Verschuldung
Allein in den USA wird der Schuldenstand Ende dieses Jahres um 2,5 Billionen Dollar gegenüber Mitte 2008 angestiegen sein. Zum Vergleich: Mit dieser Summe könnte man 20% aller Unternehmensanteile von US-amerikanischen Firmen erwerben. Und der IWF geht davon aus, dass die Schulden gemessen am BIP bis 2014 weiter steigen werden. Die Strategen des Kapitals haben sich mit diesen Maßnahmenpaketen in nicht erkundetes Gewässer begeben. An mehreren Fronten treten sie der Krise entgegen: Erstens wurde den Banken unter die Arme gegriffen: Sie bekamen Eigenkapitalspritzen und Garantien für ihre Kredite. Zweitens sollen erhöhte Staatsausgaben den öffentlichen und privaten Konsum beflügeln: Infrastrukturprojekte werden vorgezogen, Verschrottungsprämien für Altautos eingeführt, die Lohnsteuer gesenkt usw. Und drittens werden auch auf der Ebene der Zentralbanken alle Register gezogen. Zunächst wurden die Zinsen, zu denen sich Banken Geld von der Zentralbank leihen können, auf 0-1% gesenkt. Allerdings konnte dadurch die Kreditvergabe nicht angekurbelt werden, weil den Banken die Vergabe von neuen Krediten im großen Umfang während einer Rezession als zu unsicher erscheint.
Diese Weigerung der Banken, die gesunkenen Zinsen weiterzugeben, ließ die Zentralbanken der USA, Großbritanniens und der Euro-Zone zu außergewöhnlichen Methoden greifen. Sie kaufen direkt faule Kredite auf, um Banken von ihren Altlasten zu befreien. Damit werden die Verluste der Banken der Allgemeinheit aufgehalst. Und schließlich kaufen die Zentralbanken Staatsanleihen ihrer eigenen Regierungen, welche dadurch ihre Schulden zum Teil durch frisch gedrucktes Geld finanzieren. Niemand weiß, wohin dermaßen massive staatliche Eingriffe führen werden. Eine ganze Reihe von Gefahren zeichnet sich ab: Erstens könnte die stark ausgeweitete Geldmenge zu Inflation führen, sobald die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Das hätte für die Regierungen den angenehmen Nebeneffekt, dass der Schuldenberg mit zunehmender Inflationsrate zusammenschmilzt.
Eine zweite Gefahr stellt die Zahlungsunfähigkeit ganzer Volkswirtschaften dar: Staaten könnten in eine Schuldenfalle geraten, weil sie immer neue Kredite zu immer schlechteren Bedingungen aufnehmen müssen, nur um alte Forderungen zu begleichen. Das könnte unter anderem zu einer Zerreißprobe des Euros führen, falls sich einzelne Staaten wie Griechenland, Irland oder Portugal als zahlungsunfähig erklären müssen. Schon heute müssen diese Länder viel höhere Zinsen als vergleichsweise sichere Länder wie Deutschland zahlen. Die gegenwärtige Situation ist zu instabil, um Vorhersagen über den genauen Verlauf der Krise zu machen. Eines lässt sich aber aus theoretischer Sicht bereits mit Sicherheit sagen: Trotz ihres riesenhaften Umfangs werden die jetzigen Krisenpakete das Problem nicht lösen können. Denn durch die Krisenpakete werden nur die Symptome bekämpft, nicht aber die Ursachen.
Krise der Kapitalverwertung
Im Kern ist die gegenwärtige Krise eine Krise der Kapitalverwertung: Die Kapitalisten investieren nicht, weil sie zu viele Produktionskapazitäten angehäuft haben. Die spekulativen Blasen waren nur Ausdruck dieses tiefer liegenden Problems, und das niedrige Konsumenten- und Investorenvertrauen spiegelt nur die sich tatsächlich verschlechternde Lage wider. Damit ein neuer kapitalistischer Investitionszyklus in Gang kommt, müssen die schwächsten Marktteilnehmer vernichtet werden und die unrentabelsten Anlagen verkleinert bzw. ganz geschlossen werden. Aus Angst, die Wirtschaftskrise zu vertiefen, wollen die Regierungen diesen Weg nicht gehen. Auch die Angst vor einer Rebellion durch die Arbeiterklasse spielt hier eine wichtige Rolle. Mit Schrecken verfolgen sie die Nachrichten über neue Bossnappings. In China haben wütende Stahlarbeiter gar einen Manager gelyncht, als er eine Entlassungswelle ankündigen wollte. Um weiteren Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen, bleibt dem Kapital kurzfristig nur als Ausweg, die vorhandenen Überkapazitäten durch staatliche Stützungen aufrechtzuerhalten. Das Beispiel Japans zeigt, dass durch reine Niedrigzinspolitik und massiv gesteigerte Staatsverschuldung kein dauerhaftes Wirtschaftswachstum erreicht werden kann.
