Dieses Dokument wurde von den Delegierten auf dem Weltkongress 2021 der Internationalen Marxistischen Tendenz angenommen. Es enthält unsere allgemeine Analyse der wichtigsten Prozesse in der Weltpolitik in einer Zeit, die von beispiellosen Krisen und Turbulenzen geprägt ist. Angesichts des Dynamits im Fundament der Weltwirtschaft und der Corona-Pandemie, die immer noch einen Schatten auf die globale Situation wirft, führen alle Wege zu einer Verschärfung des Klassenkampfes.
„So hat die Krisis wie ein braver alter Maulwurf gewühlt.“ (Marx an Engels, 22. Februar 1858)
Am 16. Juli erscheint die erste Ausgabe des Theoriemagazins der International Marxist Tendency (IMT) in deutscher Sprache. Gewiss ein wichtiger Beitrag zur marxistischen Theoriebildung im deutschen Sprachraum. Überzeuge dich selbst! Hier bestellen!
In den letzten Wochen hat die Debatte über Identitätspolitik Fahrt aufgenommen und dies war allerhöchste Zeit. Allerdings zeigen sich in großen Teilen der Linken falsche Definitionen darüber, was Identitätspolitik nun eigentlich bedeuten. Deshalb werden ihre Gefahren verkannt.
Der Kapitalismus spielt schon lange keine fortschrittliche Rolle mehr und hätte schon längst von der Arbeiterklasse gestürzt werden müssen. Aber warum ist das noch immer nicht passiert? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der Rolle der Führung und der revolutionären Partei in revolutionären Prozessen.
Inhalt
1 – Wozu überhaupt Perspektiven? 2
2 – Internationaler Hintergrund – Weltperspektiven 3
3 – Organische Krise des Kapitalismus 6
4 – Deutschland, die EU und die Welt 10
5 – Corona-Pandemie als Zäsur: Keine Rückkehr zur alten Normalität. Krise aller Lebensbereiche 12
9 – Wahljahr 2021 – Die Bourgeoisie braucht eine stabile Regierung und mehrere Optionen 21
10 – Die herrschende Klasse und ihre traditionellen Parteien 22
13 – Spezielle Krise in Ostdeutschland 32
15 – DIE LINKE – Dilemma und Krise des Reformismus 39
16 – Rot-Grün-Rot im Bund wird nicht kommen 41
17 – Jugend als gesellschaftlicher Barometer – Angriffe, Bewegung, Radikalisierung 42
Die turbulenteste Periode des modernen Kapitalismus hat begonnen. Privateigentum an Produktionsmitteln, privates Profitstreben und Nationalstaat stehen einer fortschrittlichen Entwicklung der Menschheit im Wege. Aber noch nie in der Geschichte hat eine herrschende Klasse der Geschichte freiwillig ihre Macht und Privilegien abgegeben. Sie muss durch einen revolutionären Kampf enteignet und entmachtet werden.
Aber was bedeutet überhaupt Revolution? Lassen wir Lenin zu Wort kommen. Im Jahre 1915 erklärte er:
„Für den Marxisten unterliegt es keinem Zweifel, dass die Revolution unmöglich ist ohne revolutionäre Situation, wobei allerdings nicht jede revolutionäre Situation zur Revolution führt. Welches sind, allgemein gesprochen, die Anzeichen einer revolutionären Situation? Wir machen uns sicherlich keines Irrtums schuldig, wenn wir auf folgende drei Hauptmerkmale hinweisen:
Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten; diese oder jene Krise der ‚Spitzen‘, Krise der Politik der herrschenden Klasse, dadurch Erzeugung eines Risses, durch den die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen durchbricht. Für den Ausbruch einer Revolution genügt es gewöhnlich nicht, dass ‚die Unterschichten nicht mehr den Willen haben‘, sondern es ist auch noch erforderlich, dass ‚die Oberschichten nicht mehr die Fähigkeit haben‘, es in der alten Weise weiter zu treiben.
Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen über das gewohnte Maß hinaus.
Beträchtliche – aus den angeführten Ursachen sich herleitende – Steigerung der Aktivität der Massen, die sich in einer ‚friedlichen‘ Epoche wohl ruhig ausplündern lassen, in stürmischen Zeiten aber durch die Gesamtheit der Krisen Verhältnisse, ebenso aber auch durch die ‚Spitzen‘ selbst zu selbständigem historischen Auftreten angetrieben werden. Ohne diese objektiven Veränderungen, die nicht nur vom Willen einzelner Gruppen und Parteien, sondern auch vom Willen einzelner Klassen unabhängig sind, ist eine Revolution – der allgemeinen Regel nach – unmöglich.
Die Gesamtheit dieser objektiven Veränderungen heißt eben revolutionäre Situation. Eine solche revolutionäre Situation lag in Russland 1905 vor, sie lag in allen Revolutionsepochen in Westeuropa vor; sie lag aber ebenso auch in Deutschland in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor und in Russland in den Jahren 1859-1861 und 1879/80, obwohl es in allen Fällen eine Revolution nicht gab. Warum? Weil nicht aus jeder revolutionären Situation eine Revolution entsteht, sondern nur aus einer Situation, in der zu den oben aufgezählten objektiven Wandlungen noch eine subjektive hinzukommt, nämlich: die Fähigkeit der revolutionären Klasse zu revolutionären Massenaktionen, genügend stark, um die alte Regierungsgewalt zu zerschmettern (oder zu erschüttern), – sie, die niemals, selbst in der Epoche der Krisen nicht, ‚fällt‘, wenn man sie nicht ‚fallen lässt‘.“ (Lenin, Der Zusammenbruch der II. Internationale, Werke Band 21, S. 206-207).
Die objektiven Voraussetzungen einer Revolution können noch so reif oder sogar überreif sein – ohne eine entschlossene, bewusste und optimal vorbereitete und geschulte revolutionäre Führung wird sie nicht gelingen. Diese Aufgabe fällt den revolutionären Marxisten zu.
Trotzki brachte es wie folgt auf den Punkt:
„Ein großer historischer Schock ist notwendig, um in aller Schärfe die Widersprüche zwischen der Führung und der Klasse zu enthüllen. Die mächtigsten historischen Schocks sind Kriege und Revolutionen. Genau aus diesem Grunde wird die Arbeiterklasse oft unversehens von Krieg und Revolutionen überrascht. Aber sogar dann, wenn die alte Führung ihre innere Korruption offenbart hat, kann die Klasse sich nicht aus dem Stegreif eine neue Führung schaffen, zumal wenn sie nicht aus der vorangegangenen Periode starke revolutionäre Kader ererbt hat, die fähig sind, sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen.“ (Trotzki, Klasse, Partei und Führung, 1940).
Beim Aufbau einer revolutionären, marxistischen Strömung sind Perspektivendiskussionen kein Luxus, sondern absolut lebensnotwendig. Perspektiven sind keine Hellseherei oder Prophezeiung, sondern Arbeitshypothesen. Wir müssen stets einen kühlen und klaren Kopf bewahren. Ohne klare Perspektiven wären wir verloren und extremen Schwankungen ausgesetzt – von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Theorie, Grundsätze, Programm und eben Perspektiven sind die Existenzberechtigung jeder Organisation. Falsche Analysen und Perspektiven, die nicht rechtzeitig korrigiert werden, können auch die größten und scheinbar unbesiegbaren Organisationen zu Fall bringen und Schiffbruch auslösen.
Mit diesem vorliegenden Papier bereiten wir uns auf die Entwicklungen im Jahr 2021 vor.
Es ist eine gute und absolut notwendige Tradition in der IMT, allen Diskussionen über nationale Perspektiven stets Weltperspektiven voranzustellen. In diesem Kapitel können wir aus Platzgründen nur Grundzüge der Weltperspektiven darstellen. Wir verweisen hier auf die von der IMT herausgegebenen Weltperspektiven-Papiere.
Der Kapitalismus umspannt die gesamte Welt. Welthandel und weltweite Arbeitsteilung haben alle Unternehmen, Industrien, Länder und Regionen zu einem einzigen System verbunden. Dadurch sind nationale Entwicklungen stets nur im Zusammenhang der weltweiten Entwicklung des Klassenkampfes zu verstehen. Die Krise in Deutschland ist Teil der globalen organischen Krise des Kapitalismus.
Wir sind in die turbulenteste Periode der Menschheitsgeschichte eingetreten. Die gegenwärtige wirtschaftliche, soziale und politische Krise kann auf der Grundlage des gegenwärtigen Systems keine dauerhafte Lösung finden. Auf eine vorübergehende Erholung wird ein neuer und noch steilerer Niedergang folgen. Scharfe und plötzliche Wendungen sind zwangsläufig.
Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Corona-Pandemie und Lockdown nicht die Ursache der gegenwärtigen Wirtschaftskrise sind. Die Krise begann lange bevor die meisten Menschen vom Corona-Virus hörten. Aber Pandemie und Lockdown haben zweifellos die ganze Situation verkompliziert und die Krise vertieft. Sie wirkten wie ein Katalysator der dem System inhärenten Widersprüche und offenbarten die hohe Krisenanfälligkeit des globalen Wirtschaftssystems.
Der Einbruch der weltweiten Wirtschaft im Jahre 2020 durch COVID-19 war weitaus schneller und heftiger als die Finanzkrise von 2008 und wies Parallelen zur Großen Depression der frühen 1930er Jahre auf. Die kolossalen Beträge, die zur Abfederung der Auswirkungen an das Großkapital vergeben und in die Wirtschaft gepumpt wurden, sind historisch beispiellos. Aber selbst diese enormen Summen, die den Marshall-Plan nach dem 2. Weltkrieg im Vergleich geradezu unbedeutend erscheinen lassen, werden nicht ausreichen, um den Abwärtstrend der Wirtschaft aufzuhalten. Tatsache ist, dass die kapitalistische Wirtschaft derzeit nur dank enormer Finanzspritzen der Regierung weiterlaufen kann. Sie hängt jetzt ausschließlich von kolossalen Zuwendungen des Staates ab. Aber nach den Ideologen der Marktwirtschaft sollte der Staat im Wirtschaftsleben eigentlich keine Rolle spielen.
