Tektonische Verschiebungen ereignen sich in der Weltwirtschaft. Der Ölpreis fiel während der letzten sechs Monate dramatisch. Der Preis für Rohöl der Marke Brent stürzte auf unter $60 pro Barrel. Das entspricht einem Niedergang um fast 50% im Vergleich zum Tagespreis von $115 im Juni 2014. Dies läutet eine neue Phase in der Krise des Kapitalismus ein. Ihre Auswirkungen zeigen sich bereits überall in der Welt.
Krise in Europa
Der Preisverfall beeinflusst auch die Ukraine, wo Chevron sich aus einem geplanten Schiefergas-Projekt zurückzog. „Mit fallenden Ölpreisen, nicht so guten geologischen Befunden in benachbarten Ländern und der Ukraine, dem Risiko des Krieges und der wirtschaftlichen Instabilität wird der lang erhoffte Gasboom ausbleiben. Die damit verbundenen milliardenschweren Investitionen werden ausbleiben“; sagte Dmytro Marunich, ein ukrainischer Energieanalyst.
Dies ist ein Teil der Kapitalflucht, welche auch in Russland zu beobachten war, eine Reaktion auf die Krise, welche dadurch verschärft wird. Anfang Dezember 2014 verkündete der IWF, dass im 17 Mrd. Dollar schweren Rettungspaket für die Ukraine 15 Mrd. Dollar fehlen. Als Kompensation für die Deckung dieses Fehlbetrags werden die westlichen Regierungen weitere Reformen verlangen, weitere Reduktion der Arbeitskosten in der Ukraine.
Als Netto-Ölverbraucher bedeuten die fallenden Ölpreise für die Eurozone rückläufige Inflation. Die EU-Führung hoffte jedoch auf erhöhte Inflation. Diese hätte geholfen, die hohen Staatsschulden abzubauen. Nun droht Europa sogar das Gespenst Deflation, wie die Financial Times schrieb: „Oxford Economies schätzt, dass die Inflationsraten in 13 europäischen Ländern bei einem Ölpreis von 60 Dollar pro Barrel in 2015 zumindest zeitweilig unter null fallen werden… Die EU importiert 88% ihres Ölbedarfs, trotzdem ist die Freude über den Preisrückgang verstummt.“
Und weiter: „Aber Herr Draghi [Präsident der Europäischen Zentralbank] hat schnell erkannt, welches Risiko die Tendenz zur Deflation für die ohnehin schon alarmierend tiefen Inflationsraten in der EU darstellt. Viele Länder versuchten, durch Inflation ihre Schuldenlast zu mindern und ihren Budgetspielraum für Investitionen zu vergrößern. Herr Draghi warnte, dass der tiefe Ölpreis sich in tiefen Löhnen ‚ausdrücken‘ könnte.“
In Großbritannien fordert die Ölindustrie Steuerreformen um Investitionen zu begünstigen oder droht mit der Abwanderung. Malcom Webb, CEO der Oil & Gas UK, warnte die Regierung, dass ohne Steuererleichterungen „weite Teile des kontinentalen Ölfelds endgültig in den Abgrund getrieben werden“. Er fordert eine Umkehrung der Steuererhöhung um 12 Prozentpunkte aus dem Budget von 2011, welche den maximalen Steuersatz von Ölfirmen auf 81% festlegte. Sinkende Einnahmen aus Nordsee-Öl haben die Zinsen für die britische Regierung hochgetrieben. Der Kapitalismus in Großbritannien versucht nun, seine Ölindustrie zu Lasten der öffentlichen zu Ausgaben zu subventionieren.
In Libyen hat der Bürgerkrieg die Produktion auf 800.000 Barrel pro Tag halbiert. Dies hat jedoch wenig dazu beigetragen, den Preissturz aufzuhalten. Niedrige Ölpreise haben das Budgetdefizit auf die Hälfte des BIP aufgebläht. Mohammed El Qorchi vom IWF sagt, dass Libyen beim aktuellen Produktionsniveau auf Preise um $135 pro Barrel, deutlich über dem aktuellen Kurs, angewiesen ist, um sein Budget auszugleichen. Im Dezember 2014führten schwere Gefechte zur Stilllegung einer Kapazität von 350.000 Barrel pro Tag am Es Sider-Terminal. Dies belastete die libysche Wirtschaft zusätzlich.
80% von Nigerias Einnahmen sind abhängig von Öl. Das Land hat für 2015 ein Budget verabschiedet, das von einem Tagespreis von $78 pro Barrel ausgeht, denn im Februar stehen Wahlen an. Angesichts des stetig fallenden Ölpreises kündigte die Regierung Ende Oktober an, dass das Land höchstens für drei Monate von Reserven leben könne. Im Dezember fiel die nigerianische Währung, die Naira, auf ein Rekordtief von 187 pro US-Dollar, was das Potential für eine Inflation weiter anheizt. Diese wird die ärmsten NigerianerInnen am härtesten Treffen.