Nach dem Platzen seiner Immobilienblase Anfang der 1990er Jahre wurden die Zinsen soweit gesenkt, dass die Realzinsen teilweise sogar negativ waren. Die Staatsschuld erhöhte sich von 65% des BIP im Jahre 1990 auf heute 182%. Ohne viel Erfolg: Kurze Perioden schwachen Wachstums wurden immer wieder von Wirtschaftseinbrüchen gestoppt. Zeitgleich wurde aus der größten Gläubigernation der Welt innerhalb weniger Jahre der ihr größter Schuldner. Doch jetzt setzen die USA an, Japan diesen zweifelhaften Titel streitig zu machen.
Die Krise als Umverteilungsmaschine
Ein Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität eines Landes wirkt sich unmittelbar auf die Steuereinnahmen aus. Allerdings trifft die Krise die verschiedenen Klassen nicht gleichermaßen: Wenn die Lohnsumme sinkt, weil weniger Leute beschäftigt sind, sinken die Lohnsteuereinnahmen ungefähr im selben Verhältnis. Wenn die Profite der Unternehmen zurückgehen, oder gar Verluste entstehen, fallen die Steuereinnahmen in viel stärkerem Ausmaß.
Wie steht es mit der erhöhten Schuldenaufnahme? Ist es ein Umverteilungskonflikt „jung gegen alt“, wie uns die bürgerlichen Medien weismachen wollen? Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Schuldenpolitik nur eine perfide Form der Umverteilung von Arm zu Reich ist. Denn diejenigen, die investieren und die in Zukunft dafür Zinsen kassieren werden, entstammen durchaus nicht denselben sozialen Schichten, die diese Kosten hauptsächlich zu tragen haben werden. Wenn heute die Reichen und Superreichen einen Teil ihres Vermögens (entweder direkt oder in Form von Lebensversicherungen, Pensionsfonds etc.) in Staatstiteln anlegen, zählen sie darauf, dass diese Gelder in Zukunft durch höhere indirekte Steuern oder gekürzte staatliche Sozialausgaben aufgetrieben werden. Indirekte Steuern, wie z.B. die Mehrwertsteuer, werden auf die Preise der Güter und Dienstleistungen aufgeschlagen. Je reicher jemand ist, desto geringer der Anteil seines Einkommens, den er für tagtägliche Lebenskosten ausgeben muss. Jemand, der 1000 Euro verdient und davon 600 Euro ausgibt, zahlt z.B. 120 Euro Umsatzsteuer, d.h. 12% seines Einkommens. Wer 10.000 Euro netto verdient und monatlich 4.000 Euro ausgibt, muss lediglich 8% seines Einkommens für Umsatzsteuern ausgeben. Mit der Liberalisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen, die oft mit der Sanierung der Staatskassen einher geht, wird ebenfalls munter umverteilt. Und dann wäre da noch die Gefahr einer Inflationswelle, die die Ersparnisse der Arbeiterklasse aufzufressen droht. Geldentwertung wirkt dabei wie eine Steuer auf Geldbesitz. Der Effekt ist eine Umverteilung von Geldbesitzern zu den Besitzern von Immobilien, Fabriken und Rohstoffen. Die Kapitalisten werden versuchen, ihr Vermögen in einem sicheren Hafen anzulegen, während die Arbeiterklasse einen größeren Teil ihres Vermögens liquid verfügbar haben muss. Das Spiel mit der Inflation hat für die Bourgeoisie insofern einen Reiz, als die Arbeiterklasse nicht gegen die Erodierung ihrer Ersparnisse ankämpfen kann (wenn sie auch Lohnerhöhungen fordern kann, um die Kaufkraft ihrer Löhne zu erhalten).
Kapitalkonzentration
Wie jede Wirtschaftskrise führt auch diese zu einer beschleunigten Kapitalkonzentration. Die kleinen Fische werden von den großen gefressen, nachdem letztere durch großzügige staatliche Programme am Leben erhalten wurden. Denn einige große Banken und andere Finanzinstitutionen haben eine solche Größe erreicht, dass ihr Scheitern das gesamte Finanzsystem gefährden könnte. Damit haben sie ihre dominierende Rolle im Finanzsystem sogar noch ausbauen können (wenn auch einzelne Personen in diesen großen Institutionen aufgrund der Krisenverluste ihren Hut nehmen mussten – mit hohen Abfertigungen, versteht sich). Sie erinnern an einen Wahnsinnigen, der alles in die Luft zu sprengen droht, wenn man seinen Forderungen nicht nachkommt. Sie bekamen Unterstützungsgelder von Regierungen, um nicht zahlungsunfähig zu werden, während diese kleinere Institute nicht retten wollten. Seit Jahresanfang sind in den USA bereits 64 US-amerikanische Kreditinstitute zusammengebrochen - allein 32 seit Anfang Juli. Und dabei stehen das große Bankensterben und eine weitere Übernahmewelle erst bevor. Doch die großen Fische mit den besseren Beziehungen nach Washington feiern fröhliche Urständ’.
