Christine Lagarde vom IWF nannte dies „eine gute Nachricht für die Weltwirtschaft.“ Aber stimmt das wirklich? Tiefere Ölpreise sollten Einsparungen ermöglichen, die an die Verbraucher weitergegeben werden. Das würde die Nachfrage stärken und die sogenannte „Erholung“ der Weltwirtschaft ankurbeln.
In Wirklichkeit ist der Preisfall Teil eines viel komplizierteren Bildes. Seine Ursache liegt hauptsächlich im Abflauen der Weltwirtschaft, insbesondere der chinesischen Wirtschaft. Das ist die Folge der weltweiten Überproduktionskrise, welche in Chinas Fall von historischen Staatsinterventionen begleitet wurde. 586 Milliarden Dollar wurden 2009 als riesiges Investitionsprogramm in die chinesische Wirtschaft gepumpt, damit sich das Karussell weiterdreht. Gewaltige Infrastrukturprojekte wurden eingeleitet, um den Arbeitsmarkt zu stabilisieren und Investitionen anzuziehen. Der Effekt von Chinas Abenteuer mit dem Keynesianismus endet nun. Das BIP-Wachstum ging auf 7% zurück. Europa und Japan, zwei seiner Hauptexportmärkte, befinden sich in einer rezessiven Phase und kaufen nicht mehr. Das wirkt sich auch auf die chinesische Wirtschaft aus. Das Abschwächen der Weltwirtschaft kündigt eine neue Phase in der Krise des Kapitalismus an. Ihre Wurzeln liegen in der vergangenen Periode. Der Rückgang der Ölnachfrage wurde von einem vergrößerten Angebot begleitet. Dieses ist insbesondere durch die Entwicklung der Schieferöl-Industrie entstanden. Schieferöl Das teurere und aufwändiger zu fördernde Schieferöl wurde in den Jahren nach der Krise 2008 vor allem in den USA entwickelt. Seit 2010 wurden 20.000 neue Quellen erschlossen - doppelt so schnell wie in Saudi Arabien, dem weltweit größten Ölproduzenten. Die notwendigen Kapitalinvestitionen für die Neuerschließung dieser Branche kamen aus dem Kapitalüberschuss, welcher sich nach dem Crash von 2008 akkumulierte. Als Folge der „Überkapazität“ suchten Investoren nach Anlagen außerhalb der Privatwirtschaft. Die Börse und Luxusgüter boomten in einer Periode der Austerität und Rezession. Kapital floss auch in die Entwicklung der Schieferöl-Industrie, welche bis dahin als finanziell unrentabel galt. Diese Investition erwies sich als sehr lukrativ, da China mit seinem Investitionspaket die Nachfrage antrieb. Der hohe Ölpreis machte Investitionen in Schieferöl attraktiv. In dieser Zeit steigerte die Schieferöl-Industrie ihre Produktion um ein Drittel auf 9 Mio. Barrel pro Tag. Handelskrieg Der Aufstieg der US-Ölindustrie hat einen Handelskrieg mit Saudi Arabien, dem Führer der OPEC-Staaten, ausgelöst. Als der Ölpreis diesen Sommer aufgrund der abschwächenden Weltwirtschaft zu sinken begann, entschieden die Saudis, die Produktion nicht unter die vereinbarten 30 Mio. Barrel pro Tag zu senken. Im Kapitalismus häufen sich Neueintritte in einen Markt, in welchem eine hohe Nachfrage existiert und große Profite gemacht werden können. Typischerweise kommen diese Neueintreter mit einem Wettbewerbsvorteil und ausgerüstet mit den neusten Produktionstechniken. Wenn der Preis durch die Produktion sinkt, sichern sich jene mit der produktivsten Technik den größten Anteil am Markt. Schieferölförderung ist zwar auf dem Höchststand der Technik, aber sie ist weit davon entfernt, kosteneffektiv zu sein. Die Produktionskosten sind höher als bei herkömmlicher Ölförderung, deshalb auch das ursprüngliche Zögern der Investoren. Der von OPEC organisierte Preissturz geht sogar unter die Produktionskosten der traditionellen Methoden. Aber es sind die „jungen Amerikaner“, die nun unter Druck stehen. Die