Denn 2019 steckt die Deutsche Bahn AG in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Pleiten, Pech und Pannen, Zugausfälle, Verspätungen und Servicemängel gehören heute zum Alltag rund um die Bahn und machen Beschäftigten und Kunden zu schaffen. Ein Vierteljahrhundert Privatisierung, Liberalisierung und Zerschlagung des Eisenbahnwesens haben tiefe Spuren hinterlassen. 25 Jahre „Bahnreform“ sind ein guter Anlass, um Bilanz zu ziehen.
Per Bundestagsbeschluss wurden Ende 1993 die Weichen für den Einstieg in die Privatisierung der Eisenbahnen in Deutschland gestellt. Die ehemaligen deutschen Staatsbahnen Deutschen Bundesbahn (West) und Deutschen Reichsbahn (Ost) wurden durch die Gründung der Deutschen Bahn AG (DB AG) in eine private Aktiengesellschaft überführt. Dies ging mit dem allgemeinen Trend zur Privatisierung integrierter Staatsbahnen in Europa einher. Die alte Bundesrepublik hatte die staatliche Bundesbahn (DB) wie ein ungeliebtes Stiefkind behandelt und sich mental von dieser verabschiedet. Stattdessen wurden von der Bonner Politik, vor allem unter dem Einfluss der Auto- und Mineralöllobby, andere Verkehrsträger wie Luftfahrt und Straßenverkehr begünstigt und faktisch quersubventioniert, während die Eisenbahn immer zu hundert Prozent für ihren eigenen Schienenweg aufkommen musste. Die Vernachlässigung und die im Weltkrieg wurzelnden Altlasten führten zu einer immer höheren Verschuldung der Bundesbahn. Als nach der Angliederung der DDR an die BRD und dem Ende der ostdeutschen Planwirtschaft die Nachfrage nach dem Schienengüter- und Personenverkehr der Deutschen Reichsbahn (DR) stark zurückging und die individuelle Motorisierung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zunahm, diente dies der CDU-/CSU-/FDP-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) neben den Defiziten der Bundesbahn als Vorwand für eine Privatisierung und Liberalisierung des deutschen Eisenbahnwesens. Sie nutzen nach ihrem Wahlsieg bei den ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen 1990 die Gunst der Stunde, um weitere Privatisierungsprojekte durchzuboxen.
Das für die "Bahnreform" nötige Gesetzespaket wurde schließlich im Dezember 1993 im Bundestag bei nur 13 Gegenstimmen und vier Enthaltungen beschlossen. Urheber und Betreiber dieser "Reform" waren allen voran der 1991 von Kohl zum Bahnchef ernannte Stuttgarter Fabrikant Heinz Dürr und (ab 1993) der Bundesverkehrsminister und Autolobbyist Matthias Wissmann (CDU). Sie versprachen ein "goldenes Bahnzeitalter". Die Befreiung der Bahn von den "Fesseln des Beamtenrechtes" führe zu mehr Verkehr auf der Schiene, einer Entlastung der Steuerzahler und besseren Angeboten für die Kunden sowie einer Zurückgewinnung verlorener Marktanteile, so Dürrs Prognose. Neben der schwarz-gelben Bundesregierung stimmte auch die Mehrheit der SPD-Bundestags- und Bundesratsmitglieder für die "Bahnreform" und die damit verbundene Grundgesetzänderung. Einzig und alleine stimmten damals die PDS/Linke Liste sowie einzelne Dissidenten von SPD und Union gegen die Megaprivatisierung. „Der Bundestag beschließt heute die größte Privatisierungsaktion, die es jemals gegeben hat (...) Vor fünf Jahren wäre eine Privatisierung der Bahn unmöglich und undenkbar gewesen“, freute sich MdB Dyonis Jobst (CSU). Allein die PDS-Abgeordnete Dagmar Enkelmann warnte hingegen vor den Folgen, welche die Privatisierung mit sich brachte. „Der Profit ist für eine private AG das Maß aller Dinge. Da muss das Gemeinwohl zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Ausdünnungen und Stilllegungen sind die Folge“, erklärte Enkelmann. Kurz zuvor waren bereits die Bundesanstalt für Flugsicherung sowie die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahnen privatisiert worden. 1994 stellte der Bundestag die Weichen für eine Privatisierung der Deutschen Bundespost mit ihren drei Säulen Post, Telekom und Postbank. Somit wurden Bereiche, die zuvor von der öffentlichen Hand abgedeckt wurden, für das private Kapital geöffnet.
