Kategorie: Deutschland |
|||
Warum nicht früher? |
|||
|
|||
Kurz vor Schluss, in der letzten offiziellen Plenarsitzung des Bundestags vor der Bundestagswahl am 24. September, haben sich SPD, LINKE und Grüne am 30. Juni 2017 im Bundestag mit dem Gesetz über die Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts zusammengerauft und sich gegen den Widerstand aus CDU und CSU durchgesetzt.
|
|||
|
|||
Vergessen wir nicht, wo dieser lange Kampf gegen Diskriminierung seine ersten großen Erfolge verzeichnete. Schon gleich nach der Oktoberrevolution 1917 schaffte die erste revolutionäre Regierung in Sowjetrussland diskriminierende Gesetze für Homosexuelle ab und legalisierte gleichgeschlechtliche Ehen. Der erste bekennende schwule Außenminister der Welt war nicht ein deutscher Liberaler, sondern der sowjetische Kommunist Georgi Tschitscherin. Erst die Stalinsche Konterrevolution schraubte diese Errungenschaften wieder zurück. In Deutschland musste erst ein Jahrhundert verstreichen, bis sich endlich eine Mehrheit der maßgeblichen politischen Akteure zur vollen Gleichberechtigung aufraffte. Manche Beobachter der Abstimmung im Reichstag werden sich an diesem Freitag verwundert die Augen gerieben haben. Da gibt es tatsächlich noch eine „rot-rot-grüne“ Mehrheit im Bundestag, die nicht nur auf dem Papier besteht, sondern wirkt. Plötzlich und unerwartet packte die SPD der Mut, aus dem Kadavergehorsam und der Loyalität gegenüber dem Koalitionspartner CDU/CSU und Kanzlerin Merkel auszubrechen und in Windeseile wichtige, fortschrittliche, längst überfällige Beschlüsse gegen den Willen der Union durchzusetzen. Plötzlich halten konservative Sozialdemokraten wie der Abgeordnete Johannes Kahrs nach Jahren der Unterwürfigkeit im Parlament flammende emotionale Reden gegen die Kanzlerin. Ein lesender Arbeiter wird sich fragen: Warum erst jetzt? Und warum wurde nur die „Ehe für alle“ zur „Gewissensfrage“ erklärt – also eine rechtliche Frage, die im Grunde dem Staat und der Kapitalistenklasse keine Kosten verursacht? Warum haben diese drei Parteien in den vergangenen Monaten mit ihrer Mehrheit nicht noch ganz andere Dinge durchgesetzt, die für Millionen Menschen aus der arbeitenden Klasse mindestens ebenso wichtig und existenziell sind? Vergessen wir in dieser schnelllebigen Zeit mit den sich überstürzenden Nachrichten nicht, dass in den vergangenen Wochen andere längst überfällige Gesetzesprojekte im Bundestag gescheitert sind. So war es sicher keine Sternstunde des Parlaments, als am 23. Juni 2017 der Bundestag einen Antrag der Linksfraktion zur Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen ablehnte. Dabei brennt dieses Problem vielen Beschäftigten auf den Nägeln, die sich von einem befristeten Job zum nächsten durchhangeln. Die Linksfraktion forderte in ihrem Antrag übrigens genau das, was Martin Schulz erst im Februar 2017 als designierter SPD-Chef und Kanzlerkandidat versprochen hatte. Doch in der Stunde der Wahrheit verließ die SPD-Fraktion im Bundestag der Bekennermut. Bis auf drei Enthaltungen stimmten alle SPD-Abgeordneten mit Nein. Die Grünen-Fraktion im Bundestag enthielt sich übrigens in der Frage sachgrundloser Befristungen – ein Hinweis darauf, dass wir diese bürgerliche einstige Ökopartei keinesfalls als festen Teil irgend eines „fortschrittlichen Reformblocks“ betrachten können. Auch in anderen Fragen lehnte die SPD-Fraktion in den vergangenen Wochen Anträge der Linksfraktion ab, die wortwörtlich der SPD-Programmatik und den Aussagen von Martin Schulz entsprechen. So wäre es rein rechnerisch genau so rasch möglich gewesen, Armutsrenten und Leiharbeit zu bekämpfen, den Anspruch auf Arbeitslosengeld I deutlich zu verlängern, das Rückkehrrecht in eine Vollzeitstelle sowie viele andere kleine aber wichtige Verbesserungen im Bundestag beschließen und damit spürbare Fakten zu setzen. Davon hätten SPD und LINKE gleichermaßen profitieren können. Kein Mensch weiß derzeit, wie der nächste Bundestag nach dem 24. September aussieht und ob nicht vielleicht sogar ein „Bürgerblock“ aus CDU/CSU, FDP und AfD eine Mehrheit der Sitze gewinnt und das Kapital dann in die Offensive geht. Die Abstimmungsniederlage bei der „Ehe für alle“ kann Merkel (sie stimmte persönlich mit Nein!) locker wegstecken. Schließlich ist das Thema jetzt „gegessen“ und belastet den Wahlkampf nicht mehr. „Wir sind an den Koalitionsvertrag gebunden, der gleiches Stimmverhalten im Bundestag vorschreibt“, argumentieren sozialdemokratische Parlamentarier. „Lieber CDU/CSU, Merkel und das Kapital vor den Kopf stoßen als die arbeitende Bevölkerung“, halten wir entgegen. Ach hättet ihr doch vor wenigen Wochen bei der hastigen Grundgesetzänderung und dem Einstieg in die Autobahnprivatisierung solche Skrupel an den Tag gelegt, liebe SPD-Führung! Denn diese Türöffnung für eine Megaprivatisierung stand in keinem Koalitionsvertrag und in keinem SPD-Programm drin. 33.000-SPD-Mtítglieder unterschrieben eine Petition gegen die Privatisierung. Doch das Paket wurde im Interesse der Banken und Versicherungen durchgeboxt. Damit wurden noch vor dem SPD-Programmparteitag am 25. Juni vollendete Tatsachen geschaffen. Die Erfahrung mit den Spitzen von SPD und Grünen zeigt, wie utopisch und realitätsfremd Hoffnungen auf ein „rot-rot-grünes“ Reformprojekt sind. Sobald handfeste Forderungen aufkommen, die den Staat oder das Kapital etwas kosten, sind sie offenbar nicht zum Konflikt mit den Mächtigen bereit. Wir brauchen eine starke Linksfraktion im nächsten Bundestag und eine offensive sozialistische Opposition. Und wir dürfen uns von der scheinbaren Stabilität im Lande nicht einlullen lassen. Auch hierzulande steuern wir auf eine tiefe gesellschaftliche Krise zu. Daher müssen wir eine marxistische Alternative in der linken und Arbeiterbewegung aufbauen, die sich auf die bevorstehenden großen Konflikte vorbereitet. |
Damit ist die „Ehe für alle“ nach langer Blockade durch die Konservativen endlich beschlossen und endet die rechtliche Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Diese namentliche Abstimmung ist rund 48 Jahre nach dem ersten „Christopher Street Day“ in New York ein Erfolg für alle, die seit Jahrzehnten Druck von unten für Gleichberechtigung aufgebaut haben.