In allen Ländern werden die Massen jahrzehntelang mit Einschnitten in ihrem Lebensstandard, Arbeitslosigkeit und Kürzungen konfrontiert sein. Die Krise ausbaden werden die Armen, die Alten, die Kranken, die Arbeitslosen und die Arbeiterklasse im Allgemeinen. Aber auch große Teile des Kleinbürgertums kommen nicht ungeschoren davon. Dies betrifft insbesondere Restaurant- und Barbesitzer sowie Kunst- und Kreativschaffende.
Früher oder später führen die riesigen Defizite zu hoher Inflation, Kreditverknappung, massivem Rückgang der Kreditaufnahme und einem neuen tiefen Einbruch. Dies ist das perfekte Rezept für Klassenkampf in allen Ländern. Viele weitsichtige Strategen des Kapitals kommen zunehmend zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie wir. Die Bourgeoisie steckt in einer Zwickmühle. Sie versteht, dass Revolutionen in der gegenwärtigen Situation unausweichlich sind. In der Vergangenheit hatten die Menschen vieler Länder selbst in Zeiten tiefer Krisen und Kriege das Gefühl, dass die Regierung zumindest eine Art Plan hatte, um aus der Krise herauszukommen.
40 Millionen Menschen in den USA haben in den ersten Monaten der Krise 2020 ihren Job verloren. Die Plötzlichkeit des Zusammenbruchs kam für die US-Arbeiterklasse wie ein Schock. Am härtesten traf es benachteiligte Gebiete, in denen hauptsächlich ärmere „People of Color“ und ethnische Minderheiten leben. Die seit langem bestehenden rassistischen Ungleichheiten haben sich verschlimmert. Die nach dem Mord an George Floyd im Juni 2020 erneut aufgeflammte Black Lives Matter-Bewegung (BLM) in den USA spiegelte die Tiefe der weltweiten kapitalistischen Krise wider. Es war die bislang größte Bewegung in der Geschichte der USA. Bis zu zehn Prozent der gesamten Bevölkerung haben daran teilgenommen. Trotz äußerster Brutalität der Staatsorgane hielten die Proteste wochenlang an. Dies war eine Art Generalprobe für die künftige amerikanische Revolution.
Spaltungen in der herrschenden Klasse sind das erste Anzeichen für eine sich entwickelnde revolutionäre Situation. Der damalige Präsident Donald Trump wollte die Armee zur Niederschlagung der BLM-Revolte einsetzen. Doch dies provozierte eine Rebellion der Armeeführung und sogar eines Teils der Republikaner. Die Ereignisse um Trumps sogenannten „Aufstand“ und die „Stürmung“ des Capitol in Washington D.C. am 6. Januar 2021 sind Ausdruck der tiefsten Krise in der Geschichte der bürgerlichen Demokratie in den USA. Sie sind nur ein erster Hinweis auf die kommende Instabilität und gesellschaftlichen Erschütterungen in der Hochburg des Weltkapitalismus.
Jahrzehntelang galten die USA als „Mutterland des Antikommunismus“. Doch in den vergangenen Jahren drückte sich der gewaltige Bewusstseinswandel auch darin aus, dass Bernie Sanders mit seinen Forderungen nach „Sozialismus“ und „Revolution gegen die Milliardärsklasse“ Millionen Menschen anzog. 67 Prozent der jungen Menschen würden laut Umfragen einen sozialistischen Präsidenten wählen. Doch Sanders kapitulierte zweimal vor dem Apparat der Demokratischen Partei und enttäuschte die von ihm selbst geweckten Hoffnungen von Millionen Menschen.
Den USA stehen turbulente Zeiten bevor. Nichts wird bleiben, wie es war. Es wird Siege und Niederlagen geben. Aber über Jahre wird das Pendel scharf nach links schwingen.
Dampf ist eine enorme Kraft. Aber er verpufft nutzlos, wenn er nicht auf einen einzigen Punkt, einen Kolbenkasten, konzentriert ist, der seine Kraft zentralisiert und vertausendfacht. So ist es auch bei der Revolution. Ohne Organisation und Führung bliebe die enorme Stärke der Arbeiterklasse nur eine potenzielle, nicht aber eine tatsächliche Macht. Nur mit der marxistischen dialektischen Methode können wir hinter die Oberfläche (die „Fakten“) schauen und in die realen Prozesse eindringen, die langsam unter der Oberfläche reifen. Die gegenwärtigen Umwälzungen kommen nicht von ungefähr. Sie wurden in der gesamten vorhergehenden Periode vorbereitet.
Dialektisch gesehen verkehrt sich alles früher oder später in sein Gegenteil. Das Bewusstsein der Arbeiterklasse entwickelt sich nicht geradlinig. Es kann lange Zeit hinter den Ereignissen zurückbleiben. Aber früher oder später holt es mit einem Schlag auf – genau das macht eine Revolution aus.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass der Prozess revolutionärer Umwälzungen weltweit bereits begonnen hat – im Sudan, Libanon, Irak, Israel, Ecuador, Chile, Indonesien, Thailand, Italien, USA, Weißrussland, Russland, Pakistan, Frankreich, Katalonien, Iran, Algerien, Tunesien, Hong Kong, Haiti und anderswo. Die Radikalisierung bewirkt einen raschen Bewusstseinswandel der Massen. Überall sehen wir wachsende Unzufriedenheit, Wut, Zorn und einen Hass auf die bestehende Ordnung.
Zunehmender Nationalismus, nicht internationale Zusammenarbeit, ist das vorherrschende Merkmal der gegenwärtigen Periode. Er bedroht das gesamte zerbrechliche System des internationalen Handels, das von der Bourgeoisie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde.
Tendenzen zum Handelskrieg zwischen den USA und China und zwischen den USA und Europa sind unübersehbar. Und selbst zwischen den europäischen Nationen entstehen immer wieder gefährliche Bruchlinien.
Deutschland war der Hauptmotor der europäischen Wirtschaft, aber es wird jetzt von der Krise hart getroffen. Seine Hauptstärke lag in seiner Exportfähigkeit. Diese Stärke erweist sich nun aber als seine Hauptschwäche. Die Wirtschaftskrise verschärft die nationalen Unterschiede enorm. Der Brexit markiert erst den Beginn eines Zerfallsprozesses, der eine Krise nach der anderen auslösen wird. Seine Auswirkungen werden verheerend für Europa und katastrophal für Großbritannien sein.
China war in der letzten Zeit eine der wichtigsten treibenden Kräfte der Weltwirtschaft. Aber jetzt wird dialektisch alles in sein Gegenteil verkehrt. China wird nicht mehr als Teil der Lösung, sondern als Teil des Problems gesehen. China hat eine gewaltige industrielle Basis mit einer enormen Produktionskapazität aufgebaut. Aber die Binnennachfrage kann dieses kolossale Produktionspotenzial nicht absorbieren. China muss exportieren, um zu überleben. Doch sein Erfolg im Exportbereich hat nun bei seinen Konkurrenten, vor allem in den USA, aber auch in Europa, heftige Reaktionen hervorgerufen.
Lenin bezeichnete einst den Kapitalismus als Schrecken ohne Ende. Die Pandemie legt die brutalen globalen Ungleichheiten offen. Laut UNO-Welternährungsprogramm sind mindestens 265 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht, Tendenz steigend. Weltweit kämpft jeder zweite Mensch täglich ums reine Überleben. Die Hälfte der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Weltweit arbeiten zwei Milliarden Menschen im informellen, prekären Sektor ohne Krankenkasse und Absicherung, die Mehrheit davon in ärmeren Ländern des globalen Südens.
Doch statt in ihr Gesundheitswesen zu investieren und sich so gegen den Ansturm des Corona-Virus zu wehren, müssen diese Länder ihre kostbaren Ressourcen für die Schuldentilgung nutzen. In Lateinamerika haben sich vor allem die rechten Regierungen als völlig unfähig erwiesen, mit der von COVID-19 ausgehenden Bedrohung für das Leben der Menschen umzugehen. Die Massenproteste und die Black Lives Matter-Bewegung in den USA haben hier die Stimmung der Massen befeuert. Denn die meisten hätten es nie für möglich gehalten, dass so etwas in der Hochburg des Imperialismus möglich wäre. Die Massen sind zum Kampf bereit!
Weltweit erleben wir einen Prozess der Polarisierung zwischen den Klassen, der sich unterschiedlich ausdrückt. Wo immer traditionelle reformistische Arbeiterparteien den Massen keinen Ausweg aus der Krise aufzeigen können und im Niedergang sind, können sich in ihren Reihen, aber auch außerhalb, neue Organisationen und Strömungen eines linkeren Reformismus entwickeln. Unter Umständen können aber auch bürgerliche und rechte Parteien und Demagogen auf verzerrte Art und Weise versuchen, sich das bestehende Vakuum und die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums zunutze zu machen. Doch ihre Erfolgsaussichten sind begrenzt. „Da der Rechtspopulismus seine Versprechen an die wirtschaftlich Frustrierten nicht einhalten kann, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Mistgabeln hervorgeholt werden gegen den Kapitalismus selbst und gegen den Reichtum derer, die von ihm profitieren“, so lautet die denkwürdige Perspektive der Financial Times vom 30. Dezember 2020 in Anspielung an die Bauernkriege vor fast genau 500 Jahren.
Illusionen, wonach der Kapitalismus reformiert, humanisiert und demokratisiert werden könne, werden zunehmend durch den Lauf der Ereignisse auf grausame Weise entlarvt. Die Massen werden allmählich ihre Schlussfolgerungen ziehen und sich politisch radikalisieren. Wir müssen „hart in der Sache und sanft im Ton“ Kritik an der reformistischen Linken und Führung der Arbeiterbewegung äußern und geduldig erklären.