Saudis beabsichtigten, der Schieferöl-Industrie zu schaden. Das wurde vom Ölminister Kuwaits (einem OPEC-Land), Ali Al Omair, bestätigt. Er sagte, die Produktion hoch zu halten sei beabsichtigt, um Marktanteile zu halten, auch wenn das „einen negativen Einfluss auf die Preise“ hätte. OPEC ist bereit, dies in Kauf zu nehmen, auch wenn es kurzfristig Verluste verursacht. Saudi Arabien besitzt 750 Mrd. Dollar an Fremdwährungsreserven, welche sie benutzen, um den Preiskampf auszufechten. Öl-Einnahmen machen 85% der Exporte Saudi Arabiens aus. Trotz ihrer großen Reserven bedeutet ein Ölpreis von $60, dass ein Defizit von 14% des BIP entstehen wird, so Moody. Das heißt, dass die Regierung viele soziale Programme, welche unter dem Druck der Arabischen Revolution zugestanden wurden, zurücknehmen muss. Internationale Beziehungen Es handelt sich hierbei jedoch nicht nur um einen Wirtschaftskrieg, sondern auch um internationalen Machtpoker. Die Entwicklung von Schieferöl hat den US-Anteil der Ölproduktion gesteigert, was Washington unabhängiger von Saudi Arabien macht. Das ist gegen die Interessen des saudischen Königshauses. Iran und Venezuela, beides OPEC-Mitglieder, bettelten Saudi Arabien an, die Produktion unter die vereinbarten 30 Mio. Barrel pro Tag zu senken. Beide Länder sind für ein ausgeglichenes Budget auf einen hohen Ölpreis angewiesen. Aber die Saudis wollen auch den wachsenden Einfluss Irans, ihres traditionellen Rivalen, einschränken. Die USA verhandelten ernsthaft mit dem Iran und stützen sich im Kampf gegen ISIS faktisch auf ihn. Saudi Arabien versucht, einen Keil zwischen die beiden zu treiben, indem es die iranische Wirtschaft schädigt. Der Iran ist auf einen Tagespreis von $140 pro Barrel angewiesen, um sein Budget auszugleichen. Und indem sie die US-amerikanische Schieferöl-Produktion an den Rande des Ruins treiben, können die Saudis ihren Einfluss auf die USA wieder vergrößern. „Der Hauptgrund dafür ist eine politische Verschwörung gewisser Staaten gegen die Interessen der Region und der islamischen Welt und dies liegt nur im Interesse bestimmter Länder“, sagte der iranische Präsident Rouhani seinem Kabinett am 10. Dezember. „Die Saudis behaupten, weder sie noch OPEC als ganzes könnten den Preis festsetzen - das stimmt. Aber protestieren sie nicht zu viel, während sie nichts tun, um die Geschwindigkeit des Preissturzes aufzuhalten? Es ist nicht nur so, dass es das Kartell der ölfördernden Länder, wo Saudi Arabien den Ton angibt, auf seinem Treffen im letzten Monat abgelehnt hat, die Fördermenge zu reduzieren. Bis letzten September erhöhten die Saudis das Angebot sogar noch“ (Financial Times, 9. Dezember). Dies zeigt, dass die Saudis ein gut berechnetes Spiel spielen. Gemäß Financial Times sagte ein hoher Saudi-Beamter letzten Sommer zu US-Außenminister John Kerry: „IS ist unsere [sunnitische] Antwort auf Ihre Unterstützung von Da’wa.“ Da’wa ist die vom Iran unterstützte, schiitische Regierungspartei des Iraks. Der von OPEC geführte Preiskrieg scheint sich für die Saudis auszuzahlen. Der Economist sagte am 8. Dezember eine Welle von Bankrotten in der Schieferöl-Industrie voraus. Die Firmen hätten mehr Geld in neue Quellen investiert als sie eingenommen hätten. Der Preiskrieg hat auch einen Effekt auf die Ölindustrie als Ganzes. Oasis Petroleum und Goodrich Petroleum, zwei stark verschuldete Ölproduzenten, mussten Kürzungen in ihrem Investitionsbudget für 2015 ankündigen. ConocoPhillips wird sein Investitionsbudget im nächsten Jahr um 20% kürzen. Das Beratungsunternehmen Energy Aspects sagt voraus, dass 12% der weltweiten Ölproduktion bei den heutigen Preisen „unwirtschaftlich“ werden. Am 16. Dezember schrieb die Financial Times: „Fast eine Billion US-Dollar an Investitionen in zukünftige Ölprojekte sind nach dem dramatischen Fall des Rohölpreises auf fast $60 pro Barrel und Tag gefährdet, warnt Goldman Sachs.