Das Gespenst der Lehman Brothers geht um in Europa
Die momentane Panik bezüglich der Deutschen Bank wurde durch eine Veröffentlichung im Magazin Focus entfacht, in der erklärt wurde, dass Angela Merkel die Möglichkeit ausgeschlossen habe, im aktuellen Streit der Bank mit dem US-Justizministerium zu intervenieren. Dieses hatte der Bank kürzlich angedroht, eine Strafe in Höhe von 14 Mrd. Dollar wegen des missbräuchlichen Verkaufs von Hypothekenpfandbriefen im Vorfeld der US-Hypothekenkrise von 2008 zu verhängen
Herzrasen
Wenn eine deutsche Bank als Folge der Orgie einer unverantwortlichen Kreditvergabe aus der Zeit vor der Krise vor einem möglichen Zusammenbruch steht, ist das doppelte Ironie. Als die Krise ausbrach, wurde diese von den europäischen Kommentatoren als „angloamerikanische Krankheit“ verschrien. Besonders Deutschland wurde wegen der nationalen Abneigung gegen die dunklen Künste der Hochfinanz und der Vorliebe für die ehrlicheren Branchen der Industrie und Technik als immun betrachtet. Als dann die chauvinistische Verblendung dabei versagte, das Übergreifen auf Europa im Jahre 2010 zu verhindern, wurden die gigantischen Löcher, die in den Bilanzen der deutschen Banken auftauchten, auf Kosten der „Schuldnerländer“ wie Griechenland gefüllt. Griechenland wird seit diesem Zeitpunkt in den Konkurs getrieben und ist gezwungen Vermögenswerte zu veräußern sowie Sparmaßnahmen und Ausgabenkürzungen vorzunehmen. Nun steht Deutschland vor dem eigenen „Lehman-Moment“. Vielleicht ist dem US-Justizministerium die Ironie nicht verborgen geblieben, als es Anfang des Monats die Geldstrafe verkündete.
Aber die jetzige Situation beinhaltet mehr als nur Ironie. Die Tatsache, dass die Ankündigung einen solch drastischen Zusammenbruch des Aktienkurses der Bank haben konnte, macht einen chronischen Mangel an Vertrauen nicht nur in die Deutsche Bank, sondern auch in die Zukunftsperspektiven der deutschen Wirtschaft deutlich. In ähnlicher Weise wie die italienische Bankenkrise, die im Sommer ausbrach, sind die Probleme der deutschen Banken symptomatisch für eine tiefere Krise und das nicht nur in Deutschland.
Deutschland ist Europas größter Exporteur und produziert ein Fünftel des gesamten Bruttoinlandsprodukts der EU. Es ist keine Übertreibung Deutschland als das schlagende Herz der europäischen Wirtschaft zu beschreiben und jegliches Herzrasen, das von Frankfurt ausgeht, wird in den Hauptstädten und Vorstandsetagen sämtlicher europäischer Länder gespürt. Andere europäische Banken haben bereits sinkende Aktienkurse erfahren und der britische Leitindex FTSE 100 erlebte den größten Einbruch seit dem EU-Referendum. Ein deutscher Zusammenbruch inmitten von ökonomischen und politischen Turbulenzen auf dem europäischen Kontinent könnte einen kompletten Herzstillstand des europäischen Kapitalismus zur Folge haben, ganz zu schweigen von der schwankenden Weltwirtschaft.
Permanente Krise
In der Vergangenheit hätte die Deutsche Bank, die als eine der bedeutendsten Banken im globalen Finanzsystem gilt, eine solch hohe Geldstrafe problemlos weggesteckt. Das war jedoch zu einer anderen Zeit, in den glorreichen Tagen der Hochkonjunktur vor 2008. Die Deutsche Bank befand sich schon vor dem jetzigen Konjunktureinbruch auf einen Schlingerkurs. Seit Anfang 2016 war der Aktienkurs um 55% gefallen und bereits im Juni gab der IWF folgende Einschätzung ab: "Unter den global tätigen Banken mit systemischer Bedeutung (G-SIBs) scheint die Deutsche Bank am stärksten zu systemischen Risiken beizutragen". Der Absturz hatte offenbar lange vor der angekündigten Geldstrafe durch das US-Justizministerium eingesetzt.
Die Ursache für die Misere der Deutschen Bank kann im extrem niedrigen Rentabilitätsniveau im deutschen Bankensektor gefunden werden. Die deutschen Banken haben die drittschlechtesten Renditen in der EU, nur Griechenland und Portugal bieten schlechtere Finanzanlagen. Ein Grund für dieses Problem ist die Zersplitterung des Bankensektors, in dem sich, genau wie bei seinem italienischen Gegenstück, kleinere lokale Banken ausgebreitet haben, die miteinander konkurrieren, die Kosten in die Höhe treiben und dabei die Rentabilität senken – das ist ein Nachteil in Zeiten der Monopolisierung des Finanzwesens. Mario Draghi, der Präsident der EZB, hat diese „Überkapazität“ im Bankensektor für den Mangel an Rentabilität verantwortlich gemacht.