Um die richtige Perspektive und die richtige Taktik herauszuarbeiten, müssen wir die andere Seite der Frage verstehen. Die Kraft der Trägheit ist ein bekanntes und einfaches Element der Mechanik. Die mächtigste Trägheit von allen ist die Kraft der Gewohnheiten, Bräuche und Traditionen, welche schwer auf dem menschlichen Bewusstsein lasten. Um einen Sprung nach vorn zu machen, muss diese Barriere überwunden werden. Aber das kann nur durch die mächtigsten sozialen und wirtschaftlichen Katastrophen geschehen, die Männer und Frauen dazu zwingen, Dinge in Frage zu stellen, die sie bisher als fest und unveränderlich betrachteten.
Wir wissen, dass der Kapitalismus nicht einfach unter der Last seiner eigenen Widersprüche zusammenbrechen wird. Er kann selbst aus der tiefsten Krise herauskommen und er wird es auch aus der gegenwärtigen Krise. Die Frage ist jedoch: Wie und zu welchem (sehr hohen) Preis für die Menschheit? Die nächste Erholung wird nur vorübergehend sein und den Auftakt zu einem neuen und noch tieferen Zusammenbruch der Produktivkräfte bilden. Der Kapitalismus weigert sich zu sterben. Doch hinter den Symptomen des tödlichen Zerfalls kämpft eine neue Gesellschaft darum, geboren zu werden. Es ist unsere Pflicht, mit aller Kraft diesen Todeskampf zu verkürzen und die Geburt des neuen Systems so rasch und so schmerzlos wie möglich herbeizuführen.
Die Globalisierung und Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung hat die internationalen Verflechtungen massiv verstärkt und trägt jetzt auch dazu bei, die Revolution im Weltmaßstab auszubreiten. Es ist unmöglich zu sagen, wo der erste Durchbruch stattfinden wird. Er könnte in Brasilien, Italien, im Libanon, in Griechenland, Russland oder China stattfinden – oder vielleicht sogar in den USA? Die Folgen werden sich viel schneller über die ganze Welt ausbreiten als jemals zuvor in der Geschichte.
In der Vergangenheit dauerten vorrevolutionäre Situationen nicht lange. Rasch kam die Entscheidung: Sieg der Revolution oder der Konterrevolution. Aber das gegenwärtige Kräfteverhältnis zwischen den Klassen lässt eine solch rasche Lösung nicht mehr zu. Denn die Arbeiterklasse wird von der traditionellen Führung ihrer Massenorganisationen ausgebremst. Daher kann sich die Krise des Kapitalismus mit Höhen und Tiefen noch über Jahre oder Jahrzehnte hinziehen. Dabei wird es heftige Ausschläge der öffentlichen Meinung sowohl nach links, als auch nach rechts geben. Die Massen werden verzweifelt nach einem Ausweg aus der Krise suchen. Alle bestehenden Organisationen und Führer werden dabei auf die Probe gestellt.
Die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Weltrevolution und eine internationale sozialistische Demokratie sind, wie Trotzki schon 1938 hervorhob, nicht nur reif, sondern überreif. Aber der subjektive Faktor ist entscheidend. Und den müssen wir gerade auch im größten kapitalistischen Land Europas aufbauen.
Schon die Krise von 2008/2009 war keine „normale“, d.h. konjunkturelle Krise. Sie war Ausdruck einer organischen Krise des Kapitalismus. Das System ist global an seine ihm innewohnenden Grenzen gestoßen und diese Widersprüche manifestieren sich in einer Periode, die von Krisen, Kriegen, Revolutionen und Konterrevolutionen geprägt ist. Während es nach wie vor konjunkturelle Schwankungen gibt, der Zyklus von Boom und Rezession also nicht verschwindet, ist die allgemeine Entwicklungskurve über ihren Zenit hinweggeschritten und bewegt sich abwärts. Jedoch werden die Boom-Phasen kurz und schwach sein. Sie werden keine merklichen Verbesserungen für die Massen bringen. Diese Booms werden sich für die Massen nicht nach solchen anfühlen. Umgekehrt werden die Abschwünge tief und hart sein. Sie werden die Massen mit Armut, Elend und Erniedrigung überhäufen. Die organische Krise ist im Rahmen des Kapitalismus nicht mehr zu lösen, ohne den Lebensstandard und die Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerstören.
Die aktuelle Krise ist eine Fortsetzung der Krise von 2008. Schon 2018 wurde deutlich, dass das „blutarme“ Wirtschaftswachstum nach der letzten Krise auf ein Ende zusteuert. Das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland ging schon vor dem Einbruch der Krise steil nach unten: 2019 lag es bei + 0,6 Prozent. 2020 ging das BIP um fünf Prozent zurück. Ob das für 2021 von manchen Instituten erwartete Wachstum von + 3,5 Prozent erreicht wird, ist fraglich. Selbst damit wäre der Einbruch des Vorjahrs bei weitem nicht wettgemacht. Und für das erste Quartal 2021 erwartet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) einen BIP-Rückgang von drei Prozent. Ein langanhaltender Aufschwung ist ausgeschlossen und auch ein zaghaftes Wirtschaftswachstum kann unter heutigen Bedingungen nicht die grundlegenden Probleme der Massen lösen.
Die bundesweite amtliche Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 6,3 Prozent. Nach wie vor bestehen hier starke regionale Unterschiede. So liegt der Wert im Osten bei 7,9 Prozent und in den südlichen Flächenländer Bayern und Baden-Württemberg noch unter fünf Prozent. Dafür sind es in zwei Stadtstaaten klar über zehn Prozent: Berlin (10,6 Prozent) und Bremen (11,5 Prozent). Wir wissen, dass Statistiken die reale Lage nur verzerrt wiedergeben. Real sind deutlich mehr Menschen erwerbslos oder unterbeschäftigt. Die Lage auf dem Lehrstellenmarkt ist seit Ausbruch der Krise kritischer als in den letzten Jahren. Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt erstmals seit gut 15 Jahren wieder stark zu und erfasst derzeit offiziell 900.000 Menschen.
Die Corona-Pandemie hat den neuen Einbruch der Wirtschaft nicht verursacht, jedoch auf atemberaubende Weise beschleunigt. Die klassische Überproduktionskrise der Automobil- und Nutzfahrzeugindustrie, also einer Schlüsselbranche der deutschen Wirtschaft, war schon im Herbst 2019 sichtbar, als 99,9 Prozent sich unter „Corona“ allenfalls eine Biersorte oder den italienischen Begriff für „Krone“ vorstellen konnten. So häuften sich schon damals Meldungen über eine stockende Produktion in der Autobranche.
Als im März 2020 der Corona-Lockdown ausgerufen wurde, schnellte die Kurzarbeiterzahl bundesweit kurzfristig auf 10,1 Millionen hoch. Im Vergleich dazu betrug die Zahl aller Kurzarbeiter auf dem Höhepunkt der letzten großen Wirtschaftskrise im Mai 2009 lediglich 1,44 Millionen Menschen. Mit dem Instrument der Kurzarbeit wird ein Stück weit auch die Arbeitslosenzahl gedrückt und dämpft auf kurze Sicht die Auswirkungen einer Abwärtsspirale der Überproduktion ab. Die Stunde der Wahrheit könnte Ende 2021 anbrechen, wenn die verlängerten Kurzarbeiterregelungen auslaufen.
Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass gerade auch in Teilen der südlichen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg mit ihren großen Autowerken die Kurzarbeiterquote besonders hoch ist. In dieser Krise kehrt sich ein jahrzehntelanger Vorteil des deutschen Kapitalismus nun in sein Gegenteil um: die starke Abhängigkeit seiner Industrie von Exporten vor allem in das europäische Ausland. Dies betrifft zentral die Auto- und Maschinenbaubranche.
Unterschiedliche Branchen wurden unterschiedlich stark von der Krise getroffen. So boomen etwa die Bauindustrie und die exportorientierte deutsche Fleischindustrie, Versandhäuser und Logistikkonzerne. Dagegen wurden Gastronomie, Einzelhandel und Luftfahrt tief nach unten gerissen. Alle Prognosen darüber, wie es jetzt wirtschaftlich weitergeht, sind nach wie vor allerhöchstens Richtwerte, wenn nicht völlige Kaffeesatzleserei. Aktuell scheint es eine Erholung und teilweise scharfe Entwicklungen der Verlaufskurve nach oben zu geben. Wenn es zu einer größeren Pleitewelle von Unternehmen kommt, könnte das zu einer Bankenkrise führen. Gerade Italien ist in der EU ein potenzieller Kandidat für eine solche Krise. Das könnte im Extremfall zu einem Staatsbankrott und womöglich zu einem Ausscheiden aus der EU führen. Die europäische herrschende Klasse wird jedoch alles Erdenkliche tun, um das zu verhindern, denn das würde einem Zusammenbruch der EU gleichkommen.
Die Bourgeoisie und ihre Staaten versuchen mit allen Mitteln diese Krise zu verschleppen. Das wird ihnen nur zu einem gewissen Grad gelingen. Massenentlassungen und Standortschließungen sind jetzt schon auf der Tagesordnung und wirken sich unmittelbar auf das Bewusstsein aus. Wir müssen aber auch Augenmaß bewahren. Der absolute Pessimismus, dass es einen Absturz ohne Ende geben würde, ist nicht die wahrscheinlichste Perspektive. Der Einbruch ist massiv und die Erholung wird nicht linear nach oben gehen. Vielmehr sollten wir uns auf eine Phase enormer Schwankungen einstellen und eine längere Epoche des Niedergangs.
Die Folgen für das Bewusstsein der Massen werden enorm sein. Nach der Krise von 2008 kam es über Jahre zu spontanen Massenprotesten und teilweise sogar revolutionären Bewegungen. Das wiederholt sich nun einer viel höheren Ebene. Die Folgen der letzten Krise und ihrer „Lösung“ haben bereits breite Schichten der Jugend und Arbeiterklasse weltweit in Bewegung versetzt.