Neben der Gründung der Deutsche Bahn AG (DB AG) am 1. Januar 1994 in Form einer privaten Aktiengesellschaft, drängten seit Anfang der 1990er Jahre die führenden Gremien der EG bzw. EU unter dem Druck der Bundesregierung zu einer zunehmenden Öffnung des Schienenverkehrs für den "Wettbewerb". Der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) wurde nun in die Verantwortung der Länder und Regionen gelegt. Diese sollten von nun an selbst bestimmen, welche Eisenbahnunternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen zum Zuge kommen würden. Seither bekamen zunehmend Billiganbieter wie Abellio, Netinera, Go Ahead und Transdev, welche Ableger internationaler Konzerne und europäischer Bahngesellschaften waren und sind, den Zuschlag. Prekäre Arbeitsbedingungen breiteten sich aus.
Beim Güterverkehr sieht es nicht besser aus. So wurden nach der "Bahnreform" zahlreiche Güterbahnhöfe geschlossen und im großen Umfang Arbeitsplätze zerstört. Hier reißen sich Privatbahnen um lukrative Fernverbindungen zwischen Seehäfen und großen Industriestandorten. Im Güter- und Regionalverkehr hat die DB zunehmend Marktanteile verloren. In beiden Sparten dürfte der Anteil der DB derzeit bei 50 bis 60 Prozent liegen. Im europaweiten Vergleich hat Deutschland nach Großbritannien und Schweden den am weitesten liberalisierten Schienenverkehr. Der Dumpingwettbewerb wurde auf dem Rücken der Beschäftigten und Kunden ausgetragen. Der Rückzug aus der Fläche hält an, während immer mehr Güter über verstopfte Straßen rollen.
Mitte der 1990er Jahre folgte die zweite Stufe der "Bahnreform". So wurde der DB-Konzern in fünf große Tochterunternehmen für die Geschäftsbereiche Netz und Infrastruktur, Personenbahnhöfe, Güterverkehr, Personennah- und Fernverkehr aufgespalten. Später entstanden bis zu 300 Töchter unter dem Dach der Deutschen Bahn. Viele diese DB-Töchter mit eigenem Management stellten sich gegenseitig Leistungen in Rechnungen und konkurrierten oftmals anstatt miteinander zu arbeiten. Über die Jahre sind hier mehr Bürokratie und Koordinierungsmängel entstanden. In dieser Zeit wurden in den DB-Chefetagen vor allem Techniker und Fachkräfte, die im System Eisenbahn eine Lebensaufgabe sahen, durch neu angeheuerte Betriebswirte und Juristen verdrängt. Nun wurde jeder Meter Gleis und andere Bestandteile des Eisenbahnbetriebes kritisch unter die Lupe genommen. Was nicht rentabel oder nützlich erschien, wurde stillgelegt. Neben Weichen und Ausweichgleisen wurde die Kapazität des Netzes drastisch abgebaut. Seit 1994 wurden 5400 Kilometer bzw. 16 Prozent des deutschen Schienennetzes stillgelegt. Die Folgen dieser Politik waren Rückzug aus der Fläche und Abbau von Arbeitsplätzen.
