Kategorie: Theorie

Deutsche Perspektiven 2016

Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven und muss sich auf bevorstehende Ereignisse, Tendenzen und plötzliche Wendungen und Überraschungen vorbereiten. Teil II Vollständige Fassung zum Herunterladen. Ergänzende Aktualisierung 2017 hier einsehen.


Politische Perspektiven: Herrschende Klasse, ihr Staat und ihre Parteien

Allein auf sich gestellt könnte die Kapitalistenklasse ihre Macht nicht lange aufrechterhalten. Dazu braucht sie u.a. einen ihr ergebenen Staatsapparat, der in letzter Konsequenz immer das bürgerliche Privateigentum verteidigt (nach Engels ist der Staat der „ideelle Gesamtkapitalist“ und eine „besondere Formationen bewaffneter Menschen“). Sie braucht solide gesellschaftliche Stützen sowie eine griffige Ideologie, die den Kapitalismus als das beste aller Gesellschaftssysteme bzw. als „alternativlos“ darstellt und die Akzeptanz für das System begründet. Die herrschende Klasse ist über tausend Kanäle eng mit den klassischen, traditionellen bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP verflochten, die sich über Jahrzehnte in aller Regel auf (alte und neue) Mittelschichten und politisch rückständigere Teile der ArbeiterInnenklasse stützen können. Bis 1998 und dann wieder von 2009 bis 2013 errangen CDU/CSU und FDP zusammen bei Bundestagswahlen auch stets rein rechnerisch eine absolute Mehrheit.

Die deutsche Bourgeoisie hat eine höchst wechselhafte Geschichte hinter sich und ist insofern „mit allen Wassern gewaschen“. Sie hat in den letzten 100 Jahren fast alle möglichen Herrschaftsformen durchgespielt: von der Kaiserzeit über die Doppelherrschaft in der Novemberrevolution und verschiedenen Formen der bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie mit den unterschiedlichsten politischen Parteikonstellationen über Regimes des parlamentarischen Bonapartismus (Brüning-Papen-Schleicher 1930-33) bis zum Hitlerfaschismus 1933-45. Die Gründung des Deutschen Reichs 1871 kam historisch „zu spät“. Bei der Aufteilung der Kolonien und Einflusssphären geriet der deutsche Imperialismus ins Hintertreffen. Gleichzeitig erlebte die deutsche Industrie eine stürmische Aufwärtsentwicklung. Doch der Kampf um einen „Platz an der Sonne“ und der Traum von der Vorherrschaft in Europa endeten nach vier Kriegsjahren 1918 in einer Niederlage. Nach der Niederschlagung der Revolution 1918-23 und einer kurzen Stabilisierung des deutschen Kapitalismus suchte die 1929 hereinbrechende Weltwirtschaftskrise Deutschland besonders intensiv heim. Die Bourgeoisie ließ die demokratische, liberale Fassade fallen, heuerte schließlich den Faschismus (in Trotzkis Worten: „destillierter Imperialismus“) an, um zuerst die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und auf dieser Grundlage systematisch einen neuen Weltkrieg vorzubereiten. Der totale Krieg endete im Inferno und der totalen Niederlage des Hitlerfaschismus und deutschen Militarismus. Die Sowjetunion, die Hitler endgültig zertrümmern wollte, wurde zur Weltmacht, beherrschte die Osthälfte Deutschlands und Europas. Hier wurden schließlich Kapitalisten und Großgrundbesitzer enteignet und mit stalinistischen Mitteln eine Planwirtschaft eingerichtet. In Westdeutschland und Westeuropa allerdings wurde der Kapitalismus unter Anleitung der Besatzungsmächte und dank einer mäßigenden, konterrevolutionären Rolle der Führung der Arbeiterorganisationen gerettet und wieder aufgerichtet. In den 1950er Jahren setzte ein starker Aufstieg des westdeutschen Kapitalismus ein, der erneut Illusionen in „Wirtschaftswunder“, einen im Gewand der „sozialen Marktwirtschaft“ auftretenden Kapitalismus und Reformismus nährte.

Der in den 1950er Jahren eingeleitete europäische Einigungsprozess, die Aussöhnung mit dem „Erzrivalen“ Frankreich und die Bildung der Achse Frankreich-BRD waren vor allem der Erkenntnis geschuldet, dass der Bourgeoisie in beiden Ländern nach drei kräftezehrenden, verheerenden Kriegen nur die Wahl blieb, die kapitalistische Wirtschaft gemeinsam zu entwickeln und sich so gemeinsam auf dem Weltmarkt zu behaupten. So entstanden in Anlehnung an alte Pläne aus den 1920er Jahren Montanunion, EWG, EG und EU. Damit konnte das bundesdeutsche Kapital seine alten Kriegsziele einer Vorherrschaft in Europa mit „friedlichen“, wirtschaftlichen politischen und diplomatischen Mitteln in Angriff nehmen. Die BRD wurde treibende Kraft im europäischen Einigungsprozess, die exportorientierte deutsche Industrie und die Banken wurden Hauptprofiteur dieser Entwicklung. Dies erklärt auch die scheinbare „Europabegeisterung“ und Verteidigung der Einheitswährung Euro, die bis zum heutigen Tage bei der deutschen herrschenden Klasse mehrheitlich vorherrscht, auch wenn Teile von ihr schon längst einen Ausschluss einzelner schwächerer Länder aus der Eurozone fordern und entsprechende Szenarien als „Plan B“ in den Schubladen liegen.

Eine neue Phase wurde eingeleitet, als 1990 mit der Vereinigung bzw. dem Anschluss der DDR an die BRD Deutschland plötzlich auf über 80 Millionen Einwohner anwuchs und damit endgültig Frankreich ausstach. Die herrschende Klasse war auf die Implosion der DDR ab Ende 1989 nicht vorbereitet und hatte auch nicht mehr damit gerechnet, ergriff aber die Chance beim Schopfe. Mit dem Zusammenbruch der östlichen Planwirtschaften öffneten sich dem deutschen und europäischen Kapitalismus neue (alte) Märkte und ein billiges, williges und qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial. Der alte historische „Drang nach Osten“ kam wieder verstärkt zur Geltung. Dies förderte einen neuen Schub für die EU-Osterweiterung. Die Bourgeoisie schwelgte im Selbstbewusstsein und Glauben an ein „Ende der Geschichte“ und einen ewigen Sieg des Kapitalismus. Dies bildete den Nährboden für eine nie dagewesene neoliberale Offensive und ehrgeizige Pläne zur Vollendung der kapitalistischen Vereinigung Europas über EU-Erweiterung, Währungsunion und Durchdringung aller Staaten. Damit einher ging eine schrittweise Abkehr von der jahrzehntelangen erzwungenen Zurückhaltung in militärischen Fragen und Rückkehr zur Normalität der deutschen Kriegsbeteiligung und Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Über Jahrzehnte herrschte in der alten Bundesrepublik ein Drei-Parteien-System vor, wobei die großen „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD bei Bundestagswahlen zusammen immer deutlich über 80 Prozent der Stimmen errangen. Je nach Lage im Klassenkampf und Bedarf der herrschenden Klasse konnten CDU/CSU, SPD und FDP miteinander regieren, wobei die FDP als „kleine Partei des großen Geldes“ aus der Sicht der herrschenden Klasse immer flexibel eingesetzt wurde und 1982 als Ausdruck einer Radikalisierung nach rechts auch die SPD aus der Regierung entfernen und die CDU/CSU unter Kohl in die Regierung hieven konnte. Die FDP, die ab 1945 als wichtiges Auffangbecken für Ex-Nazis fungiert hatte, war in den 1950er Jahren und ist auch heute noch der „natürliche“ Partner der CDU/CSU. Ende der 1960er vollzog sie – nicht ohne Reibungsverluste, Austrittswellen und Krisen – einen Schwenk zur strategischen Kooperation mit der SPD. Vor dem Hintergrund einer erstarkten, selbstbewussten und kampfbereiten ArbeiterInnenklasse spielte die FDP ihre neue Rolle als Wachhund, der darauf aufpassen sollte, dass die SPD-Minister unter Druck ihrer Basis die Sozialreformen ja nicht zu weit trieben. Diese Alibifunktion der FDP wurde vom rechten, bürgerlichen SPD-Flügel um Helmut Schmidt durchaus gefördert. Anfang der 1980er Jahre löste dann eine tiefe Rezession mit weit über zwei Millionen Arbeitslosen in der Alt-BRD einen Stimmungsumschwung im Lager der herrschenden Klasse aus, der sich in den neoliberalen Eckpunkten des „Lambsdorff-Papiers“ niederschlug. Dieses Papier konnte damals von der SPD-Führung nicht mitgetragen werden und beschleunigte insofern das Ende der SPD/FDP-Koalition. Seine Inhalte wurden in 16 Jahren Kohl teilweise angepackt und dann noch konsequenter unter SPD und Grünen mit Kanzler Schröder an der Spitze zwischen 1998 und 2005 vor allem im Zuge der Agenda 2010 umgesetzt. Auch nach dem historischen Absturz der FDP unter die Fünf-Prozent-Hürde in der Bundestagswahl 2013 deuten viele Anzeichen darauf hin, dass die herrschende Klasse die FDP als politische Stütze und Sprachrohr nicht aufgibt und ihr weiter eine wichtige Rolle beimisst.So verließ etwa Hans-Georg Näder, niedersächsischer Großkapitalist aus Duderstadt und einer der Top 100 unter den reichsten Deutschen, 2015 nach 25 Jahren die CDU und trat der FDP bei.

Im bürgerlichen Staat mit seinem System der Gewaltenteilung und gegenseitigen Kontrolle sind etliche Kontrollmechanismen eingebaut, die verhindern sollen, dass etwa eine linke Parlamentsmehrheit „ganz legal“ antikapitalistische Maßnahmen beschließt und diese dann von der Exekutive durchgeführt werden. Auch in der liberalsten bürgerlichen Demokratie liegt die wirkliche Macht nicht bei den Parlamentariern und nicht einmal bei der Regierung, sondern in den Schaltzentralen der wirtschaftlichen Macht, die über tausend Fäden, Einfluss- und Erpressungsmöglichkeiten Gesetze und praktische Maßnahmen der Exekutive beeinflussen und auch verhindern können. Der Staat ist in letzter Konsequenz ein Gewaltapparat zum Schutz der herrschenden Klasse und Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft. Regelmäßige Enthüllungen bis zum heutigen Tage verdeutlichen, dass die Geheimdienste in kapitalistischen Staaten im Grunde nicht durch das Parlament kontrollierbar sind.

Das Verhältnis zwischen der herrschenden Klasse und ihren Repräsentanten ist natürlich nicht immer reibungslos und unproblematisch. Die Bourgeoisie hat keine autorisierte Zentralinstanz, die für alle spricht, einfach auf ein Knöpfchen drückt und die Puppen tanzen lässt. Manche Sprachrohre und Think Tanks äußern sich immer wieder unzufrieden mit der Bundesregierung und bezeichnen die Bundeskanzlerin als „Sozialdemokratin“, weil sie nach ihrer Auffassung die „Reformen“ nicht konsequent genug anpacke. Sie fordern von Regierungen jeglicher Konstellation eine viel schärfere Gangart gegen Gewerkschaften, Sozialleistungen und sozialstaatliche Errungenschaften. Aber alles in allem beeinflussen machtvolle Lobbygruppen – Unternehmerverbände, Banken, Versicherungen, der Wirtschaftsrat der Union, Think Tanks und andere Einrichtungen – maßgeblich die öffentliche Meinung, verfassen Gesetzesentwürfe und achten darauf, dass die von ihnen vorgegebene Linie grundsätzlich eingehalten wird. Zwischen der Bourgeoisie, den Spitzen im Staatsapparat und den politischen Entscheidungsträgern bestehen enge Verflechtungen. Medien und andere Ideologieträger geben den Anpassungsdruck systematisch weiter. Es gibt auch innerhalb der herrschenden Klasse widerstrebende Interessen und taktische Ansätze, die oftmals heftig ausgetragen werden. Dies kam seit Sommer 2015 in den schweren Konflikten in der CDU/CSU über die Flüchtlingsfrage zum Ausdruck, die bei Redaktionsschluss anhalten und weitreichende Folgen haben könnten. Denn erstmals seit 1976 stand wieder die ernsthafte Drohung einer bundesweiten Trennung von CDU und CSU und Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft im Raum. Hier vertritt Kanzlerin Merkel mit ihrer „liberalen“ Flüchtlingspolitik letztlich das Interesse eines Teils der Kapitalistenklasse, der in den Flüchtlingen eine willige Reservearmee sieht und durch Zuwanderung den prognostizierten Bevölkerungsrückgang möglichst aufhalten will.