Während manche bereits einen starken Aufschwung und Ausweg aus der Krise kommen sehen, ziehen seriöse bürgerliche Ökonomen weniger optimistische Schlussfolgerungen. So etwa Thomas Meyer, Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute und bis 2012 Chefvolkswirt der Deutschen Bank in einem Presseinterview:
„Frage: In welcher Phase befinden wir uns derzeit?
Antwort: Menschen schauen sich nach Alternativen zur Geldaufbewahrung um. Das begann nach der Finanzkrise. Die Aktien- und Immobilienmärkte haben eine enorme Expansion erlebt. Die Preise sind gestiegen. Selbst in der Coronakrise fiel die Korrektur recht mild aus im Vergleich zu dem, was in der Wirtschaft passierte. Und jetzt läuft das Gold davon.
Frage: Was passiert, wenn wir so weitermachen?
Antwort: Die Entwertung des Geldes. Das Geld ist heute schon entwertet, wenn Sie sich eine Immobilie kaufen oder an einem Unternehmen beteiligen wollen. Irgendwann kommt die Entwertung gegenüber den Konsumgütern.
Frage: Aber das wurde immer wieder verhindert.
Antwort: Nein, das geht nicht mehr. Eine kleine Zinserhöhung zur Eindämmung von Inflation würde schon zu einem Absturz des Aktienmarktes, Einbruch der Wirtschaftsaktivität und Pleiten führen.
Frage: Aber was wäre die Lösung?
Antwort: Es gibt keine. Der Punkt, an dem es ein Zurück gab, ist überschritten. Die US-Notenbank Fed hatte vor der Coronakrise versucht, die Zinsen anzuheben. Als dann der Aktienmarkt krachte, ruderte Gouverneur Jerome Powell wieder zurück. Jetzt geht die Geschichte ihren Gang. Bei der Finanzkrise hieß es, keiner habe sie kommen sehen. Das lag an der Blindheit der ökonomischen Modelle, die weiterhin von Zentralbankern benutzt werden. Diese Geschichte muss sich voll entfalten. Erst dann kommt es zum Systemwechsel.“ (Die Presse, 7. September 2020)
Natürlich meint Meyer mit einem Systemwechsel keine sozialistische Revolution. Aber er weiß, dass die Kapitalistenklasse dieses System nicht im Griff hat und die Mittel zur Krisenbehebung weitgehend aufgebraucht sind. Die Exportmärkte sind begrenzt und die imperialistischen Mächte kommen sich immer mehr ins Gehege. Der Versuch, die Krisenlasten auf die Arbeiterklasse abzuladen, provoziert massive revolutionäre Explosionen. In der Krise stützen sich die Kapitalisten zunehmend auf den Staat und werfen dabei notfalls auch ihre eigene Ideologie („Der Staat soll sich aus allem raushalten“) über Bord.
Auch wenn der letztlich unvermeidliche große Crash noch nicht sofort hereinbricht: Die Massen fühlen sich nicht automatisch gut und zufrieden, nur, weil die Statistiker drei Prozent Wirtschaftswachstum erwarten. Entscheidend ist, ob Lebensstandard, Lebensqualität und soziale Sicherheit steigen, stagnieren oder sinken. Die Massen wissen, dass die gesellschaftliche Polarisierung zwischen den Klassen, zwischen Arm und Reich immer größer wird. Pandemie und Wirtschaftskrise machen die Missstände sichtbar, die sich über eine lange Zeit angestaut haben. Dies führt über kurz oder lang zu sozialen Explosionen.
Dass wir nicht einer neuen Blüte des Kapitalismus wie in den 1950er und 1960er Jahren entgegensehen, sondern uns auf riesige Erschütterungen des kapitalistischen Systems und Gefüges vorbereiten müssen, dämmert auch den nüchternen Kommentatoren der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Diese Zeitung ist nicht irgendein bürgerliches Propagandablatt, sondern durchaus so etwas wie das Zentralorgan tonangebender Teile der herrschenden Klasse in Deutschland. Die FAZ-Ausgabe vom 1. Februar 2021 lässt David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, in einem Kommentar zu Wort kommen. Der Gastbeitrag mit dem Titel „Bis zum bitteren Ende“ prophezeit eine im Sommerhalbjahr einsetzende kurze Blüte und Spekulationsblase, die früher oder später einen „Scherbenhaufen“ und ein „Ende der Party“ wie vor einem Jahrhundert mit sich bringen wird. In diesem Sinne warnt er vor Elementen der verheerenden deutschen Inflation von 1923 und der 1929 hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise. Hier der Text im Wortlaut:
„Der globale Konjunkturoptimismus, der sich durch die schnelle Entwicklung von hochgradig wirksamen Impfstoffen und nicht zuletzt durch die Erwartungen eines massiven Fiskalstimulus in Amerika Bahn gebrochen hatte, erlitt zuletzt einen herben Dämpfer. Schleppende Impfstarts mit Lieferproblemen in Europa, verlängerte und verschärfte Lockdowns haben hier die Stimmung der Unternehmen und Konsumenten gedrückt und den Höhenflug an den Aktienmärkten zunächst beendet.
Aber die Nacht ist kurz vor der Dämmerung am dunkelsten. Spätestens im Frühsommer könnte der Impffortschritt zusammen mit steigenden Temperaturen die Infektionszahlen kräftig sinken lassen und die Stimmung nachhaltig zum Besseren wenden. Die Konsumenten können es jetzt schon kaum mehr abwarten, wieder Restaurants zu besuchen, einzukaufen und zu verreisen. Die aufgestaute Nachfrage wird dann mit einem nie dagewesenen geld- und fiskalpolitischen Impuls zusammentreffen, der durch den Schulterschluss von Geld- und Finanzpolitik geschaffen wird. Finanzpolitiker wollen mit immer neuen Programmen, die bereits im vergangenen Jahr die globale Verschuldung um 19,5 Billionen Dollar nach oben getrieben haben, nicht nur die Konjunktur und alle betroffenen Sektoren aus dem Corona-Tal herausbringen, sondern damit auch noch den notwendigen Übergang in die digitale und nachhaltige Wirtschaft bewerkstelligen. Sie finden in ihren Notenbanken willige Unterstützer, die ihr Zuständigkeitsgebiet immer weiter ausdehnen und die Aufblähung der Staatsschulden durch die Bereitstellung von Zentralbankgeld monetisieren. Diese Politik wirkt wie eine Droge, die mit großer Wahrscheinlichkeit zusammen mit der Überwindung der globalen Pandemie zu euphorischen Übertreibungen an den Märkten ähnlich wie in den 1920er Jahren, den „Roaring Twenties“, führen wird.
Anzeichen sehen wir bereits in den steilen Kursgewinnen der breiten Marktindizes, die jede Bodenhaftung verloren haben. Wie damals locken die Börsen wieder zunehmend spekulative Privatanleger an. Der Welthandel hat bereits sein Niveau vor Covid-19 überschritten, was sich auch in explodierenden Charterraten für Frachtschiffe zeigt. Zusammen mit dem Konsumschub wird dies dazu führen, dass die Liquidität der Finanzmärkte in die Realwirtschaft überschwappt, was dank Multiplikatoreffekten wie ein Turbolader die Konjunktur antreiben wird. Dieser Aufschwung dürfte bis ins Jahr 2022 anhalten. Mit steigender Inflationserwartung drohen aber Zweifel an dessen Nachhaltigkeit zuzunehmen, was zu einem Einbruch der Anleihe- und Aktienmärkte führen könnte.
Vor einem Jahrhundert endete die fiskal- und geldpolitisch kreierte und durch Spekulation befeuerte Scheinblüte in einem riesigen Scherbenhaufen. Spätestens wenn die Inflation aus dem Ruder läuft und die Zinsen steigen, wird die Party zu Ende sein. Die Frage, wer die Kosten der Sause zahlen muss, birgt ein ähnliches hohes Konfliktpotential wie damals.“ (FAZ, 1. Februar 2021)
Dass der Chefvolkswirt der Deutschen Bank ebenso wie sein Vorgänger einen derartigen Pessimismus an den Tag legen, sollte uns mit revolutionärem Optimismus stimmen. Aber ein Blick in die 1920er und 1930er Jahre zeigt: Der Kapitalismus wird nicht von sich aus abtreten und dem Sozialismus Platz machen. Die Kapitalisten werden mit Zähnen und Klauen Besitz, Macht und Privilegien verteidigen und scheuen dabei vor keiner „Schandtat“ zurück. Sie müssen enteignet und entmachtet werden.
In 16 Jahren hat die Regierung Merkel auch in der Außenpolitik die Interessen des deutschen Imperialismus gut vertreten und sich in heiklen Fragen gut durchlaviert. So zwang die Troika unter Führung des deutschen Finanzkapitals Griechenland in die Krise und statuierte damit ein Exempel zur Einschüchterung anderer südeuropäischer Staaten.
Militärisch hielt sich Deutschland aus dem Krieg gegen Libyen heraus, der zum Sturz des Gaddafi-Regimes führte – nach dem Motto: Lass die anderen Kriege führen, wir machen Geschäfte und halten alle Türen offen. In Sachen Türkei ist die Bundesregierung bemüht, die guten Beziehungen zum Erdogan-Regime nicht abreißen zu lassen. Erdogan drohte Berlin immer wieder damit, notfalls Millionen Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten Richtung Mitteleuropa ausreisen zu lassen.
Der Sieg Bidens in den USA über Trump gibt allen deutschen „Transatlantikern“ Auftrieb und wird die militärische Zusammenarbeit mit den USA im Rahmen der NATO stärken und die Präsenz von US-Militär auf deutschem Boden bekräftigen. Trump wollte die EU zerschlagen und Großbritannien quasi als 53. Staat der USA „adoptieren“. Biden will die EU im Konflikt mit China auf die Seite der USA ziehen. Aber das deutsche Kapital hat gleichzeitig auch ein starkes Interesse an guten Beziehungen zu China und verfolgt hier seine eigene Linie. Schließlich gibt es massive Investitionen in beide Richtungen.