Zwei Wege der Privatisierung
Ab der Jahrtausendwende orientierte der mit einem Blankoscheck von der Bundesregierung des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder ausgestattete DB-Chef und ehemalige Luftfahrtmanager Hartmut Mehdorn den Bahnkonzern auf einen Börsengang. Um die Bahn "börsenfähig" und für private Investoren attraktiv zu machen, wurden über die Jahre wichtige Investitionen nicht getätigt und bei Mensch und Material noch mehr gespart. Unter Mehdorn wurden weltweit Bahn- und Logistikunternehmen durch die Bahn AG aufgekauft. Diese Auslandseinkäufe sollten der DB den Status als „Global Player“ sichern. Im Schienenverkehr wurden die Hälfte aller Weichen entfernt, weswegen viele Schienen heutzutage nur noch eingleisig befahrbar sind, was zu vielen Verspätungen führt. Die Verkehrspolitik ließ dem DB-Management hier freie Hand. Der Börsengang sollte durch Co-Management mit der Führung der DGB-Eisenbahnergewerkschaft TRANSNET und ihrem Chef Norbert Hansen geschehen. „Norbert und ich haben früher die Revolution geplant, die wir heute gemeinsam verhindern müssen“, erklärte Kanzler Schröder 2004 beim TRANSNET-Gewerkschaftstag. Der für 2008 geplante Börsengang kam jedoch nicht zustande. Die damalige Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD wollte die für den Transport und Service zuständigen Töchter, welche unter dem Tochterkonzern DB Mobility Logistics (DB ML) gebündelt wurden, an der Börse verscherbeln. Nur der Einbruch der Weltwirtschaftskrise 2008/09 verhinderte letztendlich die Kapitalprivatisierung. Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) zog die Notbremse und drängte den DB-Vorstand, das Vorhaben in letzter Sekunde abzublasen. Der Börsengang wurde vorerst gestoppt und schließlich auf ungewisse Zukunft verschoben. Allerdings waren zuvor bereits profitable DB-Tochterunternehmen wie die Deutsche Eisenbahn-Reklame, die Ostseefährgesellschaft Scandlines oder die für den Telekommunikationsbereich zuständige DBKom sowie Ausbesserungswerke, Eisenbahnerwohnungen und Bahnhöfe an Private verscherbelt worden. Wenig später trat Mehdorn wegen eines Skandals im Zusammenhang mit der Beschnüffelung von Mitarbeitern als Bahnchef zurück.
Obwohl der Börsengang der Bahn in letzter Sekunde verhindert werden konnte, gibt es wenig zum Feiern, denn rund zehn Jahre später hat sich die Situation bei der Deutschen Bahn keineswegs zum Besseren gewandelt. Die Prognose von Heinz Dürr, eine private Bahn würde pünktlicher, besser und kundenfreundlicher sein, hat sich nicht bestätigt. So kamen im Oktober 2018 nur 73 Prozent aller ICE-Züge im Fernverkehr pünktlich an. Real dürfte der Durchschnitt tiefer liegen, denn ausgefallene Züge oder Verspätungen bis zu sechs Minuten werden hier gar nicht erst mit einberechnet. Zum Jahreswechsel war nur jeder fünfte ICE-Zug voll funktionsfähig. Im Sommer 2013 wurde der Betrieb im Mainzer Hauptbahnhof wochenlang gelähmt, weil mehrere Fahrdienstleiter im Stellwerk im Urlaub oder krank waren und qualifizierter Ersatz nicht vorhanden war. Als im Sommer 2017 ein Tunneleinbruch in Rastatt eine der wichtigsten Bahnstrecken Europas wochenlang blockierte, wurde deutlich, dass es keine Ausweichstrecke oder einen Plan B gab. Der Sparkurs unter Mehdorn hat Flurschäden angerichtet und die Folgen sind bis heute spürbar. Die Mängel und Defizite sind vor allem einem riesigen Investitionsstau der DB AG geschuldet. Inzwischen, 2019, sind bei der DB, welche 1994 schuldenfrei an den Start ging, neue Schulden in der Höhe von 20 Milliarden Euro aufgelaufen.