Das Drei-Parteien-System der alten BRD brach Anfang der 1980er Jahre auf, als aus der negativen Regierungserfahrung mit der SPD heraus (Aufrüstung, NATO-Doppelbeschluss, Atomkraft) die Umwelt- und Friedensbewegung erstarkte und die neue Partei „Die Grünen“ entstand. Obwohl in der neuen Partei damals Menschen aus unterschiedlichsten politischen Himmelsrichtungen zusammen kamen, speiste sie sich vor allem auch aus der Sozialdemokratie, aber auch aus Ex-K-Gruppen und der Sponti-Szene. In den 1980ern waren bei den Grünen „linke“ Strömungen tonangebend. Sie konnten aber ihren kleinbürgerlichen Charakter nie verleugnen und hatten auch nie die enge Anbindung an und den „Stallgeruch“ der Gewerkschaftsbewegung oder eine systematische Klassenorientierung und ausgesprochen antikapitalistische Stoßrichtung. Daher war die Anpassung und Einbindung dieser neuen Partei in den Regierungsapparat seit Mitte der 1980er Jahre (erste Ernennung von Joschka Fischer zum Umweltminister in Hessen 1985) auch relativ leicht zu vollziehen. Auch wenn die SPD nach anfänglichem Zögern auf allen Ebenen eher zum „natürlichen“ Partner der Grünen wurde, entwickelten sich zunehmend lokal und regional auch stabile schwarz-grüne Bündnisse – so etwa in Frankfurt (Main), Darmstadt und Hessen. Heute sind die Grünen eine „moderne“ liberale Partei, die sich auch auf Öko-Kapitalisten stützt und genauso wie CDU/CSU und SPD mit großzügigen Spenden der Bourgeoisie bedacht und für ihre „staatstragende Rolle“ gewürdigt wird. Sie verstehen es allerdings immer noch, sich „weltoffen“,„sozial“ und „fortschrittlich“ zu präsentieren und damit auch Stimmen zu fangen. Der „Linksliberalismus“ oder „Sozialliberalismus“, der in den 1970er Jahren nach heftigen internen Auseinandersetzungen wichtige Teile der FDP prägte, wird heute am ehesten von den Grünen repräsentiert.

Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei

Einige Jahre lang hat auch die Piratenpartei dieses Spektrum bedient. Nach einem raschen Aufstieg ab 2009 und dem Einzug in zahlreiche Kommunalparlamente und vier Landtage mit insgesamt 838.000 Zweitstimmen ist diese Partei allerdings wieder auf dem absteigenden Ast und lokal teilweise in Auflösung begriffen. Davon zeugen Austritte und Übertritte führender Repräsentanten und Mandatsträger in (fast) alle Himmelsrichtungen: FDP, Grüne, SPD, LINKE, CDU, AfD.
Für uns kommt all dies nicht überraschend. Während manche Mitglieder der Linkspartei damals die Piratenpartei euphorisch begrüßten oder gar zur ihr übertraten, schrieben wir Dezember 2011:

Bei genauerer Betrachtung der Zusammensetzung dieser Partei tritt zu Tage, dass viele der Akteure hochqualifizierte Menschen mit Studium, oftmals Informatiker oder mit naturwissenschaftlichen oder wirtschaftswissenschaftlichen Abschlüssen. Nicht wenige sind Selbstständige, Freiberufler oder Kleinunternehmer. Das ist an sich nicht verwerflich, denn viele Menschen sind heutzutage nicht immer freiwillig Freiberufler und auch in der LINKEN gibt es sozialistisch orientierte Kleinunternehmer und Freiberufler. Auch Gewerkschaften wie ver.di organisieren Freiberufler, die sich etwa im künstlerischen Bereich im Überlebenskampf befinden. Der durchschnittliche Pirat hat aber mit sozialistischen Gedanken oder der Arbeiterbewegung wenig bis gar nichts am Hut. Da schimmert schon eher die Mentalität eines Kleinbürgers durch, der groß werden will und daher das Privateigentum nicht in Frage stellt. Weil aber vor allem in Krisenzeiten Kleinunternehmer oft auch abstürzen und sich ganz schnell in den Krallen der Hartz IV-Behörden wiederfinden können und manche der Parteitagsteilnehmer schon entsprechende Erfahrungen gemacht haben, forderte der Bundesparteitag die Abschaffung der Sanktionen bei Hartz IV und ein "bedingungsloses Grundeinkommen" (BGE). Während Linke und Gewerkschafter die Hartz-Gesetze vor allem auch als Instrument zur Lohndrückerei und Schwächung der gewerkschaftlichen Kampfkraft kritisieren, sehen die Piraten darin vor allem eine Einschränkung individueller Freiheiten. Ein gesetzlicher Mindestlohn soll nach dem Willen der Piraten nur als "Brückentechnologie" bis zur endgültigen gesetzlichen Einführung eines BGE dienen. Zur Fragwürdigkeit der Forderung nach einem BGE aus sozialistischer Sicht und mögliche gesellschaftliche Folgen hat sich die Redaktion der Funke an anderer Stelle geäußert.
Dass die Piratenpartei vielfach nur die äußere Form der Mainstream-Politik kritisiert, ohne die Inhalte wirklich in Frage zu stellen, wurde auch in anderen Zusammenhängen deutlich. So beschränkte sich die Kritik am europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) an den "demokratischen Defiziten bei seiner Entstehung" und weniger am Inhalt und der damit verbundenen Umschichtung hoher Milliardenbeträge aus den Taschen der abhängig Beschäftigten an die Banken. Maßgebliche Piraten-Akteure halten es für unvermeidlich, dass überschuldeten Staaten ein gerader Weg zu einem Austritt aus der Euro-Zone geebnet werden müsse. Ein Standpunkt, der auch in CDU und CSU Anhänger hat. In solchen Fragen scheint die Piratenpartei aber noch keine klare Position zu haben. Schließlich gibt es auch kritischere Kräfte, die sich nicht neoliberal positionieren wollen. Ein erster Überblick lässt vielleicht den Schluss zu, dass die Piratenpartei in gewisser Hinsicht eine Wiedergeburt der FDP der 1970er Jahre ist. Die damalige FDP war in manchen gesellschaftspolitischen und bildungspolitischen Fragen weitaus linker als das, was seit Anfang der 1980er Jahre aus ihr gemacht wurde. Das kapitalistische Privateigentum stellten die Liberalen aber nie in Frage. (aus: Piratenpartei - keine Alternative für SozialistInnen und GewerkschafterInnen, www.derfunke.de, 11.Dezember 2011)

SPD und LINKE

Nach dem Niedergang der KPD in den frühen 1950er Jahren und ihrem Verbot 1956 blieb die SPD über Jahrzehnte als einzige traditionelle Arbeiterpartei übrig, die die ArbeiterInnenklasse weiter in das kapitalistische System und den Staat integrierte. Zwischen 1966 und 1982 (und wieder von 1998 bis 2009 und seit 2013) war die SPD maßgeblich an Bundesregierungen beteiligt. Eine ältere Arbeiter- und Rentnergeneration verbindet die Erinnerung an die SPD der 1970er Jahre mit positiven Sozialreformen, mit einer Anhebung von Lebensstandard und Lebensqualität – auch wenn Ende der 1970er Jahre bereits erste zaghafte Schritte hin zum Sozialabbau einsetzten.

Nach 16 Jahren Kohl-Regierung war der Antritt der „rot-grünen“ Koalition 1998 von großen Hoffnungen in ArbeiterInnenklasse und Jugend auf einen echten „Politikwechsel“ begleitet. Die Enttäuschung folgte sehr rasch. Mit der von Gerhard Schröder durchgepeitschten „Agenda 2010“, die sich ideologisch schon 1999 im Schröder-Blair-Papier abzeichnete, geriet die SPD in ihre größte Krise seit Bestehen der BRD.

Mit ihrer Politik hat es die SPD-Führung über die Jahrzehnte und vor allem seit 1998 geschafft, nahezu die Hälfte ihrer ehemaligen Wählerschaft und Mitglieder zu verlieren. So sank die Zahl der Zweitstimmen für die SPD bei Bundestagswahlen von 20,2 Millionen (1998) auf knapp zehn Millionen (2009). Die Mitgliederzahl ist kontinuierlich von 943.000 (1990) auf 460.000 (2014) gesunken. Die bundesweiten Umfragewerte stagnieren seit Jahren im 25-Prozent-Bereich. Nach wie vor stützt sie sich allerdings auf die Loyalität einer älter werdenden Schicht von abhängig Beschäftigten und wichtiger Teile des Apparats in den DGB-Gewerkschaften. Die traditionellen Bindungen sind aber in den letzten Jahren schwächer geworden.

Von diesem massiven Mitglieder- und Wählerverlust und der durch die Erfahrung mit der Regierung Schröder ausgelösten Krise hat sie sich im Grunde bis zum heutigen Tage nicht erholt. So wie der frühere SPD-Kanzler Helmut Schmidt (1974-82) unfreiwilliger Vater der Grünen war, weil die von ihm unterstützte NATO-Aufrüstung, der Abbau demokratischer Rechte und der Ausbau der Atomkraft ein Potenzial dafür schufen, erwies sich Gerhard Schröder als unfreiwilliger Vater der WASG und LINKEN, weil die Agenda 2010 vor allem unter Gewerkschaftern auf massive Kritik stieß. Dass es unter solchen Umständen zu kleineren und ggf. auch größeren Abspaltungen von der SPD kommen würde, war vorprogrammiert.

Allerdings ist bemerkenswert, dass die Agenda 2010 nicht zuallererst eine organisierte Abspaltung von der SPD ausgelöst hat, sondern zunächst einmal die ernsthafteste innerparteiliche Opposition in der SPD seit Jahrzehnten beflügelte. So sammelte die Bewegung für ein „Mitgliederbegehren“ gegen die Agenda 2010 im Frühjahr 2003 binnen weniger Wochen 21.000 Unterschriften von SPD-Mitgliedern. Im Juni 2003 kamen über 250 linke, kritische SPD-Mitglieder aus allen Himmelsrichtungen in Frankfurt am Main zusammen. Viele von ihnen forderten und erwarteten die Bildung einer ernsthaften linken Opposition. Doch die auf dem Podium sitzenden prominenten Organisatoren des Treffens, sechs „linke“ SPD-Bundestagsabgeordnete plus Klaus Wiesehügel, damals Bundesvorsitzender der IG BAU, nahmen dieses Begehren stillschweigend zur Kenntnis und unternahmen nichts. Erst dieses grandiose Versagen – und die verheerenden Verluste der SPD an das Lager der Nichtwähler bei der bayerischen Landtagswahl im Herbst 2003 – gaben den Anstoß für die Herausbildung einer neuen Initiative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (ASG) Anfang 2004, die zu ihrer eigenen Überraschung bundesweit ein sehr starkes Echo fand. Auf die vage Drohung mit einer eigenen Kandidatur gegen die SPD bei den nächsten Bundestagswahlen folgte die Disziplinierung der Urheber durch den damaligen SPD-Chef Müntefering, so dass alles seinen Lauf nahm und Ende 2004 aus der ASG und einer weiteren ähnlichen Initiative heraus die neue Partei WASG gegründet wurde. Bei der Landtagswahl in NRW im Mai 2005 erreichte die wenige Monate alte WASG aus dem Stand immerhin 2,2 Prozent. Dann überschlugen sich die Ereignisse, als nach der herben SPD-Niederlage in NRW Schröder und Müntefering überraschend Bundestagsneuwahlen ankündigten und Oskar Lafontaine nach gut sechsjähriger Polit-Abstinenz sich zur Spitzenkandidatur für eine vereinigte Linke aus PDS und WASG bereit erklärte. Somit setzte ein Prozess ein, der zum gemeinsamen Antritt bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 und der Bildung einer gemeinsamen Bundestagsfraktion führte und im Sommer 2007 mit der Vereinigung zur neuen Partei DIE LINKE ihren Höhepunkt fand.