Kein Land ist stabil. Dies gilt besonders auch für größere Staaten wir Russland oder die Türkei. Explosionen in diesen Ländern werden sich zwangsläufig auch auf die EU und Deutschland auswirken. Die zugespitzte internationale Krise verschärft zunehmend die wirtschaftlichen, diplomatischen und militärischen Spannungen. Die künftige Bundesregierung wird unter massivem Druck stehen, noch deutlicher als bisher Farbe zu bekennen, die Zurückhaltung in einigen Fragen aufzugeben und sich gegebenenfalls auch stärker militärisch einzumischen. Daher die gebetsmühlenartigen Forderungen nach Aufstockung des Militäretats und massiver Aufrüstung. Als Feindbild dienen vor allem Russland und China. Die in die künftige Regierung strebenden Grünen geben sich dabei schon jetzt betont als außenpolitische Hardliner und Musterknaben des deutschen Imperialismus.
Potenzielle Krisenherde mit explosivem Charakter sind in diesem Zusammenhang das östliche Mittelmeer mit seinen von verschiedenen Ländern reklamierten Erdgasvorkommen, das Säbelrasseln zwischen den NATO-Ländern Griechenland, Türkei und Nordafrika mit seinen für die industrielle Produktion bedeutenden Mineralvorkommen. Nachdem sich der chinesische Imperialismus in einigen afrikanischen Ländern bereits festgesetzt hat, betont Frankreich seine dominante Rolle im Mittelmeer und auf dem afrikanischen Kontinent und erwartet mehr Engagement von seinem engen Verbündeten Deutschland. Ein Ende des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan ist nicht in Sicht.
Die herrschenden Klassen in Deutschland und Frankreich haben nach drei verheerenden Kriegen notgedrungen den europäischen Einigungsprozess unter ihrer Führung angestoßen und vorangetrieben. Sie sind im Rahmen der Achse Berlin-Paris weiter zur engen Zusammenarbeit gezwungen. Ihre „Friedenspolitik“ in Europa ist die Fortsetzung der imperialistischen Ziele mit wirtschaftlichen und diplomatischen Mitteln. Das brutale Vorgehen der EU gegen Flüchtlinge aus Afrika und Asien entlarvt die heuchlerischen Töne von „Humanismus“ und „Wertegemeinschaft“.
Die deutsche Wirtschaft ist enorm exportabhängig und den wichtigsten Absatzmarkt stellt die EU dar. Darum verfolgen die Bundesregierung und die herrschende Klasse einen „pro-europäischen“ Kurs und unternehmen alles, um ein Auseinanderfallen der angeschlagenen EU zu verhindern. Der Brexit wird auch die Exporte der deutschen Industrie nach Großbritannien abbremsen und die darauf angewiesenen Teile der deutschen Wirtschaft treffen.
Die EU-Osterweiterung seit den 1990er Jahren brachte neue Absatzmärkte, Investitionsmöglichkeiten und vor allem auch billige, gefügige und gut ausgebildete Arbeitskräfte für Tönnies und viele andere deutsche und französische Kapitalisten. Rumänien etwa hat eine Bevölkerung von 20 Millionen Menschen. Von den neun Millionen Erwerbstätigen arbeiten vier bis fünf Millionen regelmäßig im westeuropäischen Ausland.
Die gemeinsame Verschuldung der EU-Staaten ist ein Ausdruck für die enorme Verschuldung der einzelnen Volkswirtschaften. Ihre Kreditwürdigkeit auf den internationalen Finanzmärkten steht auf dem Spiel. Je schwieriger diese Länder an Kredite kommen, desto instabiler wird die gesamte Wirtschaft in der EU. Die gemeinsame Verschuldung sichert ihnen vorläufig günstigere Kredite. Die Verschuldung wird weiter steigen und eine noch tiefere Krise in der Zukunft vorbereiten.
Deutschland braucht die EU vor allem als größten Exportmarkt. Im Jahr 2017 exportierten deutsche Unternehmen Waren im Gesamtwert von 749,7 Milliarden Euro in die anderen EU-Länder. Das waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 58,6 Prozent der gesamten Exporte. Aber auch als politischer Block, um im imperialistischen Konkurrenzkampf mit China und nun auch mit den USA mithalten zu können, ist die EU extrem wichtig für das deutsche Kapital. Die Überproduktionskrise hat den imperialistischen Konkurrenzkampf um Exportmärkte stark verschärft. Der hohe Exportüberschuss Deutschlands ist den anderen Staaten ein Dorn im Auge. Nur zusammen mit den anderen EU-Staaten kann Deutschland einen politischen Block formen und Einfluss ausüben.
Die EU-Mächte, allen voran Deutschland und Frankreich, setzen seit Jahren zunehmend auf eine gemeinsame Militärstrategie und Verteidigungspolitik unabhängig von NATO und USA. Deutschland und Frankreich sind allein auf sich gestellt auch militärisch zu schwach, um sich etwa gegen die USA oder China zu behaupten.
Vordergründig wird all dies seit jeher offiziell mit „Friedenssicherung“, „Terrorismusbekämpfung“, „humanitärer Intervention“ und „Entwicklungshilfe“ begründet. Dass die Bundeswehr die Operationen der französischen Armee im afrikanischen Staat Mali aktiv unterstützt, ist weder eine uneigennützige Tat noch ein neuer solidarischer Höhepunkt der „deutsch-französischen Freundschaft“. In Wirklichkeit betreibt Frankreich eine Fortsetzung des alten Kolonialismus und Imperialismus.
In Mali und im benachbarten Niger gibt es große Uran- und Ölvorkommen. Deutschland müsse „flexibel Elemente seines außen- und sicherheitspolitischen Instrumentariums einsetzen, um Störungen oder Blockaden (…) zu beseitigen“, heißt es im Weißbuch der Bundeswehr zum Thema Rohstoff- und Energiesicherheit. Und in den 2014 von der Bundesregierung beschlossenen „Afrikapolitischen Leitlinien“ ist von einer „wachsenden Relevanz Afrikas für Deutschland und Europa“ die Rede. „Potenziale Afrikas ergeben sich aus einer demographischen Entwicklung mit einem Zukunftsmarkt mit hohem Wirtschaftswachstum, reichen natürlichen Ressourcen, Potenzialen für die landwirtschaftliche Produktion und Ernährungssicherung aus eigener Kraft. Afrikanische Märkte werden – über die Rohstoffwirtschaft hinaus – für die deutsche Wirtschaft (...) zunehmend interessanter.“ Offensichtlich geht es mit dem deutsch-französischen Afrika-Engagement auch darum, dem in Afrika vordringenden chinesischen Imperialismus zu begegnen.
„Es wäre falsch, die deutschen Sicherheitsanstrengungen in Mali und inzwischen auch im benachbarten Niger vor allem als an Frankreich gerichtete Freundschaftsgeste zu interpretieren“, erklärt die FAZ am 9. April 2019 und listet auf, dass die Bundeswehr erstmals 2013 in Mali landete und mittlerweile in mehreren Staaten südlich der Sahara mitmischt.
Wir befinden uns in einer klassischen kapitalistischen Überproduktionskrise: es gibt zu viele Waren die am Markt nicht profitabel abgesetzt werden können. Darum wollen die Kapitalisten auch nicht investieren und so die „Wirtschaft ankurbeln“, wie es sich bürgerliche Ökonomen erhoffen. Stattdessen kämpfen die verschiedenen Bourgeoisien um die bestehenden Marktanteile, was zur zunehmenden Eskalation von (Handels-)Kriegen führt. Indes machen die politischen Repräsentanten der Bourgeoisie den Kapitalisten massive Geldgeschenke mit Staatsgeldern, um einen völligen Kollaps der Wirtschaft zu verhindern und erhöhen weiter die Geldmenge. Doch das führt – eben aufgrund der Überproduktion – nicht zu Investitionen. Das billige Geld fließt vor allem in den Aktienmarkt, wo sich ein kleiner Sektor von Aktionären mit Spekulation bereichert, und in Firmenaufkäufe (was die Monopolisierung des Kapitals noch weiter verstärkt). Die Last dieses Wettkampfes der konkurrierenden Kapitalisten trägt die Arbeiterklasse.
Unter kapitalistischen Bedingungen können weder nationale Alleingänge noch die Institution der EU der europäischen Arbeiterklasse einen fortschrittlichen Ausweg aufzeigen. Die Parole der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ist aktueller und dringender denn je.
In Deutschland findet wegen der Corona-Pandemie die tiefste Einschränkung des öffentlichen Lebens seit dem Zweiten Weltkrieg statt. Die rasante Ausbreitung des Corona-Virus mit all seinen verheerenden Auswirkungen ist jedoch keine unabwendbare oder gar „gottgewollte“ Naturgewalt. Sie ist zuallererst Ausdruck der Krise des gesamten kapitalistischen Systems. Viele Todesfälle hätten sich verhindern lassen können. Doch kaputtgesparte Gesundheitssysteme sind schon im Alltag an der Belastungsgrenze und Maßnahmen zur Eindämmung des Virus wurden nur zögerlich und halbherzig ergriffen, um die Profite der Unternehmen nicht zu gefährden. Der Appell zum nationalen Zusammenhalt wird nicht ewig verfangen.
In der Krise hat die Bundesregierung ebenso wie Regierungen weltweit massiv Kredite aufgenommen, um einen Absturz der Wirtschaft abzubremsen. Die 2010 im Grundgesetz verankerte „Schuldenbremse“ wurde kurzerhand außer Kraft gesetzt. Die Geldspritzen kommen aber überwiegend den Kapitalisten zugute und nur zu einem geringeren Teil notleidenden Solo-Selbstständigen, Kleinstunternehmern, Studierenden oder Arbeitern, die in der Krise ihre Jobs verloren haben und von der Hand in den Mund leben. Die Vermögensumverteilung von unten nach oben schreitet voran. Die Krise hat die längst bestehenden gesellschaftlichen Missstände, Skandale, Ungleichheit und Unbehagen an die Oberfläche gebracht.