Im Regionalverkehr, wo die DB Regio zunehmend von Privatbahnen verdrängt wurde und durchweg Marktanteile verliert, sieht es nicht besser aus. Hier zeigt sich immer wieder, dass viele dieser "Wettbewerbsbahnen" nicht in der Lage sind, einen zuverlässigen Bahnverkehr durchzuführen. So ließen Abellio in Sachsen-Anhalt und Thüringen ebenso wie die Hessische Landesbahn (HLB) in Hessen, Go Ahead in Baden-Württemberg sowie die Mittelrheinbahn in Rheinland-Pfalz in den vergangenen Monaten zahlreiche Regionalzüge ausfallen und begründeten dies mit "Lokführermangel". Ähnliche Klagen von Kunden über Ausfälle, Pannen, defekte Toiletten und Klimaanlagen und mangelnde Informationen bei privaten Regionalbahnen kommen faktisch aus dem gesamten Bundesgebiet. In Rheinland-Pfalz haben entnervte Nutzer der privaten Vlexx-Bahn eine eigene Facebook-Seite eingerichtet, um Dampf abzulassen und Informationen über Verspätungen zeitnah weiterzugeben.
Rückblickend brachte der Privatisierungsprozess der Deutschen Bahn fatale Folgen für Beschäftigte, Infrastruktur und Fahrpreise. Und dabei befindet sich der DB-Konzern noch zu 100 Prozent im Bundesbesitz. Bürgerliche Politiker versuchen hingegen mit billigen Ausreden von ihrem eigenen Versagen abzulenken. So sei es nicht die Schuld des Ministerpräsidenten, sondern die der Deutschen Bahn, wenn in Hessen Bahnstrecken fehlten, erklärte der hessische Ministerpräsident und Flug- und Autolobbyist Volker Bouffier (CDU) im Oktober 2018.
Obwohl der Koalitionsvertrag der aktuellen GroKo-Regierung keine Privatisierung oder Aufspaltung der Bahn vorsieht, brachte der Grünen-Politiker Anton Hofreiter diese Idee wieder auf die Tagesordnung. Wie tief die einstige Öko-Partei im bürgerlichen Lager versunken ist, zeigte die Forderung ihres Fraktionsvorsitzenden nach einer Trennung von Bahnbetrieb und Infrastruktur sowie einer Privatisierung der DB-Töchter Schenker und Arriva. Hier befindet sich Hofreiter ganz auf einer Linie mit FDP, GDL und Wirtschaftsverbänden. Diese Linie der Privatisierung ist eine Art Gegenmodell zu dem von Hartmut Mehdorn, welcher den DB-Konzern zum Großteil an der Börse verscherbeln wollte. Nach ihrem Modell soll das Netz und die Infrastruktur in öffentlicher Hand bleiben und für private Anbieter nutzbar sein. Dies ist reine Rosinenpickerei und deckt sich völlig mit dem Modell der Privatisierung der Bahn in Großbritannien. Was Hofreiter und Co. jedoch verschweigen ist, dass die Bahnprivatisierung jenseits des Kanals, die vor 25 Jahren vollendet wurde, erhebliche Nachteile für Beschäftigte, Kunden, Infrastruktur und Umwelt mit sich gebracht hat. Eine Wiederverstaatlichung und Zusammenfügung des fragmentierten Eisenbahnwesens, welche mittlerweile von drei Vierteln der Bevölkerung befürwortet wird, ist eine zentrale Forderung im Programm des linken Labour-Chefs Jeremy Corbyn.
Für Sozialisten ist und bleibt der Schienenverkehr ein Rückgrat einer sozialen und ökologischen Verkehrsinfrastruktur für Personen und Güter. Statt Dumping- und Verdrängungswettbewerb brauchen wir die Vereinigten Staatsbahnen Europas in öffentlicher Hand und unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten und der Bevölkerung. Die Forderung nach einer „Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats“ von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 ist nicht nur hochaktuell, sondern auch absolut notwendig.
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