Mit der Linksfraktion im Bundestag ist erstmals seit Anfang der 50er Jahre (als die KPD noch im 1. Bundestag vertreten war) eine relativ starke linke Formation mit Wurzeln in der Arbeiterbewegung im Parlament vertreten. Jahrzehntelang hat es das nicht gegeben. Kleinere Abspaltungen von der SPD (wie die Demokratischen Sozialisten 1982) blieben zuvor stets bedeutungslos. Die DKP ist auch in den 1980er Jahren nie über 40.000 Mitglieder und 0,8 Prozent bundesweit hinausgekommen – von einzelnen lokalen kommunalen Hochburgen abgesehen. Heute ist sie nur noch ein Schatten ihrer damaligen Stärke und Stabilität.

Einen Höhepunkt bildete die Bundestagswahl 2009, als DIE LINKE auf 11,9 Prozent und damit gut halb so viele Stimmen wie die SPD kam. Diesem Hype 2009 folgte allerdings keine systematische Stabilisierung der LINKEN. „Unsere Aktien waren damals etwas überbewertet“, sagen manche Insider. Denn nach wie vor hat die LINKE bundesweit längst nicht halb so viele aktive Mitglieder oder awie die SPD. Denn nach wie vor hat DIE LINKE nicht halb so viele Aktive oder auch nur eine annähernd stabile Verankerung in Stadt und Land wie die SPD und ist mit rund 60.000 Mitgliedern in Stadt und Land insbesondere in der Fläche erheblich schwächer vertreten als die SPD mit derzeit 460.000 Mitgliedern. Vor allem im Westen wurden die Chancen weitgehend vertan, mit Hilfe von Mandaten und den damit fließenden finanziellen Mitteln eine politische Schulung der Mitglieder im sozialistischen Sinne, eine gesellschaftliche, betriebliche und gewerkschaftliche Verankerung und lebensfähige flächendeckende Strukturen in Stadt und Land zu organisieren. Manche linke Kommunalfraktionen zerbröckelte. Oftmals überschatteten und überschatten heftige Konflikte um Posten, Listenplätze und Mandate und Karrierismus das Parteileben. Intrigen und Provokationen sind allgegenwärtig. Statt Orientierung auf die ArbeiterInnenklasse, Klassenkämpfe und Gewerkschaften verzetteln sich viele Untergliederungen in allerlei, oftmals weniger wichtigen Fragen. Bei der Orientierung auf Hartz IV-Betroffene überwiegt das „Kümmerer-Element“ und fehlt vielfach die Orientierung auf die gesamte ArbeiterInnenklasse, Klassenkämpfe, Gewerkschaften und einen gemeinsamen Kampf von Arbeitenden und Arbeitslosen.

Im Westen setzte 2011 mit den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg eine Serie von Niederlagen für DIE LINKE mit Ergebnissen deutlich unter der magischen Fünf-Prozent-Schwelle ein, die sich 2012 in NRW und Schleswig-Holstein und 2013 in Niedersachsen fortsetzte. Derzeit ist die Partei im Westen nur in den Stadtstaaten Hamburg und Bremen, dem kleinen Saarland und Hessen im Landtag vertreten. Bei der Bundestagswahl 2013 fiel sie mit 8,6 Prozent absolut und relativ hinter das Niveau von 2005 zurück. Nach aktuellen Umfragewerten stagniert die bundesweite Zustimmung für die Partei zwischen 8 und 10 Prozent. Damit kann sie nicht wesentlich von der Unzufriedenheit mit der Politik der Bundesregierung und mit den herrschenden Zuständen profitieren. In der Flüchtlingsfrage erscheint ihre Position völlig unklar und liegen Welten zwischen Forderungen aus dem Munde Lafontaines nach Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen und dem Engagement vieler Mitglieder für Flüchtlingshilfe, offene Grenzen und Bekämpfung von Fluchtursachen.

Allerdings ist DIE LINKE bundesweit zu einer festen Bezugsgröße und Anlaufstelle für kritische, nach einer gesellschaftlichen Alternative suchende ArbeiterInnen und Jugendliche geworden. Ihr Jugendverband Linksjugend ['solid] erfreut sich eines langsamen aber stetigen Zustroms radikalisierter Jugendlicher, während die Jusos als SPD-Jugendverband durch den Mitgliederschwund der Mutterpartei über die Jahrzehnte von einst 300.000 auf 70.000 Mitglieder reduziert wurden. Dass bei Linksjugend ['solid] längst nicht alle Interessierten in den Verband oder die Partei DIE LINKE integriert werden, ist vor allem der politischen und organisatorischen Schwäche sowie der verbreiteten Orientierungslosigkeit vieler Akteure vor Ort geschuldet. Die Jusos machen seit einigen Jahren wieder verstärkt mit verbalen Abgrenzungen gegenüber der politischen Führung der SPD und dem Erbe der Agenda 2010 auf sich aufmerksam. Bei Fragen wie TTIP, Vorratsdatenspeicherung und deutsche Kriegseinsätze besteht an Teilen der SPD-Basis ein starkes Unbehagen mit der SPD-Führung. Innerparteilich bringt auch die AfA die Unzufriedenheit vieler GewerkschafterInnen zum Ausdruck. Allerdings werden daraus überwiegend keine praktischen Konsequenzen abgeleitet. Vom programmatischen Linksreformismus der 1970er Jahre sind die Jusos (wie übrigens auch der Mainstream der Linkspartei) noch weit entfernt.

Zwei Sozialdemokratien

Bei näherer Betrachtung ist DIE LINKE nicht das von Reaktionären an die Wand gemalte kommunistische Schreckgespenst und auch nicht die von manchen erhoffte klassenkämpferische linkssozialistische Partei. Sie ist im Grunde eine etwas linkere Version von Sozialdemokratie. Manche sehen in ihr ein Werkzeug, um die SPD wieder „nach links zu rücken“, also zurück in die vermeintlich „gute alte Zeit“ der 1960er und 1970er Jahre. Dabei lässt die kapitalistische Krise kein Zurück zur Reformpolitik jener Jahrzehnte zu.

Es gibt besondere historische Gründe dafür, dass in Deutschland zwei relevante sozialdemokratische Parteien nebeneinander bestehen. Nicht zuletzt die Weigerung der von Pfarrern geprägten und strikt antikommunistisch auftretenden Ost-SPD, ehemalige SED-Mitglieder aufzunehmen, begünstigte seit den frühen 1990er Jahren die Entwicklung der PDS. Sie eroberte im Osten seit den 1990ern mit kommunalpolitischer Kleinarbeit und als „Kümmererpartei“ schrittweise Terrain und bemühte sich im neuen kapitalistischen System um Anerkennung und Ruf als „seriöse“ und „etablierte“ Kraft. Längst ist sie eine ostdeutsche Variante von Sozialdemokratie geworden und in der Exekutive auf kommunaler und Landesebene angekommen. In drei östlichen Bundesländern (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg) war/ist die Partei Juniorpartner der SPD in Landesregierungen und hat durch ihre Zugeständnisse viel an Unterstützung eingebüßt. In Thüringen stellt sie seit Ende 2014 erstmals einen von bundesweit 16 Ministerpräsidenten. 2016 strebt sie in Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt (wieder/erstmals) in Regierungsämter. Im Westen hingegen ist von ganz wenigen Kommunen abgesehen eine Einbindung der Linkspartei in feste Regierungskoalitionen mit hauptamtlichen Positionen derzeit nicht in Sicht.

Die Regierungsbeteiligung der LINKEN in den Ländern hat in den letzten Jahren für heftige interne Debatten gesorgt. Dass die Partei nach der nächsten Bundestagswahl 2017 aber in die Verlegenheit kommen wird, in die Bundesregierung einzutreten, ist aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich. Die Differenzen in der Außen-, Militär und Europapolitik sind nach wie vor zu groß. Als einzige Partei im Bundestag hat DIE LINKE bisher Kriege, deutsche Militäreinsätze und die herrschende EU- und Troika-Politik, Privatisierungen und Sozialabbau abgelehnt. Sie fordert im Programm eine Verstaatlichung der Banken unter demokratischer Kontrolle, auch wenn diese Forderung im Alltag eher versteckt wird. Versuche des rechten Parteiflügels um das fds, diese „Alleinstellungsmerkmale“ aufzuweichen und das Programm für die ersehnte Regierungsbeteiligung auf Bundesebene „kompatibel“ zu machen, sind bisher von Parteitagen auf Bundesebene mehrheitlich abgelehnt worden.

Allerdings fehlt der LINKEN ein umfassendes sozialistisches Programm und eine klare Systemalternative, die über einzelne Korrekturen am Kapitalismus hinausgeht. Sie vertritt bestenfalls eine linke Spielart des Reformismus und Keynesianismus, wie er in der alten BRD in den 1970er und 1980er Jahren in Jusos und Teilen der Sozialdemokratie und Gewerkschaften verbreitet war.

Bevor Millionen arbeitende Menschen zu revolutionären, marxistischen Schlussfolgerungen kommen, müssen sie in aller Regel praktische Erfahrungen mit dem Reformismus unter Krisenbedingungen machen. Diese Erfahrungen können reformistischen, sozialdemokratischen Parteien „das Genick brechen“, wie etwa der Absturz der griechischen PASOK oder der italienischen PSI zeigt. Sie können aber auch zu einer internen Polarisierung und relevanten (Ab-) Spaltungen führen.

Auch hier kommt eine alte Gesetzmäßigkeit zum Tragen: Wenn die Masse nur zwischen zwei reformistischen Parteien auswählen kann, dann entscheidet sie sich im Zweifelsfall für die größere der beiden. Die SPD-Führung setzt auf Loyalität, Trägheit, Vergesslichkeit und „Pragmatismus“ der Massen. Natürlich ist ihre Bindekraft viel schwächer als in früheren Jahrzehnten, weil ihr Reformismus immer mehr „kleine Schritte nach hinten“ produziert. Aber keine Partei, auch nicht DIE LINKE, hat es nach 1945 geschafft, der SPD flächendeckend und bundesweit den Rang als wichtigster politischer Bezugspunkt für die arbeitende Bevölkerung und Ansprechpartnerin für Gewerkschaften abzulaufen. Allerdings hat DIE LINKE in den verganenen Jahren einen Ruf als bundesweiter Bezugspunkt für kritische GewerkschafterInnen und Jugendliche aufgebaut. In Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt hat sie schon längst eine chronisch schwächelnde SPD überrundet. Dass sie bislang Bundeswehr-Kriegseinsätze ablehnte und auch in anderen Fragen auf Bundesebene (Privatisierung, Sozialabbau etc.) bisher standhaft geblieben ist, verleiht ihr eine gewisse Stabilität und Attraktivität als politischer Gegenpol bis in die Mitglied- und Anhängerschaft der SPD hinein.

Weitergehende Perspektiven für DIE LINKE hängen auch davon ab, ob und in welcher Form der Rechtsruck und ideologische Bankrott der SPD-Führung und damit der Niedergang anhält. Die Entwicklung des Klassenkampfs wird auch in den alten, traditionellen Massenorganisationen niederschlagen. Aber selbst wenn eine Regierung mit SPD-Beteiligung unter dem Druck von Schuldenbremse und Wirtschaftskrise Angriffe gegen die ArbeiterInnenklasse startet und Konflikte mit den Gewerkschaften provoziert, ist es keine ausgemachte Sache und kein Automatismus, dass DIE LINKE davon auf breiter Front profitiert und auf allen Ebenen in der Lage wäre, der Unzufriedenheit Ausdruck und Programm zu verleihen.