Wirtschaftsprognosen stützen sich auf Statistiken aus der Vergangenheit und sind gerade in der heutigen Zeit immer auch ein Stück weit Kaffeesatzleserei. Viele Bürgerliche sehen 2021 einen massiven Aufschwung kommen. Doch selbst wenn diese optimistischen Prognosen einträfen, könnte von einer Rückkehr zur Normalität und zur „guten alten Zeit“, die keine war, keine Rede sein.
Viele Kapitalisten nutzen das Corona-Virus als Vorwand, um Beschäftigte mitunter gesetzeswidrig zu entlassen, Löhne zu senken, Arbeitszeiten zum Nachteil der Planungssicherheit der Beschäftigten zu deregulieren und jede Gegenwehr in Form von Streiks oder Demonstrationen zu unterlaufen. Unternehmerverbände und ihre politischen Interessenvertreter stellen Errungenschaften für die arbeitende Bevölkerung auf breiter Front in Frage. Es ist die Stunde der Deregulierer. Die Krise bringt die Unternehmer auf den Geschmack. Viele rationalisieren drauf los und streichen Arbeitsplätze. Frauen sind in besonders hohem Maße Opfer der Krise. Sie sind dem Virus stärker ausgesetzt als Männer, weil ein großen Frauenanteil in den systemrelevanten (schlecht bezahlten) Berufen tätig sind: namentlich im Gesundheit- und Pflegewesen und im Einzelhandel.1 Zur Prekarisierung arbeitender Frauen einerseits und der verstärkten Ausbeutung andererseits kommen noch steigende Zahlen häuslicher Gewalt (bei Ausgangssperren und Quarantänen) hinzu.2 Die psychische und körperliche Last von COVID-19 ruht auf den Schultern der Arbeiterinnen! Auch die Wirtschaftskrise wird die Frauen voll treffen. Die prekären, informellen, Teilzeit- und befristete Jobs, in denen Frauen oft angestellt sind, werden als erste angegriffen. Frauen, die in solchen Jobs beschäftigt sind, erhalten auch deutlich weniger Kurzarbeit- oder Arbeitslosengeld.3 Schließlich werden Frauen in die klassischen Rollenbilder zurückgeworfen, und sind überwiegend von Homeschooling, Kinderbetreuung und Haushalt stark belastet – zum Nachteil ihres privaten und beruflichen Lebens. Fast die Hälfte der Frauen sind an ihre körperlichen, psychischen und emotionalen Grenzen gestoßen.4
Reale Einkommensverluste durch Kurzarbeit, Arbeitsplatzverlust, Nullrunden und mäßige Lohnerhöhungen nagen an Lebensstandard und Kaufkraft.
In 20 Jahren ist die Zahl der Tafeln von 220 auf 934 gestiegen. Teile der Arbeiterklasse verarmen. Das sogenannte „Subproletariat“ wird größer. Entgegen der Propaganda, wonach „wir alle immer älter werden“ und deshalb das Rentenalter auf 70 angehoben werden müsse, ist in diesen Schichten der gesundheitliche Verschleiß überdurchschnittlich und die Lebenserwartung unterdurchschnittlich. Demgegenüber bleiben viele Verlierer auf der Strecke, die ohne Arbeit und Existenzgrundlage aus dem Alltagstrott gestoßen werden und darüber verzweifeln.
Die Verdrängung kleiner Läden und Klitschen durch große Ketten und Konzerne ist seit vielen Jahren im vollen Gange. Jede Krise ruft auch Spekulanten und Krisengewinnler auf den Plan, die sich an der Krise gesundstoßen wollen. Immobilienhaie spekulieren zunehmend mit Leerständen. Gewerbeimmobilien und komplette Straßen und Fußgängerzonen wirken wie ausgestorben. Die Schließung von Einzelhandelsgeschäften in größeren und kleineren Städten führt zu Verelendung in weiten Teilen der Gesellschaft. Viele Städte waren schon vor der Krise von aggressiv vordringenden Monopolen im Internethandel (z.B. Amazon) betroffen.
Psychische Krankheiten nehmen ebenso zu wie Verrohung und Verwerfungen in Familien und im Privatleben. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Ballungsgebieten wird unerträglich. Ein Faktor hierfür: In der Krise sucht das Kapital risikolose Anlagemöglichkeiten. Eine Welle von Aufkäufen und Gentrifizierung erfasst die Ballungsgebiete. Immobilienbesitzer in Berlin machen Großspenden für die CDU und scheinen den Wohnungsmarkt auf ihre Weise zu „bestreiken“. Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit nehmen zu. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass parteiübergreifend seit den 1990er Jahren der soziale Wohnungsbau sträflich vernachlässigt wird. Im Schnitt fallen jedes Jahr zwischen vierzig- und fünfzigtausend Wohnungen aus der Sozialbindung heraus, was dazu führt, dass der Bestand seit der Wiedervereinigung um 1,5 Millionen gesunken ist.5 6
Fast jede zweite Kommune (47 Prozent) rechnet damit, dass das Haushaltsjahr 2020 mit einem Defizit endet. 2019 war das nur bei 13 Prozent der Fall. Defizite verstärken den Druck Richtung Kahlschlag und Privatisierung. Ehrenamtlicher Breitensport in Vereinen und Kultureinrichtungen stecken in einer tiefen Krise. Etliche von ihnen werden das Jahr 2021 nicht überleben.
Auch wenn seit März 2020 sehr viel weniger geflogen wurde und der Winter 2020-21 kälter und schneereicher war, schreitet die globale Klimakatastrophe voran und damit die verheerenden Umweltschäden. Nicht zuletzt kommen die Mängel im Gesundheitswesen jetzt mit aller Gewalt zum Vorschein. Die Schließung von Krankenhäusern Mitten in der Pandemie, Pflegenotstand, Überlastungsanzeigen von Klinikbelegschaften, Software-Chaos, mangelhafte Vernetzung zwischen den Gesundheitsämtern, schleppender Fortschritt bei den Impfungen und viele andere Missstände schaffen böses Blut. Was sich jetzt in Form von Frust anstaut, wird sich früher oder später Bahn brechen.
Laut einer Studie sinkt das Vertrauen in die Bundesregierung in den letzten Monaten dramatisch.7 Nur noch 30 Prozent der Bevölkerung würde der Bundesregierung vertrauen.8 Hauptursache ist das Versagen der Regierung bei der Strategie zur Bekämpfung der Pandemie aus Sicht der Bevölkerung. Wo zwar der Großteil die aktuellen Maßnahmen befürwortet, findet ein anderer Teil, dass die Maßnahmen zu weit gehen und ein weiterer Teil, dass sie nicht weit genug gehen. Das Versagen der gewählten Strategie der Bundesregierung hat vor allem systematische Gründe und lässt sich nicht auf die Unfähigkeit einzelner Politiker abwälzen. Hauptursache ist die wirtschaftliche Konkurrenz der einzelnen Bundesländer und ihrer Kapitalisten untereinander. Jedes Bundesland hat für sich genommen ein Interesse so früh wie möglich den Lockdown zu beenden bzw. Regelungen zu ihrem Vorteil vorzunehmen. Dieses tritt besonders hervor, wenn es große regionale Unterschiede im Infektionsgeschehen gibt. Plakativ gesagt: warum sollten in Hamburg weiterhin die Geschäfte zu sein, wenn nur in Bayern die Infektionszahlen hoch sind? Beispielsweise umging Brandenburg mit einer eigenen Regelung die „Lockerungsnotbremse” der Ministerpräsidentenkonferenz, also der gemeinsamen Entscheidung von Bund und Länder.9 Die innere Konkurrenz der Bundesländer, aber auch zwischen Gemeinden, finden wir auch im „Normalbetrieb” vor. So senkte beispielsweise die Stadt Monheim die Gewerbesteuer, lockte damit viele Unternehmen an und konnte somit ihre Schulden abzahlen – zur Verärgerung ihrer Nachbarn.10 Auf der anderen Seite wissen internationale bzw. überregionale Kapitalisten die Konkurrenz der Bundesländer und Gemeinden geschickt auszunutzen und Standorte gezielt ihren Interessen entsprechend auszubauen.11
In einer Pandemie-Situation kann aber das vereinzelte Handeln eines Bundeslandes oder einer Gemeinde die Gesamtstrategie zunichtemachen. Das Infektionsgeschehen eines Bundeslandes hat direkten und indirekten Einfluss auf die anderen Bundesländer. Die Bundesländer müssten sich abschotten und die Grenzen schließen, um dem zu entgehen. Aber schon die Schließung der deutschen Grenzen im März 2020 zeigte, wie empfindlich dies den Warenverkehr traf, auf den die Kapitalisten letztlich angewiesen sind, um ihre Profite zu machen. Eine Kontrolle der Binnengrenzen, wie wir sie in Österreich bei Tirol sahen, wird eher das letzte Mittel sein, wozu Bund und Länder greifen werden.12 Damit die Gesamtstrategie funktioniert, müssten sich alle Länder an die Maßgaben des Bundes halten. Stattdessen sehen wir ein folgenreiches Hin- und Herpendeln: der bundesweite Lockdown wird durchgesetzt, wenn das Infektionsgeschehen zu hoch ist; ein Abflauen der Infektionen tritt ein; einzelne Länder drängen hin zur Öffnung; es kommt wieder zu einem Anstieg der Infektionen; der Zirkel beginnt von vorne. Nicht ohne Grund sehen wir jetzt den Ruf nach einer „Föderalismusreform”.13
Diese Situation gibt uns auch einen besonderen Einblick in die Funktionsweise des deutschen Staats. Engels hat den bürgerlichen Staat als „ideellen Gesamtkapitalisten” bezeichnet. Dies Aussage könnte so missverstanden werden, als hätte der Staat ein abstraktes Interesse von konkreten Kapitalisten losgelöst. Aus Sicht eines abstrakten Kapitalisten wäre es sinnvoll einen bundesweiten harten Lockdown durchzuziehen, bzw. eine Methode zu wählen, die das meiste deutsche Kapital schützt – der Schutz der Menschen ist hierbei zweitrangig. Dieser abstrakte Kapitalist existiert jedoch nicht, sondern es sind konkrete Kapitalisten, die ihr spezifisches Interesse als ein allgemeines Interesse darstellen. D.h. es müssen konkrete Individuen der Kapitalistenklasse sein, die ein gemeinsames Interesse teilen und sie müssen fähig genug sein, dieses gemeinsame Interesse gegenüber der Arbeiterklasse sowie andere Teile der Kapitalistenklasse mit gegensätzlichen Interessen durchzusetzen. Andererseits finden wir auch einen gewissen Grad der Verselbstständigung der einzelnen Behörden bzw. Abteilungen des Staats vor, die ihren eigenen spezifischen Interessen entsprechend handeln, aber letztlich durch die Kapitalistenklasse so strukturiert wurden, dass sie deren Interessen im Schnitt entsprechen. In der Corona-Pandemie sehen wir nicht nur wie verschiedene Branchen miteinanderkämpfen, sondern auch die teilweise geographische Teilung der Kapitalistenklasse durch die unterschiedlichen regionalen Interessen. Wäre der Staat nicht an die konkreten Interessen der Kapitalisten und einzelner Behörden gebunden, so müssten wir uns fragen, warum die EU nicht als „Gesamtkapitalist” handelt und sich nicht innerlich verbündet gegen die USA und China. Stattdessen sehen wir die Instabilität des Projekts „Europäische Union“ aufgrund seiner inneren Widersprüche.