Auswirkung auf Südamerika
In Mexiko will der Staat 2015 insgesamt 169 Öl- und Gasföderpumpen verkaufen. Ein Merkmal eines Staatsbankrotts nach der Krise 2008 ist die Unfähigkeit zu finanziellen Investitionen. Ein weiteres ist der erhöhte Druck des Finanzkapitals auf die Regierungen, Staatsbesitz zu privatisieren. Während große Kapitalberge aufgrund fehlender profitabler Sektoren in der Privatwirtschaft ungenutzt bleiben, richtet der Kapitalismus seine Aufmerksamkeit vermehrt auf den Staat. Einmal mehr offenbart diese Form der Plünderung die kannibalische Natur des Kapitalismus in seinem Niedergang. Das System kann sich die Errungenschaften der Vergangenheit nicht länger leisten und muss diese stattdessen zurücknehmen.
In Mexiko ist dieser Prozess jedoch zum Stillstand gekommen. Anfang 2014 wurde Präsident Peña Nieto vom Times Magazine zum „Mann, der Mexiko rettete“ gekürt. Nun sind seine Privatisierungspläne steckengeblieben: „…Ölfirmen, mit ihrem belasteten Budget, werden möglicherweise sehr wählerisch sein, was sie kaufen. Möglicherweise werden gewisse Firmen ihre Offerte anpassen, damit die Regierung den Deal weiter versüßt.“ (Financial Times)
Genau wie in der Ukraine bedeutet ‚ein versüßter Deal‘, dass der Kapitalismus Investitionen anziehen und die Rechnung dafür den mexikanischen Arbeitern aufbürden will: Durch Kürzungen von Löhnen und Renten, durch Steuereinnahmen von gewöhnlichen MexikanerInnen sollen die Ölfirmen subventioniert werden. Dank der Massenbewegung, welche sich in den letzten Monaten gebildet hat, werden die mexikanischen ArbeiterInnen nicht so einfach bereit sein, das Angebot an die Ölfirmen zu „versüßen“. Der Peso fiel dementsprechend um 10% in den letzten vier Wochen. Dadurch wird das Feuer der mexikanischen Massenbewegung nur umso stärker entfacht werden.
Laut BP besitzt Venezuela die größten Ölreserven der Welt. 95% seiner Exporteinnahmen werden dadurch bestritten. Derweil ist die Inflationsrate bei 60%. Der IWF erwartet einen Rückgang der Wirtschaft um 3% in diesem Jahr. Analysten zufolge benötigt die venezolanische Wirtschaft einen Tagespreis von $80 pro Barrel. Venezuela wird dadurch das teuerste Land für Investitionen - die Kosten für eine Versicherung für venezolanische Schuldscheine vervierfachten sich seit Juni.
„Der Kollaps des Bolivar, der während der letzten Monate um mehr als 120% auf 178 pro Dollar auf dem Schwarzmarkt fiel, kombiniert mit der ansteigenden Inflation und Anleiherenditen deutet darauf hin, dass sich die venezolanische Wirtschaft in der Krise befindet“, sagt Capital Economics. Analysten von Ecoanalitica, einer Beratungsfirma aus Caracas, schätzen, dass das Land sogar auf einen Brent-Tagespreis von über 130$ angewiesen ist, um ein ausgeglichenes Budget zu präsentieren. Dies ist mehr als das Doppelte des aktuellen Marktpreises.
Anfang Dezember erreichte der US-Dollar seinen höchsten Punkt seit der Finanzkrise 2008. Während die US-Schieferöl-Industrie schwer getroffen ist, schwemmt der fallende Ölpreis 75 Mrd. Dollar auf den Markt. Das entspricht 0.7% des gesamten US-Konsums. Der Economist schätzt, dass der durchschnittliche US-Autofahrer in einem Jahr 800 Dollar einspart. Dies entspricht einer Gehaltserhöhung von 2%. Die USA enteilen vorübergehend dem Rest der Welt. Dies kann aber nicht unbegrenzt so weiter gehen. Die USA sind an den Weltmarkt gebunden und können dem Kapitalismus nicht entrinnen. „Sogar in den Vereinigten Staaten existiert ein Bewusstsein für die globale Wirtschaftsflaute. Es genügt nicht, schnell zu wachsen, wenn der Rest der Welt nicht dasselbe tut“, sagt Gilles Moec, der für Europa zuständige Ökonom bei Bank of America, Merrill Lynch.
Das Bankensystem
Ein Zeichen dafür, wie der fallende Ölpreis das Bank- und Finanzsystem beeinträchtigt, sind die schweren Verluste von Barclays und Wells Fargo auf ein Darlehen von 850 Millionen Dollar. Für das Darlehen an die US-Ölfirmen Sabine und Forest findet sich kein Käufer. Die drohenden Verluste belasten die Bilanz der Banken stark.
Beide haben die Expansion des Energiesektors vorfinanziert. Das Ergebnis ist laut Marty Fridson, Chefinvestor von LLF Advisors, dass 30% der ‚schlechten Wertpapiere‘ aus dem Energiesektor stammen. Barclays schätzt, dass der Energiesektor einen Anteil von etwa 15% am „Junk Bond Market“ hält. Vor zehn Jahren waren es noch 4.3%.