Die Abkehr der Massen von der SPD ist die Abkehr eines enttäuschten Liebhabers, der von dieser Partei „eigentlich“ eine ganz andere Politik erwartet hätte. Unzufriedene Arbeiter und Jugendliche werden nach wie vor aufmerksam verfolgen, ob und wie sich in der SPD wieder kritische, oppositionelle Strömungen herausbilden. Die derzeitige SPD-Linke um DL 21 und Teile der Jusos und AfA ist aber programmatisch und organisatorisch schwach und defensiv und insgesamt nicht als attraktiver, schlüssiger Gegenpol zum rechtssozialdemokratischen Mainstream sichtbar.

Nach dem „Corbyn-Effekt“ in der britischen Labour Party scheint die SPD-Bürokratie entschlossen, eine ähnliche Entwicklung in ihrem Bereich zu verhindern. 1993 hatte eine ratlose und zerstrittene SPD-Führung nach dem überraschenden Rücktritt des Parteivorsitzenden Björn Engholm das Instrument eines Mitgliederentscheids zur Bestimmung eines neuen Vorsitzenden eingeführt. In allen seitherigen Führungskrisen hat sie dieses Instrument einer „direkten Demokratie“ oder auch frühere Ideen einer „Öffnung“ der Partei für Nichtmitglieder nie wieder zur Anwendung gebracht. Vorerst sind dem politischen Bankrott und damit einhergehenden Niedergang der SPD keine Grenzen gesetzt.

Einen ersten zaghaften Vorahnung, wie eine linkere SPD verlorene Anhänger zurückgewinnen könnte, bot der zeitweilige Wiederaufstieg der hessischen SPD unter Andrea Ypsilanti von 2006 bis 2008. Sie stand für andere, etwas linkere Nach-Schröder-SPD und erreichte Anfang 2008 mit einem starken Zuwachs um über 7 Prozentpunkte auf 36,7 Prozent ein beachtliches Ergebnis. Als sie eine durch die LINKE tolerierte Koalition mit den Grünen bilden wollte und in einzelnen Bereichen die Profitinteressen einzelner Konzerne (Atom, Luftfahrt) eingeschränkt bzw. gefährdet zu sein schienen, organisierten bürgerliche Kreise, Medien, Unternehmerverbände und der rechte Flügel in SPD und Gewerkschaftsapparat mit Hilfe von vier rechtssozialdemokratischen Abgeordneten ihren Sturz.

Auch wenn es in den letzten Jahren schon etliche Übertritte von Mandatsträgern der LINKEN zur SPD gegeben hat, scheint ein von manchen still herbeigesehntes und von anderen heftig befürchtetes Zusammengehen beider Parteien derzeit nicht in Sicht, nicht zuletzt auch weil wir es mit zwei verschiedenen Instanzen und Apparaten mit Eigeninteressen zu tun haben. Dies ist vor allem der Abhängigkeit der Partei DIE LINKE vom weiter voranschreitenden Degenerierungsprozesses der SPD geschuldet, der ihr relative Attraktivität und Stabilität und einen gewissen Zulauf beschert. Durch Akzeptanz der bürgerlichen Hegemonie und Verzicht auf das Ziel eines revolutionären Bruchs mit den kapitalistischen System läuft reformistische Politik letztlich zwangsläufig auf einen politischen Verbürgerlichungsprozess hinaus. Daher unterscheiden sich DIE LINKE und die SPD letzten Endes nur temporär und graduell voneinander. Der viel weiter fortgeschrittenere Verbürgerlichungsprozess der SPD im Verleich zur Partei DIE LINKE ist ihrer in jahrelanger Teilnahme an Landes- und Bundesregierungen im bürgerlich-kapitalistischen Staat und der stetig gewachsenen Nähe der Führungsschicht zum Kapital geschuldet. Er drückt sich auch in der erheblichen finanziellen Abhängigkeit der SPD von Geldspenden aus dem Kapital aus. Diese Prozess wurde dadurch beschleunigt, dass seit den 1990er Jahren zahlreiche kritische linke Mitglieder die SPD verlassen haben. Nur ein Teil von ihnen ist allerdings in der Linkspartei aktiv. Die verbliebene SPD-Basis hat dadurch viel leichter und widerstandsloser die Rechtsanpassung des Apparats geschluckt.

Droht ein neuer Faschismus? Rechte Parteien und Bewegungen

Auch 83 Jahre nach der Machtübertragung an die NSDAP und 71 Jahre nach der Befreiung vom NS-Regime können sich die bundesdeutschen Eliten nicht ihrer immer noch nicht gründlich aufgearbeiteten Geschichte entziehen. Dass die herrschende Klasse 1933 so bereitwillig die politische Macht an die Hitler und die Nazi-Bewegung übergab, darf nie vergessen werden und ist ein Hinweis darauf, dass sich Kapitalisten in Zeiten zugespitzter Krisen und Klassenkämpfe wieder darauf besinnen könnten, demokratische Rechte abzubauen und faschistische Banden zur Durchsetzung ihrer Interessen und als Hilfstruppen für den bürgerlichen Staat anzuheuern. Der 1933 bis 1945 herrschende deutsche Faschismus zeigt, was ein aus den Fugen geratener Kapitalismus anrichten kann, wenn er nicht von einer revolutionären Arbeiterbewegung bewusst gestürzt und durch eine sozialistische Demokratie ersetzt wird. Auch wenn ehemalige Nazi-Kader im BRD-Staat der 1950er Jahre wieder steile Karrieren machen konnten und die Nazi-Profiteure nach 1945 in den Chefetagen der Wirtschaft rasch wieder das Sagen hatten, sind die Kapitalistenklasse und ihr Staat nicht zwangsläufig organisch faschistisch. Aber die für viele Menschen unglaublich und schockierend wirkenden und noch längst nicht vollständigen Enthüllungen über eine gezielte alltägliche Zusammenarbeit zwischen staatlichen Organen, V-Leuten des Verfassungsschutzes und der Neonazi-Terrororganisation NSU zeigen, dass auch dieser Staat per se nicht antifaschistisch ist und über ein System gut bezahlter V-Leute bis heute Neonazi-Organisationen von diesem Staat alimentiert werden. Selbst ein Verbot der NPD oder einzelner anderer neofaschistischer Organisationen durch den bürgerlichen Staat wäre keine Garantie gegen feigen Nazi-Terror aus dem Hinterhalt oder die Rekrutierung von Nachwuchs für neofaschistische Formationen.

Seit 1990 häufen sich Angriffe, Umtriebe und Provokationen aus der Neonazi-Szene, die vor allem im Osten in etlichen Landstrichen zum Alltag gehören. Bundesweit sind seit 1990 mehrere hundert Menschen mit Migrationshintergrund diesen Gewalttaten zum Opfer gefallen. In den frühen 1990er Jahren, als es breite Proteste gegen die massenhafte Vernichtung von Betrieben, kompletten Industriestandorten und Millionen Arbeitsplätzen durch die Treuhandgesellschaft und westliche Großkonzerne gab, passte es der herrschenden Klasse gut ins Konzept, den „Volkszorn“ auf eine behauptete „Asylflut“ abzulenken. CDU/CSU und Mainstream-Medien starteten eine Kampagne gegen angeblichen „Asylbetrug“ durch sogenannte "Wirtschaftsflüchtlinge" und heizten mit Parolen wie „Das Boot ist voll“ die rassistische Stimmung an. Dies bildete den Nährboden für die Brandstiftung an einem Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen 1992 und weitere gewaltsame Übergriffe in Solingen, Mölln, Hoyerswerda – um nur die bekanntesten zu nennen. Vor allem Menschen mit dunkler Hautfarbe waren in der Öffentlichkeit rassistisch motivierten Gewalttaten ausgesetzt. Die CDU/CSU nutzte dies als Vorwand, um 1993 mit Unterstützung durch die SPD das Grundrecht auf Asyl wesentlich auszuhöhlen. Vor diesem Hintergrund erhielten damals Rechtsparteien wie Republikaner und DVU Zulauf und zogen in West und Ost auch in mehrere Landtage ein.

Neuen Auftrieb, Nährboden und Rückendeckung erfährt die gewaltbereite Neonazi-Szene seit Herbst 2014 aus der Pegida-Bewegung, die mir ihrer Hetze gegen Asylsuchende und den Islam im Herbst 2014 in Dresden aufflammte und rasch in anderen Städten Nachahmung fand. Im Herbst 2015 versuchten Neonazi-Schlägerbanden und Hooligans im Osten verstärkt mit der Gründung von „Bürgerwehren“ und sogenannten „Heimatschutz“-Initiativen neue Anhänger zu rekrutieren.

Hier wie auch in anderen Bereichen wird ein Ost-West-Gefälle deutlich. So treten Neonazis in den Ost-Bundesländern verstärkt und konzentriert auf und wirkt ihre Präsenz in manchen Landstrichen einschüchternd. Dass sie hier einen besseren Nährboden finden als im Westen ist nicht Folge vermeintlicher „Mentalitätsunterschiede“ zwischen „Ossis“ und „Wessis“, sondern in erster Linie der Demoralisierung, Entwurzelung und teilweisen Entvölkerung geschuldet, die nach der Zerschlagung der DDR-Planwirtschaft und Deindustrialisierung in den 1990er Jahren eingesetzt hat. So finden Neonazi-Gesinnung und reaktionäres Gedankengut im Osten vor allem bei frustrierten und entwurzelten Männern mehr Rückhalt. In vielen westlichen Städten fanden im vergangenen Winter Massendemonstrationen gegen Pegida statt, noch ehe sich hier überhaupt irgendwelche Pegida-Anhänger auf die Straßen wagten. Die starke Mobilisierung gegen Hogesa in Köln im Oktober 2015 dürfte auch diese Organisation weiter demoralisiert und zu ihrem Niedergang beigetragen haben.

Pegida und AfD

Bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung, ArbeiterInnenklasse und Kleinbürgertum, die Gefahr laufen, nicht mehr von einem Sozialstaat aufgefangen zu werden, entwickeln sich Abstiegsängste, die auch irrationale Proteste und Vorurteile gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen speisen. Die Ängste werden durch einseitige Berichterstattungen über angeblich ansteigende „Ausländerkriminalität“, eine angebliche „Islamisierung“ des Alltags usw. geschürt. Rechte Demagogen und Medien nennen natürlich nicht den Kapitalismus als Ursache, sondern versuchen die Wut auf Sündenböcke zu lenken: MigrantInnen, Flüchtlinge und den Islam. Auch mit der Berufung auf die „christlich-jüdisch geprägte Abendlandkultur“ reiht sich die Pegida in eine höchst reaktionäre Tradition ein. Der Begriff „Abendland“, oftmals in Verbindung mit dem Begriff „christlich“, ist eine alte Kampfparole, die in den 1930er und 1940er Jahren die Diktatoren Hitler, Franco (Spanien) und Salazar (Portugal) gleichermaßen im Munde führten wie in den 1950er und 1960er Jahren Top-Politiker von CDU/CSU und FDP.

Dass sich das Kleinbürgertum bei zunehmender Krise mehrheitlich zwangsläufig auf die Seite von Reaktion und Faschismus schlägt, ist allerdings längst keine ausgemachte Sache oder Zwangsläufigkeit. Dies wurde bei der Berliner Großdemonstration gegen die Freihandelsabkommen TTIP, CETA und TISA am 10. Oktober 2015 deutlich, die mit einer Teilnehmerzahl von rund 250.000 zur Überraschung vieler die größte bundesweite Mobilisierung seit Jahren war. Hier marschierten Gewerkschafter und Betriebsräte Seite an Seite mit linken Aktivisten und radikalisierten Jugendlichen, Umweltschützern und konservativeren Menschen aus der Mittelschicht, die erstmals in ihrem Leben überhaupt zu einer Demo gekommen waren. Ein gemeinsamer Nenner waren das Misstrauen gegenüber kapitalistischen Großkonzernen und der Geheimdiplomatie einer politischen Kaste und die Furcht vor der massiven Aushöhlung von demokratischen und Arbeitnehmerrechten, Umweltstandards, öffentlichen Dienstleistungen und der Zerstörung kleinerer Betriebe durch das Diktat der Konzerne. Gewerkschaften, LINKE und andere Organisationen der Arbeiterbewegung hätten es in der Hand, diesen Schichten eine fortschrittliche revolutionäre Lösung aufzuzeigen und einen gemeinsamen Kampf gegen das Kapital anzubieten. Dies gilt auch für andere Protestbewegungen gegen faschistische und rassistische Umtriebe, Umweltzerstörung, Klimakatastrophe, Verkehrslärm, widersinnige Megabauprojekte, Aufrüstung und Kriege, Überwachung oder andere Begleiterscheinungen des kapitalistischen Systems.

