe verkürzt die schmerzliche Erfahrung des Abtestens von idealistischen, bürgerlichen und reformistischen Ansätzen in Bewegungen und ihrem Scheitern. Dem Druck dieser Ideen nachzugeben, bedeutet, sich die alten, überholten Ideen zum eigenen Problem zu machen. Mit dem Niedergang der alten Gesellschaft und ihrer Ideen wird man mit in den Sumpf des Pessimismus und der Niederlagen gezogen.
Die marxistische Theorie schult uns im Verständnis über die tieferliegenden Prozesse und die weitreichende Instabilität des Kapitalismus. Die Richtung der historischen Entwicklung ist klar: Der Kapitalismus steckt in seiner tiefsten Krise zumindest seit den 1930er Jahren – egal, was die Bourgeoisie macht, sie manövriert sich nur tiefer in ihre eigenen Widersprüche. Die Arbeiterklasse ist zahlenmäßig so stark wie noch nie in der Geschichte und in den letzten Jahren haben Arbeiter und die Jugend sich in Bewegung gesetzt, um deutlich „Nein“ zu den Zumutungen des Systems zu sagen. Doch „Nein“ zu sagen, ist nicht genug, um das schlummernde Potenzial zu verwirklichen.
Es braucht eine positive Antwort, wie der Kapitalismus überwunden werden kann. Und diese Antwort kann der Marxismus liefern: die marxistische Theorie ist die verallgemeinerte Erfahrung der Geschichte, mit denen wir die kommenden Bewegungen zum Sieg führen können.
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