Das Beispiel der ehemaligen Investmentbank Goldman Sachs, seit der Krise formell eine „normale“ Bank, spricht Bände: Vor weniger als einem Jahr noch knapp vor dem Ruin, konnte das Unternehmen im zweiten Quartal 2009 bereits einen Gewinn von 3 Mrd. US-Dollar ausweisen. Und das, obwohl das Unternehmen jene 10 Mrd. US-Dollar zurückgezahlt hat, die es als Kapitalspritze neben zahlreichen Kapitalgarantien erhalten hatte. Wie war dies möglich? Einerseits kam Goldman die Tatsache zugute, dass die Zentralbank frisches Geld zu niedrigen Zinsen zur Verfügung stellte. Anstatt in die Realwirtschaft zu investieren (was angesichts der Überkapazitäten für privatwirtschaftlich denkende Unternehmen keinen Sinn macht), investierte man lieber auf den Aktien- und Rohstoff märkten, wo sich eine neue Blase formierte. Andererseits, und hier machte Goldman Sachs nach eigenen Angaben den Großteil seiner Gewinne, konnte die Bank durch die Vermittlung von Investitionsgeschäften gutes Geld machen. Durch den Zusammenbruch vieler Banken hat die Konkurrenz unter den Broking-Häusern abgenommen – und damit mussten viele Anleger eine höhere Differenz zwischen An- und Verkaufspreisen in Kauf nehmen.
Abgesehen von den Umverteilungseffekten zwischen den Klassen innerhalb der entwickelten kapitalistischen Staaten wirbelt die Krise auch die wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse auf internationaler Ebene durcheinander. Die USA haben in diesem Spiel den großen Vorteil, dass sie sich wie kein anderes Land international in ihrer eigenen Währung verschulden können. Das heißt, dass sie kein Wechselkursrisiko zu tragen haben und ihre Zinsbelastung der angehäuften Schulden durch eine Abwertung ihrer Währung nicht ansteigt. Umgekehrt kann etwa ein Land, das sich in der Vergangenheit auf Druck von IWF und Weltbank stark in Dollars verschulden musste, in eine Schuldenfalle geraten, wenn seine Währung gegenüber dem Dollar stark an Wert verlor. Ein Einbruch der Rohstoffpreise – die Haupteinnahmequelle vieler Länder, gerade in der so genannten Dritten Welt – könnte sein Übriges tun. Eine solche globale Schuldenkrise trug sich zuletzt Anfang der 1980er Jahre zu und festigte den Würgegriff der imperialistischen Staaten über ihre Peripherie. Hinzu kommt, dass die staatlichen Konjunkturspritzen als Subventionen an die „eigenen“ Industrien verwendet werden, um diese im internationalen Wettbewerb zu unterstützen. So können sich Staaten, die sich im internationalen Vergleich billiger über den Kapitalmarkt eindecken können, einen zusätzlichen Vorteil verschaffen.
Die Rolle der Arbeiterbewegung
Die Führung der Arbeiterparteien und Gewerkschaften steht der gegenwärtigen Krise völlig hilflos gegenüber. „Wenigstens“, so glaubt man die Gewerkschaftsbürokratie seufzen zu hören, „ist die Zeit des Neoliberalismus vorbei.“ Freudig werden die großen staatlichen Hilfspakete begrüßt, während man zähneknirschend die Rettung der großen Finanzinstitutionen zur Kenntnis nimmt. Jene vereinfachte Gegenüberstellung von Neoliberalismus auf der einen Seite und Keynesianismus auf der anderen verstellt dabei ihren Blick auf die gegenwärtige Situation - nachdem Attac und andere reformistischen Linke dies für über ein Jahrzehnt als die hauptsächliche Kontroverse dargestellt haben. Denn trotz der Tatsache, dass zumindest teilweise die Forderungen von Attac erfüllt werden (niedrige Zinsen, Erhöhung der Rolle des Staats), verschiebt sich das Kräfteverhältnis insgesamt deutlich zu Ungunsten der Arbeiterklasse. Das Entscheidende: Der „Staat“, wie er heute besteht, dient im Grunde nur als Umverteilungsmaschine für das Kapital - gerade auch in Krisenzeiten. Zwar würden heutzutage auch MarxistInnen staatliche Programme starten, um die Wirtschaft aus der Krise zu führen. Doch würden sie nicht einfach den Banken de facto zum Nulltarif Steuergelder in die Hand drücken, sondern die Rettung der Institutionen zum Anlass nehmen, sie in öffentliches Eigentum zu überführen und unter die Kontrolle der Beschäftigten und des Staats zu stellen. Ebenso würden MarxistInnen nicht versuchen, durch immer größere Kreditgeschenke die Kapitalisten zum Investieren zu überreden, sondern gemeinsam mit den Beschäftigten aller Branchen einen vernünftigen Produktionsplan ausarbeiten. Und anstatt immer neue Schulden bei den Kapitalbesitzern aufzunehmen, würden wir durch ein stark progressives Steuersystem das Kapital zur Kasse bitten, um die Umgestaltung der Wirtschaft zu finanzieren.
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