Seit ihrer Gründung als „Anti-Euro-Partei“ im Jahre 2013 hat die Rechtspartei AfD als „neuer Stern am rechten Himmel“ einen starken Aufschwung erlebt. Ihr gelang bei allen fünf Landtagswahlen seit 2014 und bei der Europawahl aus dem Stand heraus der Sprung in die Parlamente. Gleichzeitig jedoch legte sie schon zwei Jahre nach der Gründung ihre erste größere Spaltung hin, als eine radikal wirtschaftsliberale Gruppe um den AfD-Mitbegründer Bernd Lucke nach der Niederlage beim Parteitag im Sommer 2015 austrat und die neue Partei Alfa ins Leben rief. Ihr schloss sich auch die Mehrheit der auf dem AfD-Ticket gewählten EU-Abgeordneten an, darunter Lucke und Hans-Olaf Henkel; als Ex-BDI-Präsident ein wichtiger Kader der Bourgeoisie. Inzwischen konzentriert sich die Agitation der weiter nach rechts gerückten AfD unter der Führung von Frauke Petry auf rassistische Parolen gegen Flüchtlinge und plumpen Deutschnationalismus. Henkel sieht in ihr den „Einfluss der Rechtsaußen, der Krachmacher und der Intoleranten weiter steigen“. Unter Petry und Co.werde die AfD zu einer „NPD im Schafspelz“, meint er: „Eine dritte Rechtsaußenpartei, neben den REPs und der NPD, brauchen wir wie ein Loch im Kopf!“, meint Henkel.

Eine bundesweit verankerte einheitliche faschistische Massenbewegung wie die alte NSDAP oder gar Machtübertragung an die Neo-Nazis wie 1933 steht derzeit allerdings nicht auf der Tagesordnung. Dafür sprechen viele Anhaltspunkte. Der klassische Faschismus war eine freiwillige Massenbewegung verzweifelter Kleinbürger und diente als Rammbock gegen die Arbeiterbewegung. Offener Faschismus ist heute in Europa schon deshalb wesentlich schwächer als vor dem 2. Weltkrieg, weil die soziale Massenbasis dieses traditionellen Kleinbürgertums geschrumpft ist, das von einer massiven Proletarisierung erfasst wurde. Eine einheitliche faschistische Massenbewegung mit disziplinierten paramilitärischen Einheiten zur flächendeckenden Ausübung politischer Macht im Staat und Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche ist derzeit nicht im Sicht. Anhaltende faschistische Terrorakte, die als Warnung und Mahnung und zur Aufrüttelung über den Charakter des Faschismus dienen sollten, sind derzeit eher ein Zeichen der Schwäche als der Stärke des faschistischen Organisationen. Zur Waffe des Faschismus zu greifen, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen, macht derzeit aus bürgerlicher Sicht auch schon deshalb keinen Sinn, weil anders als vor 1933 derzeit in Deutschland noch keine revolutionäre und für das Kapital existenzgefährdende Massenbewegung in Sicht ist. Auf absehbare Zeit wird die Kapitalistenklasse weiter auf die Kooperation mit der Führung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften setzen.

Auf der Ebene von Wahlen ist es den einzelnen rechtsradikalen, reaktionären und neofaschistischen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten nicht gelungen, sich dauerhaft und stabil zu verankern. Die NPD gelangte in den 1960er Jahren mit bis zu zehn Prozent Zweitstimmenanteil in sieben West-Landtage und war nach vier Jahren wieder draußen. Nach über zwei Jahrzehnten der Bedeutungslosigkeit erfuhr sie eine Auffrischung durch offen „nationalsozialistische“ Kräfte und betrieb gezielte Aufbauarbeit in wirtschaftlich benachteiligten Regionen in Ostdeutschland. Derzeit ist sie in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen im Landtag vertreten. Dort ist sie auch mit ihrem Umfeld in manchen Regionen ein fest verankerter, anerkannter Teil der Alltagskultur geworden und präsentiert sich als „Kümmerer-Partei“ der „kleinen Leute“. Hoffnungen auf einen bundesweiten Durchbruch kann sie sich derzeit nicht machen.

Seit den 1980ern gab es mehrere Parteineugründungen im rechtsradikalen, reaktionären Lager, die wieder weitgehend in der Bedeutungslosigkeit versanken. So etwa die 1983 von abtrünnigen CSU-Abgeordneten gegründeten Republikaner. Sie schafften es ab 1989 in das Europaparlament und zeitweilig in mehrere Landtage und viele Kommunalparlamente, sind aber seit Jahren im Niedergang und Zerfall begriffen. Die zugunsten einer Verschmelzung mit der NPD aufgelöste DVU konnte insgesamt neun Mal in Landtage einziehen und erreichte 1998 bei der Wahl in Sachsen-Anhalt einen Rekord von 12,9 Prozent. Nur eine kurze Blüte erlebten auch die 2007 wieder aufgelöste Partei Rechtsstaatlicher Offensive (PRO), die trotz wirrer rassistischer Propaganda streng genommen nicht das Etikett „faschistisch“ verdiente. Die als Schill-Partei bekannte PRO koalierte in Hamburg zeitweilig mit der CDU und hat keine nachhaltigen Spuren hinterlassen.

Die NPD, die abgesehen von ihrer Vertretung in zwei Ost-Landtagen und etlichen Kommunalparlamenten in Ost und West aufgrund ihres offen braunen Anstrichs und Bezugs keine Hoffnung auf Einzug in den Bundestag schöpfen kann, sieht nicht ohne Grund in der AfD eine existenzbedrohende Konkurrenz. Schließlich organisiert die AfD in ihren Reihen auch faschistische Kräfte, die den Keim einer neuen SA bilden könnten, und sieht sich zumindest teilweise auch als parlamentarischer Arm von Pegida. Allerdings bemüht sich die AfD-Führung um Petry derzeit um den Anschein einer biederen, demokratischen, konservativen Partei der „kleinen Leute“. Dass andere Parteien wie die CDU/CSU und Teile der FDP zunehmend mit demagogischen Sprüchen gegen Flüchtlinge wettern, leitet Wasser auf die Mühlen der AfD, die in dieser Großwetterlage ohne großes eigenes Zutun bei den anstehenden wichtigen Landtags- und Kommunalwahlen im März 2016 durchaus einige spektakuläre Erfolge verbuchen könnte, was dann wiederum einen Rechtsruck innerhalb der politischen Eliten beschleunigen könnte.

Unter solchen Umständen wäre nicht auszuschließen, dass in der CDU/CSU eine Panikreaktion des Apparats zum Sturz von Kanzlerin Angela Merkel führt. Bislang macht dies aus der Sicht der herrschenden Klasse keinen Sinn, zumal Merkel mit ihrer „pragmatischen“, „undogmatischen“ Politik deren Interessen gut vertritt, die SPD bei der Stange hält und den Gewerkschaftsapparaten den illusorischen Eindruck vermittelt, dass die Regierung wenigstens einigen ihrer Forderungen ein bisschen entgegen kommt (Mindestlohngesetz, humane Flüchtlingsaufnahme) und frontale Angriffe bislang unterlassen hat. Mit ihren an der eigenen konservativ-reaktionären Basis heftig kritisierten liberalen Äußerungen zur Flüchtlingspolitik kommt die zuweilen von Bürgerlichen als „Sozialdemokratin“ bezeichnete Merkel dem Interesse der Kapitalistenklasse an einer frischen Reservearmee junger und gefügiger Arbeitskräfte durchaus entgegen – zumal offizielle Prognosen für Deutschland einen starken Rückgang und eine zunehmende „Überalterung“ der Bevölkerung vorhersagen. Die deutsche Bourgeoisie hat nichts gegen Immigration und ist derzeit eifrig bemüht, zur „Integration“ von Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt einen neuen Niedriglohnsektor einzuführen und bestehende Normen wie den Mindestlohn auszuhöhlen. Doch das Handeln ihrer politischen Repräsentanten hat manchmal seine eigene Dynamik. Schon 1966 stieß die mit einer herannahenden Wirtschaftsrezession aufkommende Panik im bürgerlichen Lager einen Prozess an, der zum Sturz des damaligen CDU-Kanzlers Ludwig Erhard führte, obwohl dieser noch 1965 als „Lokomotive“ und glänzender Wahlsieger aus der Bundestagswahl hervorgegangen war.

Bei aller Warnung vor einem Rechtsruck im bürgerlichen Lager: Eine Machtübernahme und Festigung einer faschistischen Diktatur wie 1933 steht heute und in den kommenden Jahren in Deutschland nicht auf der Tagesordnung. Und dies aus mehreren handfesten Gründen. Anders als in den 1920er und 1930er ist derzeit noch keine revolutionäre Massenbewegung in Sicht, die es aus der Sicht der herrschenden Klasse dringend gewaltsam zu unterdrücken gäbe. Ebenso gibt es derzeit auch keine schlagkräftige und stabile faschistische Massenbewegung mit paramilitärischen Abteilungen wie in den 1930er Jahren.
Statt totaler Konfrontation nach britischem oder südeuropäischem Vorbild versuchen es wichtige Teile der herrschenden Klasse in Deutschland nach wie vor, die Gewerkschaftsführung ins Boot der „Mitbestimmung“ zu ziehen und ihr schrittweise Zugeständnisse zu entlocken. Die Übertragung der kompletten Staatsmacht an die letztlich unkontrollierbare „Bestie“ Hitler war für die herrschende Klasse am Ende ein riskantes Spiel. 1944 wollten großbürgerliche Kreise Hitler stürzen und Frieden mit den Westmächten schließen. Die Ausgleichsfunktion des bürgerlichen Staates und die in ihm verankerte Gewaltenteilung sind Instrumente, mit denen divergierende Interessen im Lager der herrschenden Klasse ausgeglichen werden und die Aneignung der totalen Macht durch eine einzelne Cliquen verhindert werden sollen

Bei zunehmender Krise werden sich die gesellschaftliche Polarisierung, Klassenkämpfe und Gegenwehr allerdings verschärfen und zumindest Teile der herrschenden Klasse sich darauf besinnen, Neonazis und ähnliche gewaltbereite Banden und Formationen als Hilfstruppen zur Terrorisierung der revolutionären und Arbeiterbewegung einzusetzen.

Eine Begleiterscheinung der kapitalistischen Krise ist die Tendenz, in der bürgerlichen Demokratie parlamentarische Kontrolle und demokratische Grundrechte auszuhöhlen und die Kontrolle der Parlamente über die Exekutive zu schwächen. Die Erfahrungen in Griechenland, wo die parlamentarische Demokratie unter dem Diktat von Troika und Kapital völlig verwässert wurde, sowie Notstandsmaßnahmen und Ausnahmezustand in Frankreich und Belgien sind Hinweise auf die Tendenz zum parlamentarischen Bonapartismus. Der individuelle Terrorismus unterschiedlichster Herkunft ist ein Symptom für die Krankheit des kapitalistischen Systems und bietet gleichzeitig den Vorwand zur Einschränkung demokratischer Rechte und zum Ausbau von nicht kontrollierbaren Geheimdiensten. Jeder bürgerliche Staat trifft Vorkehrungen für den „Notstand“ und hält besondere Repressionsinstrumente bereit. Darauf werden auch besondere Einheiten von Bundeswehr und Polizei getrimmt. Geheimdienste sind faktisch keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen. Die staatliche Überwachung von Post und Telekommunikation ist so alt wie dieser Staat.

