Der IWF spricht in seinem World Economic Outlook vom Oktober 2017 von einem blutarmen und unvollständigen Aufschwung. Der jetzige Aufschwung markiere zudem die langfristige Situation: In den kommenden fünf Jahren (2017 bis 2022) werde das Wirtschaftswachstum der Entwickelten Länder 1,4% betragen. Im Vergleich zum Vorkrisenwachstum von 2,2% in den Jahren 1996 bis 2005 ist das ziemlich wenig. Der IWF rät den Politikern den aktuellen Aufschwung für „unpopuläre Strukturreformen“, also Kürzungsmaßnahmen, zu nutzen, um sich auf den nächsten Absturz vorzubereiten. Dabei fehlen jetzt schon Milliarden im Pflege-, Gesundheits- und Bildungswesen, so wie in der Infrastruktur. Die Krise ist also längst nicht überwunden. Auch die chinesische Wirtschaft, bislang noch Zugpferd der Weltwirtschaft, gerät mehr und mehr in Schwierigkeiten.
Dazu kommt eine riesige Niedrigzinsblase, die, wenn sie platzt, potentiell großen Schaden anrichten könnte. Um die Staats- und Schuldenkrise in Europa in den Griff zu bekommen, senkte die Europäische Zentralbank massiv den Leitzins und kaufte massenhaft Staatsanleihen verschuldeter Staaten. Durch die Senkung des Leitzinses und die dadurch billigen Kredite für Unternehmen ist ihre Refinanzierung leichter. In der Folge gehen deutlich weniger Unternehmen pleite, als eigentlich „normal“ und „gesund“ wäre. Es entsteht eine Blase aus an sich unproduktiven Unternehmen, die massenhaft pleitegehen werden, wenn die EZB gezwungen ist den Leitzins wieder anzuheben. In Deutschland hätten in den letzten 10 Jahren normalerweise eigentlich 170 000 bis 300 000 Firmen pleitegehen müssen. Diese „Zombiefirmen“ sind Resultat des blutarmen Wachstums und einer sinkenden Produktivität.
Gleichzeitig hat der Aufschwung nur den oberen Einkommen genutzt, während die unteren und mittleren Einkommen stagnierten oder weniger wurden. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, ist die Vermögensverteilung in Deutschland heute so ungerecht wie seit 1913 nicht mehr. Auch der Satz „unseren Kindern soll es einmal bessergehen als uns“ gilt schon länger nicht mehr. Die Generation der 15- bis 30-Jährigen verdient heute real deutlich weniger als ihre Eltern im gleichen Alter. Mit Blick auf das blutarme Wachstum, die sinkende Produktivität und die Stagnation niedriger und mittlerer Einkommen, meint der Wirtschaftswissenschaftler David Dorn in der FAZ (Frankfurter Allgemeine Zeitung): „Für Arbeitnehmer sieht es düster aus. (…) Das zu verteilende Geld wächst langsamer als früher und der Anteil den die Beschäftigten davon erhalten sinkt seit den Achtzigerjahren.“
Der Versuch der Bürgerlichen, der Krise mit Sparpolitik auf Kosten der Arbeiterklasse beizukommen, hat überall in Europa das soziale und politische Gleichgewicht untergraben. In Ländern wie Griechenland oder Spanien, aber auch in Frankreich, den USA und Großbritannien konnten wir in den letzten Jahren eine politische Polarisierung auf Kosten der politischen Mitte beobachten. Das äußerte sich vor allem in linken Massenbewegungen (Sanders, Corbyn, Mélenchon, Podemos), die durch ein linkes Programm eine Alternative zur neoliberalen Kürzungspolitik aufzeigen. Die ehemals etablierten Parteien, besonders die Sozialdemokratie (wenn sie nicht eine radikale Linkswende vollzog), verloren in der Folge an Bedeutung und Wählerstimmen.