Andererseits zeigen deutsche PolitikerInnen mit dem Finger auf Draghi und behaupteten in einer Sondersitzung des Bundestags am 28. September, dass die deutschen Banken durch die niedrigen Zinsen unter Druck geraten seien, an welche die EZB seit 2014 festgehalten hat. Sie waren ursprünglich als temporäre Maßnahme gedacht, um die sich abzeichnende Gefahr einer Deflation in Europa abzuwenden. Die jetzt von der EZB betriebene zweigleisige Politik der Negativzinsen kombiniert mit dem Ankauf von Vermögenswerten (“asset-purchasing program”) von über einer Billionen Euro ist zu etwas wie einer permanenten Politik geworden und widerspiegelt den chronischen und unlösbaren Mangel an Vermögensanlagen in der europäischen Ökonomie, ganz zu schweigen vom Rest der Welt.
Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. Die deutschen Banken sind von der immensen Abschwächung des Welthandels, der seit Anfang 2015 stagniert, getroffen worden. Die Auswirkungen der Abkühlung auf Deutschland, dessen BIP zu mehr als der Hälfte vom Export abhängt, ist vergleichbar mit einem Sauerstoffmangel: Da deutsche Exporteure und Reedereien in Folge des Nachfragemangels in Schwierigkeiten geraten, kommt es bei den Kreditrückzahlungen zu Problemen und schließlich müssen nicht einziehbare Außenstände abgeschrieben werden, was bei den Kreditgebern zu geringen Gewinnmargen führt. Die Commerzbank, die zweitgrößte deutsche Bank, hat bereits eine Anzahl von Krediten an ums Überleben kämpfende Reedereien abschreiben müssen. Eine ähnliche Krise konnte im italienischen Bankensektor beobachtet werden, dem „schlechte“ oder „notleidende (faule) Kredite“ aufgebürdet wurden.
Banken können in der Lage sein, alle möglichen Tricks anzuwenden, um schnelles Geld zu machen, wie das Vorstrafenregister der Deutschen Bank beweist (Manipulationen des Referenzzinssatzes LIBOR und der Verstoß gegen das Embargo gegen Russland sind zwei Beispiele), aber letztendlich ist das Wohl des Finanzsektors mit dem Wohl der Realökonomie verknüpft und umgekehrt. In vielerlei Hinsicht ist die Krise der Deutschen Bank ein Mikrokosmos der weltweiten Krise des Kapitalismus – eine Krise, die für die politischen Repräsentanten des Kapitalismus zu einem unlösbaren Dilemma geworden ist.
Dilemma
Die deutsche Regierung hat wiederholt (zumindest öffentlich) jegliche Rettungsmaßnahmen für die Deutsche Bank zurückgewiesen, was paradox erscheint, denn vielleicht hätte ein unerschütterliches Bekenntnis alles Nötige zu unternehmen, um eine solch große Bank zu stabilisieren, die Nerven der Investoren beruhigt und so die Panik bezüglich der Zahlungsfähigkeit der Bank abgewendet. Jedoch kann man Merkels scheinbare Unnachgiebigkeit eher verstehen, wenn man die politischen und internationalen Auswirkungen einer Rettungsmaßnahme berücksichtigt.
Wenn eine Regierung mehrere Milliarden Euro Steuergelder zur Rettung einer Bank verwendet, die zusammengebrochen ist, weil sie auf unverantwortliche Weise Hypothekenpfandbriefe missbräuchlich verkauft hat, würde das ihren Ruf erheblich beschädigen. Für eine Regierung, die wie Merkels, der Welt seit 2008 immer wieder gepredigt hat, wie wichtig die finanzpolitische Verantwortung und Disziplin ist, wäre das besonders katastrophal. Es wäre ein schwerer politischer Schlag, den Merkel momentan nicht wegstecken könnte, wenn man die Stimmenverluste ihrer Partei an die rechtspopulistische AFD bei den Regionalwahlen Anfang des Monats berücksichtigt.