Aufgrund der schwachen Nachfrage in China und Europa schätzen gewisse Ökonomen den Öltagespreis von maximal 60 Dollar als ein stabiles Phänomen ein. Andere schauen auf den Ölpreisverfall und ziehen Parallelen zur Krise von 2008:
„… Es gibt deutliche Parallelen zum Kollaps des US-Immobilienmarkts, welcher 2008 die globale Finanzkrise einläutete - und den Finanzsektor auf den Kopf stellte. Anleger mit Ölanleihen in ihrem Portfolio könnten große Verluste bevorstehen. Aber Banken mit dem größten Einsatz in Hochrisiko-Märkten gehören zu den beliebtesten bei den Investoren. Wells Fargo zum Beispiel ist eine der am höchsten bewerteten Banken der Welt. Ihre Aktie stieg dieses Jahr um 23%. Es ist verlockend zu denken, dass ihr Fall - genau wie der anderer ‚Lieblinge‘ des post-Krisen-Finanzmarkts, wie Standard Chartered und BNP Paribas - kurz bevor steht.“ (Financial Times, 16. Dezember)
Der Ölpreisverfall verwirrt die Strategen der Bourgeoisie, die, wenn überhaupt mit einer Erhöhung des Ölpreises als Folge der Kriege im arabischen Raum und in der Ukraine gerechnet hatten.
Wer profitiert?
Unter gewöhnlichen Umständen sollte ein sinkender Ölpreis den Netto-Ölverbrauchern wie z.B. der Eurozone oder Japan nutzen. Ein Rückgang um 40 Dollar entspricht in der Weltwirtschaft einer Verlagerung von 1,3 Billionen Dollar von den Produzenten zu den Konsumenten.
Die Situation ist jedoch viel komplizierter. Billiges Öl dämpft die Inflation der Konsumenten. Bereits zeigen Prognosen, dass die EU ihr Ziel von 2% Inflation nicht erreichen wird. In Staaten wie die EU oder Japan, die hohe Schulden in ihren Bilanzen aufweisen, ist eine hohe Inflation für die kapitalistischen Strategen ein notwendiges Übel um die Verschuldung zu senken. Kurzfristig geht der Anstieg des Dollars auf Kosten anderer Volkswirtschaften zu Lasten der sogenannten „aufsteigenden Märkten“, welche einen großen Anteil der Schulden in Dollar halten. Für diese sind die Kosten ihrer Schulden gerade massiv größer geworden.
Volkswirtschaften wie Russland, Venezuela oder der Iran, welche vollständig vom Ölexport abhängig sind, sind an den Ölpreis gebunden. Diese Staaten werden, sehr zum Entzücken der US-Imperialisten, am härtesten getroffen werden. Der Wert dieser Volkswirtschaften fällt mit dem Ölpreis, ihre Währungen werden entwertet, die Importkosten steigen. Davon sind die Menschen an den Rändern der Volkswirtschaften am stärksten betroffen.
Insbesondere Russland erscheint nun als Riese mit tönernen Füssen. Die russische Volkswirtschaft befindet sich im freien Fall. Sergey Shvestov, stellvertretender Präsident der russischen Nationalbank sagte, die Situation wäre kritisch: „Vor einem Jahr hätte ich mir ein solches Szenario nicht einmal in meinen schlimmsten Albträumen vorstellen können.“(Financial Times, 17. Dezember)
Gegenströmungen und turbulente Zeiten stehen bevor
Trotz vieler Gegenströmungen in der Weltwirtschaft, und der typisch schizophrenen Reaktionen der Bourgeoisie, die in den Ozean der kapitalistischen Krise geworfen wurde, fasst die Financial Times die Situation in der Ausgabe vom 16. Dezember gut zusammen:
„Der Ölpreisverfall um 40% auf einen Tageskurs von $60 pro Barrel seit Juni2014 ist mit Abstand der größte Schock für die Weltwirtschaft in diesem Jahr. Ähnliche Episoden in der Vergangenheit zeigen uns, dass die Konsequenzen sehr wahrscheinlich tiefgreifend und lang anhaltend sein werden. Normalerweise würden Ökonomen ´positiv` hinzufügen, aber die Zweifel sind so stark wie nie zuvor. Das Ausmaß des aktuellen Ölschocks ist schwer zu übertreiben.“
Für uns MarxistInnen ist die Analyse der Wirtschaft insofern nützlich, um die Auswirkungen der Entwicklungen für den Klassenkampf zu bewerten. Die neue Phase der Krise eröffnet auch einen neuen Abschnitt dieses Kampfes. Die Periode von 2008 bis 2014 hat viele der einstigen Illusionen in den Kapitalismus zerstört. Die kommende Periode, welche eine noch turbulentere zu werden verspricht, wird die ArbeiterInnen international auf den Weg der Revolution führen.
19. Dezember 2014
Teil I
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