Wir sollten gleichzeitig aber auch darauf achten, nicht jede Art von autoritärer Politik, Repression und Polizeigewalt als „faschistisch“ zu bezeichnen, weil damit die Folgen und Auswirkungen eines echten faschistischen Regimes mit seiner paramilitärischen Massenbewegung und seinen gewaltbereiten Horden verharmlost würden. Auch in den krisengeschüttelten Ländern Südeuropas sehen wir, dass es im 21. Jahrhundert Neofaschisten derzeit schwer haben, eine stabile Massenbewegung aufzubauen. Wie in den frühen 1920er Jahren schlägt das politische Pendel eher nach links aus. Ein nachhaltiges Versagen der Arbeiterbewegung und linken Organisationen und die Unfähigkeit ihrer Führung, eine fortschrittliche revolutionäre Lösung aufzuzeigen, kann aber den Nährboden schaffen für breite reaktionäre Stimmungen und Hysterie unter Kleinbürgern und entwurzelten, demoralisierten Teilen der ArbeiterInnenklasse und des Lumpenproletariats.

ArbeiterInnenklasse, Klassenkampf und Gewerkschaften

Deutschland erlebte im Jahre 2015 die größte Streikbewegung seit Jahrzehnten. Sie erfasste auch neue, bisher weniger kampferfahrene Schichten im Proletariat, von Angelernten bis hin zu gut verdienenden und hoch qualifizierten Angestellten. Dabei wurde deutlich, dass eine große Kampfbereitschaft vorhanden ist und die von vielen totgesagte Arbeiterbewegung weiter lebt.

An der Rekord-Streikbewegung des Jahres 2015 waren allerdings nicht alle Gewerkschaften gleichmäßig oder aktiv beteiligt. So sticht ver.di unter den DGB-Gewerkschaften hervor, weil die Dienstleistungsgewerkschaft die größeren und bitteren Arbeitskämpfe vor allem in den Sozial- und Erziehungsdiensten, bei der Post und bei Amazon organisierte. Unter den Spartengewerkschaften waren es vor allem UFO (Flugbegleiter), VC (Piloten) und GDL (Lokführer). Die IG BCE hat fast seit Menschengedenken keinen größeren Arbeitskampf mehr geführt, die IG Metall schloss die Tarifbewegung für die Metall- und Elektroindustrie nach einer gewohnten Runde dosierter Warnstreiks ab. Bei genauerer Betrachtung sind seit der letzten offensiven und erfolgreichen Streikbewegung der großen und im DGB tonangebenden IG Metall für die 35-Stunden-Woche gut drei Jahrzehnte vergangen. Der Arbeitskampf in der ostdeutschen Metallindustrie für die 35-Stunden-Woche im Jahr 2003 scheiterte am mangelnden Rückhalt und der Distanzierung durch „Betriebsratsfürsten“ westdeutscher Autokonzernen

Teile der Gewerkschaften hegen die illusorische Ansicht, dass Kapital und Regierung immer so „zivilisiert“ und „fair“ mit der organisierten Arbeiterbewegung umgehen wie es derzeit bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein hat. So gefällt sich vor allem auch die Spitze der großen IG Metall in der Rolle eines geachteten „Partners“ und distanziert sich von der höheren Konflikt- und Streikbereitschaft in anderen europäischen Ländern. Solche Träume und Hoffnungen auf ein „Wohlwollen“ der Bourgeoisie werden in den kommenden Jahren an der Realität zerschellen. Viele haben vergessen und verdrängt, dass noch in den Jahren nach der Jahrtausendwende im Rahmen der Agenda 2010 Medienkampagnen von Politik und Kapital ohnegleichen auf die Gewerkschaften niederprasselten. Arbeitgeberpräsident Rogowski wollte seinerzeit Tarifverträge öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle wollte „den Gewerkschaftssumpf trocken legen“ und dabei „die Frösche nicht fragen“.

Dass Kanzlerin Merkel seit 2005 keinen sichtlichen Frontalangriff gegen die einheimischen Gewerkschaften startete, darf über eines nicht hinwegtäuschen: Tatsächlich untergräbt die herrschende Klasse seit langem Tag für Tag die Errungenschaften vergangener Jahrzehnte und bereitet sich schon längst auf einen Showdown mit der Arbeiterbewegung vor. So ist das im Juli 2015 in Kraft getretene „Tarifeinheitsgesetz“ Teil einer europaweiten Agenda zum Abbau des Streikrechts. Damit soll nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft gelten, die im jeweiligen Betrieb die meisten Mitglieder hat.

Eine Mehrheit im DGB begrüßte dieses Gesetz jedoch als „Rückendeckung“ und „Stärkung der Einheitsgewerkschaft“, mit der man sich lästige Spartengewerkschaften vom Halse halten könne. Dabei zeigt die praktische Erfahrung, dass unter Umständen auch eine DGB-Gewerkschaft leicht in eine Minderheitsposition geraten und Opfer des Gesetzes werden kann. Denn Unternehmer sitzen im Kapitalismus am längeren Hebel und können den Betriebsbegriff von sich aus selbstständig ändern. Sie können Gewerkschaften gegeneinander ausspielen und notfalls auch „gelbe“ Verbände ins Leben rufen. Damit hätten an diesen Stellen DGB-Gewerkschaften kein Streikrecht und wären plötzlich in der Minderheit.

Die bundesdeutsche Klassengesellschaft war jahrzehntelang von relativer Stabilität und Kontinuität gekennzeichnet. In den 1960er und 1970er Jahren war viel die Rede von „nivellierter Mittelschicht“, „Zwiebelmodell“ und breiten Chancen zum sozialen Aufstieg. Jeder sei „seines Glückes Schmied“, hieß es. Zur Stabilität trug ein relativ hoher und tendenziell steigender Lebensstandard bei. Inzwischen erleben Millionen Lohnabhängige vor allem durch die Prekarisierung der Arbeitswelt einen finanziellen und sozialen Abstieg. Seit den 1990er Jahren stagniert der Lebensstandard für breite Schichten. Die in früheren Generationen weit verbreitete Aussicht und Zuversicht, dass es die Kinder einmal besser haben werden, schwindet dahin. Zunehmend beginnt die berufliche Laufbahn junger Erwachsener quer durch alle Qualifikationsstufen in prekären Arbeitsverhältnissen. Für Teile der älteren Jahrgänge rückt die drohende Altersarmut zunehmend näher. Mitten im Leben schlägt sich der zunehmende Stress bei Berufstätigen in schweren physischen und psychischen Erkrankungen nieder. „Das halte ich niemals bis zur Rente mit 67 durch“, ist eine weit verbreitete Einsicht.

Es ist eine Legende, dass die ArbeiterInnenklasse verschwindet. Ständiger Strukturwandel gehört zum Kapitalismus. Alte Industrien schrumpfen und damit auch traditionelle gewerkschaftliche Bastionen, aber dafür entstehen neue Branchen – oftmals mit deutlich schlechteren Löhnen und Arbeitsbedingungen, in denen sich die Lohnabhängigen mühsam neu organisieren müssen. In Gebäudereinigung, Schlachthöfen, Call Center-Betrieben, Kühlhäusern, Logistik, Handel und Bodendiensten großer Verkehrsflughäfen und anderswo sind die Arbeitsbedingungen und der Verschleiß der Arbeitskraft unterm Strich nicht besser als in traditionellen Fabriken. Laut Statistik sind von 82 Millionen Bürgern zwischen rund 40 Millionen erwerbstätig. Hinzu kommen neben Rentner und Pensionäre Erwerbslose, Schüler und Studierende, also Personengruppen, die ebenfalls abhängig beschäftigt waren, es gerne wären oder hoffentlich bald sind. Auch sie gehören zur ArbeiterInnenklasse.

Und was ist mit den Kapitalisten? Laut Statistik besitzt ein Prozent der Bevölkerung fast 25 Prozent des gesamten Vermögens. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen 65 Prozent des Vermögens. Diejenigen die so viel haben, ziehen ihren Profit aus Kapital. Größere und mittlere Kapitalisten stellen nur noch 0,5 Prozent der Erwerbstätigen dar. Die Kapitalisten sind gegenwärtig eine von der Finanzoligarchie und wenigen hundert Familien beherrschte Klasse. Das Vermögen der 500 reichsten Deutschen liegt bei momentan knapp 500 Milliarden Euro und ist damit größer als das Bruttoinlandsprodukt der Schweiz 2007.

Deutschland wird immer reicher – und immer weniger Menschen profitieren davon! Die Kluft zwischen Arm und Reich hat massiv zugenommen. Einer Staatsverschuldung von 2,2 Billionen Euro steht ein Nettoprivatvermögen von 7,5 Billionen Euro gegenüber. Allein das reichste Zehntel der Bevölkerung besitzt davon 4,8 Billionen Euro. Das ärmste Zehntel hat hingegen 14,4 Milliarden Euro Schulden. Die Reallöhne stagnieren, während die Energiekosten explodieren. Deutschland ist neben den USA das westliche Industrieland mit dem höchsten Prekarisierungs-Index der Lohnarbeit. Über ein Drittel aller Berufstätigen sind in „atypischen Arbeitsverhältnissen“ beschäftigte – Leiharbeit, 400-Euro-Jobs, Teilzeit, befristete Verträge, Scheinselbstständigkeit, Werkverträge, McJobs, unbezahlte Praktika etc. Diese Liberalisierung und Prekarisierung des Arbeitsmarkts ist vor allem ein Erbe der Regierung von SPD und Grünen 1998-2005.

Die Wut wächst

Die Prekarisierung dient auch als Warnung an die Adresse von Stammbelegschaften und wirkt disziplinierend. Prekär Beschäftigte im täglichen Überlebenskampf haben in der Regel weder Zeit noch Kopf frei für systematische politische und oder gewerkschaftliche Betätigung. Die Herrschenden achten bislang darauf, dass sie die Stammbelegschaften bei Laune halten und nicht durch einen Generalangriff auf die Palme bringen bzw. auf die Barrikaden treiben.

Aber in der Arbeitswelt braut sich – quer durch die Bank – derzeit sehr viel Unzufriedenheit zusammen. Mobbing, innere Kündigung, Burn-Out und lebensgefährliche Erkrankungen schon im besten Alter nehmen zu. Die menschliche Psyche will vor allem Sicherheit und Planbarkeit des Lebens. Die Anforderungen der ArbeiterInnenklasse an ihr Dasein sind eigentlich recht bescheiden: Arbeit zu menschenwürdigen Bedingungen, existenzsicherndes Einkommen, ein erschwingliches Dach über dem Kopf, Absicherung gegen Armut und Krankheit, in Würde alt werden, die Gewissheit, dass die nächste Generation eine sichere Zukunft hat. Aber das gibt das System nicht her. Dabei geht es nicht nur um die absolute Verelendung wie in Ländern der „3. Welt“ mit Hungertoten und extremer Armut; auch in der reichen BRD gibt es zunehmend Armut, Hunger, Mangelernährung, Obdachlosigkeit und Straßenkinder.

Tarifverträge sind gewerkschaftliches Kerngeschäft und wesentliche Existenzberechtigung der Gewerkschaften. Ihre Krise drückt sich aus in der Erosion von Flächentarifverträgen und Normalarbeitsverhältnissen und dem jahrelangen Rückgang der Mitgliederzahlen. Die Tarifbindung sank seit den 1990er Jahren dramatisch, auch in den Branchen der stärksten DGB-Gewerkschaft IG Metall. In ihrem Organisationsbereich werden heute nur noch etwas mehr als 50 Prozent der Beschäftigten durch einen Branchentarifvertrag erfasst, weitere fünf Prozent durch Haustarif- und Anerkennungstarifverträge. Anfang der 1990er Jahre waren es noch über 70 Prozent. Drastisch sind hierbei auch die Unterschiede zwischen den Regionen und Branchen. So liegt die Flächentarifbindung in Bayern bei 70 Prozent, in Sachsen bei 20 Prozent. Im Fahrzeugbau liegt die Quote bei 70 Prozent, in der Möbelindustrie bei unter 30 Prozent und im Kfz-Handwerk bei 20 Prozent.