Im Vergleich zum bundesweiten Lockdown beherbergt die Impfung der deutschen Bevölkerung nicht diesen starken Gegensatz der Bundesländer – höchstens bei der Frage, wer die Impfungen nachher zahlt. Aber auch die Impfstrategie ist darauf angewiesen, dass sich der Virus nicht wild verbreitet, denn mit jeder Infizierung steigt auch die Wahrscheinlichkeit einer Mutation und damit die Wahrscheinlichkeit einer Virus-Variante, die sich der bisherigen Impfung entzieht. Nicht ohne Grund behaupten manche Wissenschaftler, dass dieser Virus die Menschheit noch eine Weile begleiten wird, jedoch glücklicherweise nicht mit jetziger Intensität.14
All diese Ereignisse während der Corona-Pandemie – und die Aufzählung ist längst nicht vollständig – wird gigantische Ereignisse auslösen und unauslöschliche Spuren im Bewusstsein der Massen hinterlassen. Nach der Pandemie werden die Dinge nicht mehr so sein, wie sie waren, sondern sich auf eine höhere Ebene begeben – mit einer noch tieferen Krise und einer Intensivierung und Verschärfung des Klassenkampfes.
Corona-Pandemie und globale Kapitalismuskrise führen zu massiven Erschütterungen. Jeder Vergleich hinkt, aber auch die Pest, die Millionen Menschen hinraffte, beschleunigte im ausgehenden Mittelalter den Niedergang des Feudalismus. Die Krise erfasst zunehmend alle Lebensbereiche und untergräbt Lebensstandard, Lebensqualität, natürliche Lebensgrundlagen und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Auch die Krise der katholischen Kirche, die über Generationen ein wichtiger Stützpfeiler der bürgerlichen Herrschaft war, ist symptomatisch. Kein Regime, keine Regierung, keine tragende Institution des Systems ist wirklich stabil.
Bald wird sich die Frage stellen: Wer – konkreter gesagt: welche Klasse – wird für die zur Krisenbekämpfung aufgenommenen staatlichen Schulden zahlen? Auch wenn Deutschland im EU-Vergleich noch relativ gut dasteht, werden nach der Bundestagswahl 2021 früher oder später Kürzungen und Angriffe auf der Tagesordnung stehen. Finanzminister und Kanzlerkandidat Olaf Scholz (SPD) hat bereits eine Rückkehr zur Schuldenbremse nach der Wahl angekündigt. Als Kanzleramtsminister Braun (CDU) dies wieder relativierte, widersprachen ihm viele Spitzenrepräsentanten aus Union und FDP. Somit stehen – mit oder ohne Scholz und die SPD – mittelfristig stürmische Zeiten und Erschütterungen an.
Im anlaufenden Bundestagswahlkampf scheinen die Herrschenden und Regierenden allerdings entschlossen zu sein, vor dem Wahltag am 26. September nicht unnötig „Öl ins Feuer“ zu gießen und auf keinen Fall eine „unnötige“ Radikalisierung und Polarisierung heraufbeschwören. Sie werden das Blaue vom Himmel versprechen und ihre Regie wird im Sommer eine heile Welt vorzugaukeln versuchen. So wurden die Regelungen zur Kurzarbeit bis Dezember 2021, also ein Vierteljahr nach der Wahl, verlängert. Auch in anderen Bereichen werden sie um Wahlgeschenke und viele schöne Ankündigungen bemüht sein. Weil die deutsche Staatsverschuldung im europäischen Vergleich derzeit noch relativ niedrig ist, wird in diesem Sommer zur Not auch noch die eine oder andere Milliarde lockergemacht, um das Wahlvolk einzulullen.
Mit dem Beginn der Corona-Beschränkungen im Frühjahr 2020 wurde in den Gewerkschaftsapparat vielfach die Meinung vertreten, dass die Massen „wegen Corona“ nicht streiken wollten oder könnten. Inzwischen wurden wir eines Besseren belehrt. Kapital und Staat wollen nun die Gunst der Stunde nutzen und gehen in die Offensive. Dies zwingt zur Gegenwehr, auch wenn die Gewerkschaftsapparate und insbesondere die Gewerkschaftsführung in aller Regel zur Jagd getragen werden müssen.
In der Schockstarre der ersten Corona-Wochen im Frühjahr 2020 wurden sogar erstmals seit 1946 alle öffentlichen DGB-Maifeiern abgeblasen. Dass aber auch „trotz Corona“ mit voller Kraft gestreikt werden kann, zeigte im April und Mai 2020 der wochenlange Streik bei Voith in der südlichsten deutschen Stadt Sonthofen. Auch bei Continental und in etlichen Betrieben der Lebensmittelindustrie wurde seit Sommer 2020 gestreikt.
Ähnliche Erfahrungen ergaben sich im vergangenen Herbst erneut bei den Streikbewegungen im Öffentlichen Dienst und im Nahverkehr. An Warnstreiks waren und sind auch viele gewerkschaftlich Unorganisierte beteiligt, die zwar nicht in die Gewerkschaft eintreten, aber auch nicht als Streikbrecher eingesetzt werden wollen und den Lohnausfall bewusst in Kauf nehmen. Streikbereitschaft ist vorhanden und Ausdruck einer wachsenden Unzufriedenheit der Arbeiterklasse. Viel hat sich über die Jahre angestaut und bei jedem Streik geht es nicht nur um die klassischen Lohnprozente, sondern um eine Manifestation von Macht und Gegenmacht etwa unter dem Motto: „Es reicht. Wir wollen denen da oben zeigen, dass sie nicht alles mit uns machen können und mit uns rechnen müssen.“
Arbeiter sind aber auch realistisch und wollen ihren Kopf nicht umsonst hinhalten. Streiken muss Sinn machen und es muss wenigstens eine auch nur annähernd entschlossene und kämpferische Führung vorhanden sein. Aber eine betriebs- und gewerkschaftsübergreifende Strategie, die die Kräfte im Kampf gegen Entlassungen und für höhere Löhne regional, national und international bündelt, wird von den Gewerkschaftsapparaten nicht oder nur sporadisch vorangetrieben.
Während die herrschende Klasse für die kommenden Jahre Angriffe auf Lebensstandard und Errungenschaften der Arbeiterklasse fordert, klammert sich ein Großteil der Gewerkschaftsapparate in seiner politischen Hilflosigkeit an der Idee der „Sozialpartnerschaft“ und des „fairen Dialogs“ mit Unternehmern, ihren Verbänden und ihrem Staat fest. Die Pandemie war ein willkommener Anlass, um diese Linie zu bekräftigen. „Die Sozialpartner stellen gemeinsame Verantwortung in der Coronakrise über Differenzen“, heißt es etwa in einer gemeinsamen Erklärung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA).
Anstatt die Basis systematisch auf die unvermeidlichen großen Kämpfe vorzubereiten, leben die meisten Gewerkschaftsführer gedanklich noch in der vermeintlich „guten alten Zeit“ von Sozialpartnerschaft und Klassenharmonie. So machen derzeit viele Warnungen vor einem „Klassenkampf von oben“ und moralische Appelle an „Vernunft“ und „Einsicht“ der Wirtschaftsbosse die Runde. Exemplarisch sei hier eine Presseerklärung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) Hannover vom Oktober 2020 im Zusammenhang mit dem aggressiven Vorgehen der Manager der Gilde-Bierbrauerei Uhlmann und Gärtner: „Es ist höchste Zeit, dass die Herren Uhlmann und Gärtner ein Mindestmaß an Anstand und Verantwortungsbewusstsein zeigen. Sie können doch nicht einfach zuschauen, wie zwei Gilde-Betriebe in den Ruin getrieben werden – insbesondere in dieser aktuellen Zeit, in der viele andere Arbeitgeber gemeinsam mit ihren Beschäftigten um den Fortbestand ihrer Betriebe kämpfen.“
Aus der Sicht der herrschenden Klasse ist der Anfang vom Ende der „Sozialpartnerschaft“ herangebrochen. Aber das bedeutet nicht, dass sie jetzt auf breiter Front und flächendeckend zum Generalangriff gegen die Gewerkschaften und Betriebsräte blasen. Sie setzen mehrheitlich noch darauf, die Gewerkschaften und Betriebsräte ins Boot zu ziehen und sie etwa für den einstweiligen Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen zu massiven Zugeständnissen zu drängen.