“ Goldman warnte davor, dass Ölfelder mit einem Output 2.3 Mio. Barrel pro Tag bis 2020 unwirtschaftlich würden. Und das beinhaltet explizit nicht die kostenintensivere Schieferöl-Produktion. Aktien von ExxonMobil fielen in den letzten sechs Monaten um 15%, die von Chevron um 21% und ConocoPhillips stürzten im selben Zeitraum um 26% ab. Spannungen in der Weltwirtschaft Jenseits der Schiefer- und konventionellen Ölindustrie offenbart der Preisabsturz tieferliegende Spannungen in der Weltwirtschaft. Die Auswirkungen auf China zeichnen ein widersprüchliches Bild. Obwohl es der viertgrößte Ölproduzent der Welt ist, ist Chinas Verbrauch so groß, dass es zum Ölimporteur wird. Im letzten Jahrzehnt stieg die Produktion um 750.000 Barrel pro Tag, aber der Verbrauch stieg um 3.7 Mio. Barrel pro Tag. Dies widerspiegelt die gewaltige Entwicklung des chinesischen Kapitalismus in diesem Zeitraum. Gleichzeitig verschärfen sich Chinas innere Widersprüche. Abgelegene, rohstofffördernde Regionen verlieren wegen dem tiefen Ölpreis, während Chinas energieintensive Industriegebiete an der Küste profitieren. Dies vergrößert die Polarisierung und erhöht den Druck auf die Budgets einiger regionaler Provinzen. An der Grenze zu Sibirien, in der nordöstlichen Provinz Heilongjiang, wo Chinas größtes Ölfeld liegt, streikte bereits das Lehrpersonal. Die Lokalregierung war wegen der schlechten Jahresrechnung nicht in der Lage, die Löhne zu erhöhen, was zu diesem Aufschwung des Klassenkampfs führte. In Russland machen Öl und Gas mehr als 75% der Exporteinnahmen und die Hälfte der Haushaltseinnahmen aus. Die Krise des russischen Kapitalismus führte zur Besteuerung von Offshore-Vermögen und traf somit Teile der eigenen Bourgeoisie, welche ihr Geld aus der russischen Wirtschaft abzog. „Diese Kampagne wurde dringend notwendig, da die westlichen Sanktionen, fallende Ölpreise und die abstürzende Währung die Kapitalflucht ankurbelten und die Haushaltskasse leerte.“ (FT, 19. November) Die russische Zentralbank rechnet mit einer Kapitalflucht von 128 Mrd. Dollar im Jahr 2014, doppelt soviel wie im Vorjahr. Von Juni bis Ende November verlor der Rubel 27% an Werte. Am 16. Dezember fiel der Rubel um 20% gegenüber dem Dollar, der größte Preissturz an einem Tag seit 1998. Geldentwertung in Volkswirtschaften, welche von Ölexporten abhängig sind, ist ein Merkmal des aktuellen Preiszerfalls. Der Wert des Rubels ist dieses Jahr gegenüber dem Dollar um die Hälfte zurückgegangen. Damit ist er die am schlechtesten abschneidende Hauptwährung, noch vor der ukrainischen Hrywnja. Als Reaktion darauf erhöhte die russische Regierung die Zinsen auf 17%, um die Inflation und die Geldentwertung aufzuhalten. Die russische Zentralbank warnte, dass das BIP im nächsten Jahr um 4.5 bis 4.7% zurückgehen könnte, wenn der Ölpreis bei $60 bleibt. Der Fall des Rubels erhöht die drückende Last der 600 Mrd. Dollar Schulden, welche russische Banken und Firmen bei ausländischen Geldgebern haben. Die westlichen Sanktionen, die im Zuge des Ukraine-Konflikts verhängt wurden, erhöhen die Schwierigkeit, diese Schulden zu refinanzieren. Bis Ende 2014 beträgt die Inflation voraussichtlich 10%.
Teil II
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