Soziale Ungleichheit wächst
In Deutschland blieb eine solche Entwicklung bislang aus. Sie wird aber dennoch stattfinden. Deutschland konnte sich als reichstes Land Europas bislang noch wirtschaftlich halten, die wachsende soziale Ungerechtigkeit (s.o.) birgt aber dennoch enorme Sprengkraft und untergräbt die politische Stabilität. Die aktuelle Regierungskrise, genauso wie der Erfolg der AfD und die historische Niederlage der SPD, sind die Folgen einer unterirdischen Gärung, die in der deutschen Gesellschaft stattfindet. Als Folge der sinkenden oder gleichbleibenden Einkommen und der wachsenden Unsicherheit steigt die Zukunftsangst und die Furcht, seinen Lebensstandard nicht halten zu können. Bei immer mehr Menschen wächst das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann, das Vertrauen in die etablierten Parteien sinkt. Das bekamen SPD und CDU/CSU bei der letzten Bundestagswahl mit ihren historisch schlechten Ergebnissen zu spüren. Eine Neuauflage der immer unbeliebter werdenden GroKo wird diesen Prozess nur noch befeuern.
Besonders die SPD hat an Vertrauen und Unterstützung in der Arbeiterklasse verloren. Im zehnten Jahr der Krise, verspricht die SPD durch Sozialreformen den Lebensstandard der Arbeiterklasse zu heben. Die SPD scheint bloß zu vergessen (genauso wie die reformistische Führung der LINKEN), dass der einzige Weg für die Bürgerlichen die Krise zu überstehen, das genaue Gegenteil von Sozialreformen ist, nämlich eiserne Sparpolitik auf Kosten der Arbeiterklasse. Der moderate, reformistische Kurs den die Führungen von SPD und LINKE fahren, führt in Zeiten wie diesen direkt in den Abgrund der Bedeutungslosigkeit. Der Niedergang der Sozialdemokratie in Ländern wie Frankreich und den Niederlanden haben deutlich gemacht, wohin die Reise für die SPD geht. Die Sozialdemokratie in ganz Europa steht konkret vor der Wahl: Entweder ein wirklich radikaler Linksschwenk wie in Großbritannien oder der Untergang in die Bedeutungslosigkeit wie in Frankreich. Dass die LINKE von dem Vertrauensverlust in die SPD nicht in größerem Umfang profitieren kann, liegt daran, dass sie im Kern nicht bedeutend anders ist. Die reformistische Mehrheit in der LINKEN versucht alles, um sich den Etablierten anzubiedern, anstatt für eine Linkswende zu kämpfen. In Ländern wie Thüringen, Brandenburg und Berlin, in denen die LINKE mitregiert, wurde eindeutig klar, dass es zwischen SPD und LINKEN lediglich einen graduellen Unterschied gibt.
Der Unmut der in der deutschen Bevölkerung herrscht, kann also derzeit weder von der SPD noch in bedeutendem Maße von der LINKEN kanalisiert werden. (Gemeinsam erhielten beide bei der letzten Wahl nur 29%.) Ein Teil der Unzufriedenen, besonders prekär Beschäftigte, werden von den pseudo-radikalen Parolen der AfD mitgerissen. Der durchschlagende Erfolg der AfD bei der letzten Wahl ist vor allem der wirtschaftlichen Situation geschuldet. Einer Umfrage im Auftrag der sächsischen Landesregierung zum Wahlerfolg der AfD zufolge, sind die größten Ängste der Sachsen, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergeht (83%), dass es zukünftige Generationen schlechter haben werden (71%) und dass die Rente nicht zum Leben reicht (61%). Die Mehrheit der Unzufriedenen wird aber weder von SPD und LINKE noch von der AfD repräsentiert. In Deutschland ist ein politisches Vakuum entstanden. Die Natur lässt jedoch kein Vakuum zu, die Unzufriedenheit weiter Teile der deutschen Arbeiterklasse wird einen politischen Ausdruck finden.
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