Selbst wenn Merkel der Meinung wäre, das Risiko einer Rettungsmaßnahme würde sich politisch lohnen, so wäre sie wahrscheinlich weniger zuversichtlich über die möglichen Auswirkungen auf den Rest der Eurozone, wenn Deutschland gegen seine eigene goldene Regel verstoßen würde. Italien durchläuft momentan ebenfalls seine Bankenkrise und Ministerpräsident Matteo Renzi steht vor seinem eigenen unlösbaren Dilemma: Ein Bail-in, eine Bankenrettung unter Verwendung von Anlegergeldern (wie es das EU-Recht vorsieht) würde Empörung und politisches Chaos verursachen, es bliebe eine Rettung mit Steuergeldern (Bail-out) ungeachtet der EU-Vorschriften oder man läßt die Banken vor die Hunde gehen Renzi hat sich bereits öffentlich über die „unverhältnismäßigen Kosten“ beschwert, die auf dem EU-Gipfel im Dezember 2015 von Deutschland auferlegt wurden. Falls Deutschland, die treibende Kraft hinter den spartanischen EU-Vorschriften, gegen die eigenen Regeln verstoßen würde, würde das nicht nur eine Welle der Empörung auf dem gesamten Kontinent hervorrufen, sondern auch die „EU-Richtlinie zur Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten“, die zur Vermeidung der Möglichkeit einer neuen eigenstaatlichen Schuldenkrise verfasst wurde, äußerst wirkungslos werden lassen.
Sollte Merkel die Deutsche Bank dann scheitern lassen? Die Vermögenswerte der Bank werden mit ca. 1,8 Billionen bewertet – das entspricht der Hälfte des deutschen BIP. Wenn die Bank mit einer Geldstrafe belegt würde, könnte sie damit nicht klar kommen (es gibt verschiedene Schätzungen, aber 6 Mrd. Euro wäre die Höchstgrenze) und sie wäre nicht in der Lage frisches Kapital von den Märkten zu besorgen, eine Situation, die im Bereich des Möglichen liegt. Das Ergebnis wäre ähnlich dem des Zusammenbruchs der Lehman Brothers 2008, der weitgehend als Beginn der Finanzkrise von 2008 angesehen wird. Ein solches Ereignis würde nicht nur Deutschland in die Krise ziehen, es würde wahrscheinlich eine neue, noch tiefere Rezession auf Weltniveau einleiten.
Deshalb kann Merkel entweder ein Rettungspaket für die Deutsche Bank schnüren und möglicherweise eine Rückkehr zu 2010 provozieren oder die Bank scheitern lassen und eine Rückkehr zu 2008 provozieren. Mit diesen beiden Optionen konfrontiert, wird sie weder das eine noch das andere tun und es vorziehen, eine Mogelpackung zu finden, die es Berlin ermöglicht, die Bank zu stützen ohne sie formell zu retten (Bail-out). Während diese Maßnahme den zuvor erwähnten apokalyptischen Szenarien vorzuziehen wäre, würde sie aber auch keine der fundamentalen Probleme, welche die Krise verursacht haben, lösen. Stattdessen wird sie den Unmut und die Polarisierung, die in Deutschland existieren, weiter verschlimmern und den Weg für eine noch tiefere Krise bereiten, wie die Krise der EU in den letzten sechs Jahren mit wachsender tragischer Vorhersehbarkeit gezeigt hat.
Weltweite Wirtschaftskrise
Zu Beginn des Jahres hat die Royal Bank of Scotland (RBS) ein “verheerendes Jahr” für die Weltwirtschaft vorhergesagt. Die Krise der Deutschen Bank könnte eine Bestätigung dieser Perspektive sein. Es fehlt den Perspektiven der RBS und anderer Strategen des Kapitals aber jegliche Idee, wie man aus dem Teufelskreis aus Überproduktion, Unrentabilität und Rezession herauskommt.
Die Sackgasse, in der sich gegenwärtig Renzi, Merkel und Co. befinden, kommt nicht von ungefähr, sie ergibt sich aus der absoluten Sackgasse des heutigen Weltkapitalismus. Die Tatsache, dass eine Bank wie die Deutsche Bank in einem Land, das bisher immer behauptete, die Krise vermieden zu haben, vom Gespenst der Lehman Brothers acht Jahre nach deren Zusammenbruch heimgesucht wird, ist ein schlagender Beweis, dass die 2008 ausgebrochene Krise längst noch nicht ausgeschöpft ist.
Unabhängig davon, wie es mit der Deutschen Bank in nächster Zukunft weitergeht, die Aussichten auf eine neue weltweite Rezession spielen eine große Rolle. Nach Jahren der quantitativen geldpolitischen Lockerung, der Sparpolitik und des größten keynesiansichen Investitionsprogramms in China hat sich nur eins geändert: Die Armen sind noch ärmer geworden und die Reichen noch reicher. Das ist die Realität des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Es muss nicht unser Ziel sein, diesen zu reformieren, sondern ihn durch eine Planwirtschaft ohne die Anarchie und die Ungerechtigkeiten des Marktes zu ersetzen.
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