Nach den letzten verfügbaren Zahlen verdiente ein Facharbeiter 2010 im Vertretungsbereich der IG Metall in einem tarifgebundenen Betrieb durchschnitt 20,65 Euro pro Stunde, ohne Tarifvertrag verdiente er 17,12 Euro, also rund 18 Prozent weniger. Angelernte hatten mit Tarifbindung einen Stundenlohn von 15,57 Euro und ohne Tarifbindung einen Stundenlohn von 11,20 Euro, also 28 Prozent weniger. Tarifbindung schlägt sich nicht nur im Stundenlohn nieder, sondern auch bei Arbeitszeiten, Urlaub und Sozialleistungen.

Ungeduld ist ein schlechter Ratgeber. Wo immer Gruppen von Arbeitern und Belegschaften kämpfen wollen und die lokale Führung und Gewerkschaftsapparate dies nicht bremsen, sind eindrucksvolle Arbeiterkämpfe auch mitten in Deutschland möglich.

Weil die herrschende Klasse in Deutschland die Lage noch relativ gut im Griff hat und nach der Methode „Teile und Herrsche“ vorgeht, bleibt es bisher bei Einzelkämpfen. Eine Verallgemeinerung findet derzeit nicht statt – anders als etwa im Juni 1996 oder April 2004, als jeweils eine halbe Million Menschen bei Gewerkschaftsdemonstrationen gegen die Regierungspolitik auf die Straße gingen. Im Spätsommer 1996 mobilisierte die von der CD/CSU/FDP-Regierung beschlossene gesetzliche Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall noch massenhafte Proteste und spontane Streiks in der gesamten Republik, weil es alle gleichermaßen und unmittelbar anging. 1997 bäumten sich die Bergarbeiter im Steinkohlebergbau spontan und eindrucksvoll auf, 2004 die Bochumer Opel-Arbeiter.

Die deutsche herrschende Klasse führt sich in Europa wie ein Elefant im Porzellanladen auf, der soziale Errungenschaften und Gewerkschaftsrechte zertrampelt und „Reformen“, sprich Austerität und massenhafte Verarmung, durchdrückt. Im eigenen Land geht sie bisher etwas vorsichtiger vor. Scharfe und brutalste Angriffe in kürzester Zeit auf Gewerkschaften und den Lebensstandard der breiten Masse wie in Griechenland, Spanien oder Portugal hat sie bisher vermieden. So gehört es zur Bilanz der Regierung Merkel seit 2009, dass sie mit ihrer Politik vielfach auf einen direkten Angriff gegen die Gewerkschaften und Kernbelegschaften und einen spürbaren Abbau von Arbeiterrechten verzichtet hat. Im Gegensatz zu den früheren Sprüchen bürgerlicher Politiker und führender Funktionäre von Unternehmerverbänden vom „Gewerkschaftsstaat“ und den angeblich „allmächtigen“ Betriebsräten und Gewerkschaften hat diese Regierung „Reizthemen“ aus gewerkschaftlicher Sicht wie Betriebsverfassung, Kündigungsschutz oder Lohnfortzahlung nicht angerührt. Für eine Schwächung der Gewerkschaften durch das Vordringen prekärer Arbeitsverhältnisse hat die Vor-Vorgänger-Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) gesorgt. Viele Angriffe der letzten Jahre und Jahrzehnte wirken erst mittelfristig, verzögert und individuell – so etwa die mit der Riester-Rente einher gehende Kürzung der Rentenerwartungen, die Streichung der Berufsunfähigkeitsrente für Jahrgänge ab 1961 oder die Streichung zahlreicher gesetzlicher Leistungen in der Krankenversicherung.

Deutschland hat nicht nur millionenfach Autos, Maschinen oder Chemieprodukte in die europäischen Länder exportiert, sondern auch politische Artikel wie etwa die „Rente mit 67“, also eine massive Rentenkürzung, eine „Schuldenbremse“, also massive Austerität und Kahlschlag mit dem Zwang zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Es ist offensichtlich, dass die herrschende Klasse in Deutschland und ihre politischen Führer nicht leichtsinnig Öl ins Feuer gießen und große Proteste im eigenen Land provozieren wollen. Eher besinnen sie sich derzeit auf das deutsche Modell von „Mitbestimmung“ und „Sozialpartnerschaft“. Anstatt die Gewerkschaften frontal anzugreifen, zu schwächen und zu provozieren, lassen die Herrschenden sie bei der (in Deutschland noch relativ behutsam eingeleiteten) Abwärtsspirale lieber „mitbestimmen“. Im Gegenzug hält sich der Gewerkschaftsapparat mit seiner Kritik und offenen Protestaktionen zurück.

Für viele arbeitende Menschen in Deutschland liegt die katastrophale Lage in Südeuropa subjektiv noch sehr weit von ihrem Alltag weg. Doch bürgerlicher Druck vielfältiger Art ist in der Klassengesellschaft allgegenwärtig: Angst um Arbeitsplatz, Angst vor Versagen, Angst vor Ausgrenzung. Immer mehr Menschen halten dem weit verbreiteten unmenschlichen Leistungsdruck, psychischen Belastungen und Mobbing nicht stand, leiden unter psychosomatischen Krankheiten und verschleißen längst vor Erreichen der regulären Altersgrenze.

Ebenso hält der Druck auf Betriebsräte und individuelle Beschäftigte an, auf Lohnbestandteile zu verzichten und den Flächentarifvertrag außer Kraft zu setzen. Und der massive Anpassungsdruck auf die Gewerkschaftsapparate, die über Mitbestimmung in Aufsichtsräten in das System eingebunden sind. Es gibt viele Situationen, in denen die Gewerkschaftsbasis vom Apparat ausgebremst wird. Es gibt aber auch Situationen, in denen Gewerkschaftsapparate zum Streik aufrufen und Betriebsräte Arbeitskämpfe ausbremsen. Entscheidend ist der Gegendruck von unten. Je mehr er sich aufbaut, desto mehr werden Klassenkämpfe auch hierzulande offen ausgetragen. Dabei werden auch bisher schwerfällige Apparate in Gang kommen. Bestes Beispiel hierfür: der alte ADGB-Vorsitzende und frühere eingefleischte Massenstreikgegner Karl Legien stellte sich 1920 an die Spitze des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch und bot sogar der USPD die Bildung einer Arbeiterregierung an.

In Deutschland führt kein Weg an den DGB-Gewerkschaften vorbei. Sie bleiben trotz schrumpfender Mitgliederzahlen (derzeit rund sechs Millionen Mitglieder) nach wie vor die entscheidende Kraft mit dem Potenzial, das die Gesellschaft verändern kann – ein schlummernder Riese. Berufsgewerkschaften, die manchmal oberflächlich militanter erscheinen als die großen Einheitsgewerkschaften, haben vielfach einen engeren Horizont und nehmen in breiteren gesellschaftspolitischen Fragen oft reaktionäre Standpunkte ein.

Der Mitgliederschwund der DGB-Gewerkschaften in den letzten Jahren ist nicht zwangsläufig und hat objektive und subjektive Gründe. Wo systematische und motivierte Gewerkschaftsarbeit läuft und gekämpft wird, ist hoher Mitgliederzuwachs möglich. Im betrieblichen und gewerkschaftlichen Alltag rächt sich allerdings eine Entpolitisierung, die vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten in Betrieben und Gewerkschaften um sich gegriffen hat. So ist die vielfach vorhandene Passivität angesichts großer Angriffe auch ein Ausdruck politischer Hilfslosigkeit und Perspektivlosigkeit. Vielfach präsentieren sich die Gewerkschaften als geschichtslose Versicherungsunternehmen, die ihren Mitgliedern bestenfalls Rechtsschutz, Konsumentenrabatte, Sterbegeld- und Riester-Veträge anbieten und am 1. Mai Bratwürste grillen und Bier ausschenken.

Deutsches Mitbestimmungsmodell und deutsche Mitbestimmungskultur sind keine Ausgeburt der Vernunft, sondern Nebenprodukte revolutionärer Kämpfe. Betriebsräte entstanden als gesetzliche betriebliche Mitbestimmungsorgane, nachdem in Folge der Novemberrevolution 1918/19 die Arbeiterräte zerschlagen wurden. Die Kultur der überbetrieblichen Mitbestimmung gedieh nach 1945, als die Forderung nach Sozialisierung von Grundstoff- und Schlüsselindustrien weit verbreitet war. Daraus entstanden die Montan-Mitbestimmung und später das Mitbestimmungsgesetz von 1976 mit der formal paritätischen Besetzung von Aufsichtsräten. All dies ermöglichte sagenhafte Karrieren vom kleinen Arbeiter zum Manager. Co-Management ist nach wie vor weit verbreitet und hemmt den Klassenkampf. Betriebsräte sind im alltäglichen betrieblichen Kleinkrieg vielfach aber auch wichtige Bezugspunkte für Widerstand und Gegenwehr.

Ansätze zu Klassenbewusstsein sind bei den allermeisten Lohnabhängigen vorhanden. Bislang verhindern jedoch Angst, Unwissenheit, Trägheit, Illusionen oder mangelnder Leidensdruck wie auch der eine oder andere Gewerkschaftsapparat einen breiteren Ausbruch von Klassenkämpfen Die Traditionen der deutschen ArbeiterInnenklasse sind jedoch nicht nur von Unterwürfigkeit und extremer Geduld geprägt, sondern auch von heftigen Klassenkämpfen, von Generalstreiks 1920, 1923, 1948 und eindrucksvollen Arbeitskämpfen für die Verbesserung von Lebensstandard und Lebensqualität.

Scheinbare Passivität und oberflächliche Ruhe dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch hier sehr viel Unzufriedenheit über die sozialen Verhältnisse angestaut hat. Nur einige Beispiele: Nach 20 Jahren neoliberaler Offensiven ist die Stimmung in der Bevölkerung weitgehend gegen Privatisierungen eingestellt. In den letzten zehn Jahre gab es mindestens fünf erfolgreiche lokale und regionale Bürgerbegehren und Volksabstimmungen gegen Krankenhausprivatisierungen. Nun rückt bei Bürgerentscheiden zunehmend auch eine Rekommunalisierung bereits privatisierter Bereiche in den Mittelpunkt. Viele deutsche Städte und Landkreise haben allerdings schon im Ansatz „griechische Verhältnisse“. Sie sind hoch verschuldet und finanziell am Ende und stehen unter dem Diktat der kommunalen Aufsichtsbehörden, die wie die Troika in Südeuropa nur eines fordern: kürzen und privatisieren. Es ist aber ein schleichender und verzettelter Prozess. Im Verhältnis zu Südeuropa sind die Verhältnisse noch stabiler und hat die herrschende Klasse noch Reserven und Trümpfe in der Hand und besseren Spielraum, um Zugeständnisse zu machen. Das wird sich ändern.

Reform oder Revolution?

Unser Programm muss sich als grundlegende Alternative zum Herumdoktern am Krankenbett des Kapitalismus verstehen. Unser Programm ist ein Programm zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus, das unter den Bedingungen der Krise erstmals seit Jahrzehnten Masseneinfluss bekommen kann. Die Methode unseres Programms stützt sich dabei auf die Methoden, wie sie der revolutionäre Marxismus im Zuge der Geschichte der Arbeiterbewegung entwickelt hat. Unser Ziel ist die sozialistische Umwälzung der Gesellschaft. Das Konzept einer Trennung unseres Programms in zwei Teile, in “realistische Tageslosungen” und in die Vision von einer sozialistischen Gesellschaft als Fernziel, ohne zu erklären, wie wir zum Sozialismus kommen, endet letztlich in einer Politik, die im Rahmen des Kapitalismus bleibt. Auf der Grundlage dieser Gesellschaftsordnung gibt es aber unter den jetzigen Bedingungen der Krise, und das wird noch Jahre wenn nicht Jahrzehnte so bleiben, keinen Spielraum für eine reformistische Politik. Wer diesen Weg geht, wird letztlich die Rolle eines Anhängsels bürgerlicher Politikkonzepte einnehmen.

Unser Programm muss bei den konkreten Fragen des Klassenkampfs ansetzen, bei den konkreten Bedürfnissen der Lohnabhängigen. Es muss dem aktuellen Bewusstseinsstand und den Grad der Mobilisierung der ArbeiterInnenklasse Rechnung tragen und dies mit der Perspektive einer sozialistischen Umwälzung verknüpfen. „Die strategische Aufgabe der nächsten Periode – der vorrevolutionären Periode der Agitation, Propaganda und Organisation – besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Bedingungen der Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut (Verwirrung und Entmutigung der alten Generation, mangelnde Erfahrung der Jungen) zu überwinden. Man muss der Masse im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zu finden zwischen ihren aktuellen Forderungen und dem Programm der sozialistischen Revolution. Diese Brücke muss in einem System von Übergangsforderungen bestehen, die ausgehen von den augenblicklichen Voraussetzungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der ArbeiterInnenklasse und unabänderlich zu ein und demselben Schluss führen: der Eroberung der Macht durch das Proletariat.“ (Leo Trotzki, Übergangsprogramm). Unsere Aufgabe ist nicht die Reform des Kapitalismus, sondern sein Sturz.

Jugendbewegungen und soziale Bewegungen

Im Zuge der Krise sahen wir bereits in den letzten Jahren weltweit eine Reihe von massiven Jugendprotesten (Chile, Quebec, Großbritannien, Griechenland, Indignados in Spanien oder die Occupy-Bewegung in den USA). Diese Bewegungen sind eine direkte Reaktion von großen Schichten der Jugend auf die bürgerlichen Antworten auf die Krise, die nicht zuletzt zu Lasten der Jugend gehen. Hohe Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit selbst für junge Menschen mit akademischem Abschluss, massive Erhöhungen bei den Studiengebühren, ein Leben in der „Prekarität“ mit unsicheren Arbeitsverhältnissen, überlangen Arbeitszeiten und schlechter Bezahlung. Alleine der Slogan „We are 99%“ zeigt einen wichtigen Sprung im Bewusstsein dieser neuen Generation.

Die Radikalität, mit der diese Bewegungen herrschende Verhältnisse anprangern und sich für eine Alternative zum „System“ aussprechen, sind ein neues Phänomen und Ausdruck veränderter objektiver Umstände. Diese Stimmung kann als direkter Ausgangspunkt für die Propagierung eines revolutionären Programms angenommen werden.

Viele dieser Protest waren von der Dominanz halbanarchistischer Konzepte geprägt: “Basisdemokratie”, apolitische Vorurteile gegenüber allen Organisationen (auch solchen mit revolutionären Anspruch). Diese Bewegungen waren dadurch aber auch unfähig sich ein gemeinsames Programm und eine Struktur zu geben und mussten scheitern. Das Fehlen einer klaren Perspektive und die undemokratischen Strukturen ließen viele AktivistInnen früher oder später ermüden.

Kommt es jedoch zu einer Fusion dieser Bewegungen mit der organisierten Arbeiterbewegung, wie es in Griechenland teilweise und in Spanien in noch viel deutlicherer Form geschehen ist, sehen wir die völlige Transformation der Situation. Als der Kampf der wenigen tausenden Bergarbeiter nach Madrid getragen wurde, verwandelte sich die spanische Hauptstadt in einen vorrevolutionären Hexenkessel. Hunderttausende säumten bis tief in die Nacht die Straßen, in den nächsten Tagen kam es zu einer Welle spontaner Streiks und selbst im Repressionsapparat traten massive Proteste und sogar Sabotageakte auf. Die „indignados“ entdeckten innerhalb von Stunden die Zentralität der ArbeiterInnenklasse und ihrer Kampfmethoden, um ihre sozialen und politischen Forderungen zu vertreten.

MarxistInnen betonen die Zentralität der Orientierung auf die ArbeiterInnenklasse im Kampf gegen die „1%“. Wir negieren dabei aber auch nicht den Wert von Jugend- und Studierendenprotesten und unterstützen diese vorbehaltlos. Auch der Kampf um freie Bildung und gegen die Ökonomisierung des Bildungssystems ist vor allem auch ein wichtiges Anliegen der Arbeiterbewegung. Diese Bewegungen können aber nur erfolgreich geführt werden, wenn sie kollektive Kampfformen entwickeln, die der Arbeiterbewegung entlehnt sind (Streiks, Großdemos). Auch kommt es darauf an, dass sie bei der Arbeiterbewegung Unterstützung suchen und finden. Dies geht Hand in Hand mit demokratischen Organisationsmethoden, die mit dem Konzept der sogenannten “Konsensdemokratie” unvereinbar sind. Dazu gehören demokratische Debatten über Programm und Strategie, die mit einem Mehrheitsbeschluss enden müssen, damit die Bewegung entlang einer bestimmten Linie handlungsfähig sein kann. Auf dieser Grundlage gilt es SprecherInnen zu wählen, die die Bewegung nach außen vertreten können, dieser aber jederzeit rechenschaftspflichtig sein müssen und die auch wieder abwählbar sind.

Diese Bewegungen unterliegen immer Auf und Abs. Die Mehrheit der in einer Bewegung Aktiven kann nicht ewig auf der Straße demonstrieren oder Plätze besetzen. Der Erfolg einer Bewegung misst sich nicht zuletzt daran, ob es gelingt möglichst viele AktivistInnen dauerhaft auf der Grundlage einer sozialistischen Programms zu organisieren.

In jeder Bewegung herrscht ein Wettstreit der Ideen, der ausgefochten werden muss. Unser vorrangiges Ziel in der Intervention ist es die erhöhte Politisierung zu nützen  um die Kräfte des Marxismus zu stärken.

Welche Organisation wir wollen – und wie wir dahin kommen

Wir sind uns aufgrund der Erfahrungen der Geschichte der Arbeiterbewegung bewusst, dass die Überwindung des Kapitalismus nur möglich ist, wenn die ArbeiterInnenklasse über Organisationen verfügen, die imstande sind, eine revolutionäre Bewegung zum Sieg zu führen. Das beste Beispiel liefert die Russische Revolution von 1917, als Negativbeispiel muss die gescheiterte Revolution in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg herhalten.

Es existiert heute keine Organisation, die diese Rolle einnehmen kann, aber als revolutionäre MarxistInnen versuchen wir durch unsere theoretische und praktische Arbeit einen Kern einer solchen Organisation in unserem Land herauszubilden. Die Aufgabe einer marxistischen Strömung in der ArbeiterInnenbewegung muss es sein, alle Ansätze für eine klassenkämpferische Bewegung, die sich aus den Widersprüchen des Kapitalismus, die sich auch in den traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenbewegung widerspiegeln, weiterzuentwickeln und vorwärtszutreiben. Dies setzt voraus, dass MarxistInnen dort präsent sind, wo sich Klassenkämpfe entfalten. Wir machen das nicht nur aus einer Beobachterfunktion, wir kommentieren nicht nur von außen, sondern versuchen je nach Stärke unserer Verankerung in der Bewegung unseren aktiven Beitrag zum Erfolg solcher Kämpfe zu leisten. Wir begleiten diese Kämpfe mit unserem politischen Material (Zeitung, Flugblätter, Homepage, neue soziale Medien), analysieren diese Prozesse und machen auch Vorschläge, mit welchen Methoden diese Kämpfe aus unserer Sicht organisiert und geführt werden sollten. Damit wollen wir die Debatte in den Organisationen der ArbeiterInnenbewegung und unter kämpferischen Belegschaften beleben. Die Erfahrungen und Lehren aus solchen Kämpfen versuchen wir zu verallgemeinern, damit sie Teil des kollektiven Gedächtnisses der Bewegung werden können.
Wir wollen den ArbeiterInnen, die in solchen Kämpfen aktiv sind, eine Stimme geben. Sie sollen über ihre Arbeits- und Lebenssituation und über Missstände berichten können. Wir organisieren auch Solidarität mit Kämpfen. Aber es geht um mehr. Es geht ausgehend von diesen Erfahrungen um die Ausarbeitung einer Perspektive, einer Strategie und eines Programms, die den Herausforderungen, vor denen wir angesichts der Krise stehen, gerecht werden. Durch die Teilnahme an realen Kämpfen gepaart mit einem ernsthaften Studium marxistischer Theorie versuchen wir jenen Stamm an GenossInnen zu schulen, der imstande ist, diesen Perspektiven Leben einzuhauchen und eine Organisation aufzubauen, die es im Kampf zur Überwindung des Kapitalismus brauchen wird.

Ausblick

Auf den ersten Blick sieht die Zukunft nicht allzu rosig aus: Die Wirtschaft steckt in der Krise fest, die ArbeiterInnenklasse und die Gewerkschaften stehen unter enormem Druck, und es fehlt ihr an einer politischen Stimme, die den Herausforderungen dieser Epoche auch gerecht werden kann. Unsere Aufgabe als marxistische Strömung ist es aber die Prozesse in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu verstehen. Unser Hauptinteresse gilt der Frage, welche Auswirkung diese Prozesse auf das Bewusstsein der ArbeiterInnen und der Jugend haben. Und dieses Bewusstsein wird in dieser Periode massiv erschüttert werden, etwas anderes ist unter den beschriebenen Bedingungen gar nicht möglich. Unter dem Eindruck von einem großen Ereignis nach dem anderen wird so die Basis für revolutionäre Prozesse entstehen.

Kollektiv die Perspektiven des Klassenkampfs auszuarbeiten, ist ein wichtiger Teil unserer politischen Arbeit. Sie sind die Arbeitshypothese, entlang der wir unsere Arbeit organisieren, und zeichnen ein größeres Bild von den Bedingungen unter denen wir politisch aktiv sind. Durch die Erfahrungen aus unseren Intervention in die ArbeiterInnenbewegung, ihre Debatten und Kämpfe können wir auf der Basis von Ereignissen unsere Perspektiven konkretisieren und uns eine politische Klarheit erarbeiten, die es uns ermöglichen wird, möglichst wenig Fehler im Aufbau einer starken marxistischen Strömung in der ArbeiterInnenbewegung und der Jugend zu machen. Den meisten AktivistInnen in der organisierten ArbeiterInnenbewegung und der Linken fehlt eine weiter gehende Perspektive. Sie haben daher kein klares Verständnis ihrer Aufgaben. Daran scheitern auch viele und ziehen sich dann wieder aus der politischen Aktivität zurück oder passen sich der Bürokratie an. Die marxistische Theorie und unsere langfristigen Perspektiven sind daher ein wesentliches Rüstzeug, um in diesen Zeiten vor lauter Bäumen nicht den Wald aus den Augen zu verlieren und frustriert aufzuhören. Geduldiges erklären steht heute auf der Tagesordnung, um Schritt für Schritt die Grundlage für eine starke marxistische Strömung zu legen.

Diese Krise stellt einen Epochenwandel in der Entwicklung des Kapitalismus dar und wird noch viele Erschütterungen bringen. Wir müssen uns politisch, organisatorisch und auch psychologisch auf diese Entwicklungen und die damit verbundenen Aufgaben vorbereiten. Die Frage ist nicht, ob überhaupt, sondern wann die relative Ruhe aufbrechen wird. Die bei manchen Linken spürbare Ungeduld und Frustration ist unangebracht. Es ist bezeichnend, dass seriöse bürgerliche Medien wieder von tiefer kapitalistischer Krise und der Aktualität des Marxismus reden. Wir müssen nicht die Klassenkämpfe und Bewegungen von außen künstlich anstoßen.. „Agitieren, studieren, organisieren“, lautet eine alte Parole der ArbeiterInnenbewegung. In diesem Sinne müssen wir uns politisch und organisatorisch auf die unvermeidlichen Konflikte und gesellschaftlichen Explosionen vorbereiten.

So beschlossen am 13. Dezember 2015 von der Funke-Bundeskonferenz.

Teil I

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