Dem kommt die relative Entpolitisierung und Verwässerung des politischen Niveaus der gewerkschaftlichen Schulungsarbeit entgegen. Seit den 1990er Jahren ist in Gewerkschaft- und Betriebsratskreisen die These weit verbreitet, dass vorübergehender Lohnverzicht Arbeitsplätze retten könne und hinterher alles wieder in Butter sei. Tarifverträge werden seit gut zwei Jahrzehnten zudem durch Öffnungsklauseln immer löchriger. Das Schlagwort vom „Bündnis für Arbeit“ machte die Runde. Mit solchen Abweichungen vom Tarifvertrag wurden häufig Zugeständnisse an das Kapital gemacht in der Hoffnung, damit Arbeitsplätze und Standorte zu retten. Die jetzt anstehende Welle von Massenentlassungen und Standortschließungen zeigt vielfach, dass die Hoffnungen und Illusionen nicht aufgingen und sich die betroffenen Belegschaften jetzt richtig verraten fühlen.
Eine konsequente und offensive Strategie, um Betriebsschließungen und Produktionsverlagerungen zu verhindern, wird nicht verfochten. Bei befristeten Streiks für einen Sozialtarifvertrag zur Abfederung der Folgen von Arbeitsplatzverlust kommen bestenfalls eine zeitliche Streckung der Schließung und höhere Abfindung für den Arbeitsplatzverlust heraus. Dies ist vielleicht für manche individuell verträglich, aber keinesfalls sozial verträglich.
Eine Welt ohne Kapitalisten können sich die Gewerkschaftsspitzen nicht vorstellen. Daher stellen sie auch das kapitalistische Privateigentum nicht in Frage – auch wenn in konkreten Auseinandersetzungen die Enteignung bestimmter Betriebe und Kapitalisten naheläge – und finden sich vielfach auch mit Privatisierungen ab. Oftmals zerbrechen sie sich den Kopf der Kapitalisten. Sie kämpfen um ihre Rolle als Vermittler zwischen den Klassen.
Linke Metaller trugen bei einer großen Gewerkschaftsdemo im Juni 2019 in Berlin massenhaft T-Shirts, die daran erinnern, dass §2 der Gewerkschaftssatzung die Überführung von Schlüsselindustrien in Gemeineigentum fordert. Doch im Ernstfall spielt diese Forderung jetzt auch dort keine Rolle, wo linke Akteure in Gewerkschaftsuntergliederungen Einfluss haben. Offensichtlich hält der linke Flügel in der IG Metall den Zeitpunkt immer noch nicht für gekommen, um offensiv etwa für die Verstaatlichung und Arbeiterkontrolle einzelner von Schließung bedrohter Betriebe zu kämpfen. Dabei wäre dies eine naheliegende Übergangsforderung und würde in der heutigen Zeit ein starkes Echo finden.
Während in kampfstarken Betrieben immerhin hier und da sehr kämpferische Aktionen stattfinden, stehen die vielen Einzelschicksale und tagtäglichen individuellen Kündigungen von Beschäftigten in Betrieben ohne Betriebsrat und ohne Tarifbindung nicht im Rampenlicht. Viele lassen sich aus Mangel an Erfahrung abservieren und vor den Arbeitsgerichten zur Hinnahme einer bescheidenen Abfindungssumme breitschlagen. Das deutsche Kündigungsschutzrecht ist bei näherer Betrachtung zu einem Abfindungsrecht verkommen. Nur ganz wenige kämpfen wie die legendäre Berliner Verkäuferin „Emmely“ bis zum Bundesarbeitsgericht erfolgreich gegen ihre Kündigung. „Emmely“ gelang dies übrigens nicht mit Hilfe des gewerkschaftlichen Rechtsschutzes, sondern mit einem unabhängigen Solidaritätskomitee.
In früheren Jahrzehnten forderten Chefs von Unternehmerverbänden demonstrativ Gesetzesoffensiven gegen Gewerkschaften und Betriebsräte. Dies werden sie jetzt auf absehbare Zeit unterlassen, zumindest bis zur Bundestagswahl. Sie ahnen, dass Vorstöße etwa zur Einschränkung von Rechten der Betriebsräte, zur Aushöhlung der Arbeitnehmervertretung in den Aufsichtsräten großer Kapitalgesellschaften oder zur Aushöhlung von Streikrecht und Tarifautonomie nur „unnötig“ Ärger bringen würden. Statt Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte vor den Kopf zu stoßen, wollen sie diese „ins Boot ziehen“ und ihre Zustimmung zu massiven Zugeständnissen sichern.
Die Hartz-Gesetze und der Anblick von „Beschäftigten zweiter Klasse“, also Befristeten, Leiharbeitern, Werkvertragsbeschäftigten und Scheinselbstständigen, haben für die Stammbelegschaften immer ein Stück weit disziplinierend gewirkt. In vielen Großbetrieben haben sich Betriebsräte und Gewerkschaften über Jahrzehnte als Vertretung von Stammbelegschaften gesehen. Dies erfolgte oftmals auf dem Rücken von prekär Beschäftigten, die schon in der letzten Krise 2008-9 ihre Jobs verloren und auch jetzt in vielen Betrieben inzwischen wieder entlassen wurden. In der aktuellen Krise ist der Angriff gerade auch auf die Stammbelegschaften und hoch qualifizierten Fachkräfte in vollem Gange, die sich bisher immer einigermaßen sicher wähnten.
Konzerne wie Continental und Schaeffler wollen sich nicht mehr auf eine traditionelle „sozialpartnerschaftliche“ Linie festnageln lassen und setzen im Interesse ihrer Profite auf industriellen Kahlschlag und Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer. Auch Opel drängt entgegen bestehenden Vereinbarungen auf betriebsbedingte Kündigungen. Bei Daimler ist ein heftiger Kampf um das Stuttgarter Motorenwerk im Gange. Und die Manager der jüngst vom Bund mit neun Milliarden geretteten Lufthansa setzen jetzt mit dem Projekt Ocean auf einen neuen Ferienflieger mit Lohn- und Tarifdumping.
Auch wenn die Gewerkschaftsspitzen immer wieder an „Vernunft“ und „Einsicht“ der Wirtschaftsbosse appellieren und von den „guten alten Zeiten“ träumen, in denen es noch tarifliche Zugeständnisse und spürbare Sozialreformen gab, sind die Tage des legendären Modells der „deutschen Sozialpartnerschaft“ gezählt. Ihr absehbares Ende wird allerdings nicht mit einem Paukenschlag, sondern als Prozess erfolgen. Denn während die Manager in kampfstarken Betrieben Betriebsräte einstweilen ernstnehmen und respektieren müssen, laufen anderswo ein systematisches Betriebsrats-Bashing und professionelle Versuche, die Gründung von Betriebsräten im Keim zu ersticken.
Nicht immer ist es so, dass die Bremser des Klassenkampfes im Gewerkschaftsapparat sitzen und die größten Kämpfer in den Betriebsräten. Manchmal ist es auch umgekehrt: Betriebsräte werden vom „eigenen“ Kapitalisten mit Zuckerbrot und Peitsche ausgebremst und identifizieren sich mit ihm, während Gewerkschaftssekretäre auf Aktion drängen.
Wir sind uns der Begrenztheit der Befugnisse von Betriebsräten und ihres historisch bedingten Charakters als Garant des Betriebsfriedens bewusst. Aber Marxisten werden in der Arbeitswelt die Rechte von Betriebsräten verteidigen und unter Umständen auch für diese Gremien kandidieren. Betriebsräte werden von vielen Belegschaften als ihre Führung und „Kummerkasten“ angesehen. Gewerkschaftsnahe Betriebsräte, Personalräte und Mitarbeitervertretungen werden im Betrieb vielfach auch mit der Gewerkschaft identifiziert. Sie können und werden unter starken Druck der Belegschaften kommen und unter Umständen als Dreh- und Angelpunkt für Mobilisierungen und betrieblichen Widerstand wirken.
„Einheitsgewerkschaft“
Über Jahrzehnte hatten sich Generationen von Akteuren in der Arbeiterbewegung eingeprägt, dass die Aufspaltung in Richtungsgewerkschaften die Klasse geschwächt und Hitlers Aufstieg zur Macht gefördert hat. Organisatorischer Ausdruck dieser Erkenntnis war die Überwindung politischer Richtungs- und Gewerkschaften und Schaffung von Einheitsgewerkschaften unter dem Dach des DGB. „Morgen werde ich gehängt. Schafft Einheit“, so der legendäre Spruch Wilhelm Leuschners15, der über Jahrzehnte in aller Munde war und DGB-Aktivisten motivierte. Die weiter bestehende Ständegewerkschaft, die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) wurde 2000 von der neue DGB-Dienstleistungsgewerkschaft ver.di geschluckt. Allerdings besteht als maßgeblicher Ständeverband neben dem DGB der konservative Beamtenbund (dbb) mit über einer Million Mitglieder weiter und hat nach wie vor seine Hochburgen in einzelnen Berufsgruppen und Teilen der Staatsverwaltung.
Auch wenn die Erinnerungen an Leuschner und dessen Gebot verblasst sind und im Gedächtnis einer jüngeren Generation keinen Platz mehr haben, so führt an den großen DGB-Gewerkschaften in aller Regel weiterhin kein Weg vorbei. Aus Unzufriedenheit mit der „sozialpartnerschaftlichen“ Linie der ver.di-Quellgewerkschaften ÖTV (Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) und DAG sind seit den 1990er Jahren im Bereich der Luftfahrt etliche neue Berufs- und Spartengewerkschaften entstanden. Dass diese mindestens genauso stark vor dem Diktat des Kapitals einknicken können, wie die bürokratischen Spitzen der DGB-Gewerkschaften, zeigt die aktuelle Krise, die für viele Zehntausende zu einer existenziellen Bedrohung geworden ist. Besonders die Flugbegleiter-gewerkschaft UFO könnte jetzt an der Krise der Luftfahrt, an ihrer Anbiederung an das Lufthansamanagement, den Intrigen ihres Führungspersonals und ihren inneren Widersprüchen zerbrechen.
Bei näherer Betrachtung sind solche Berufs- oder Spartengewerkschaften, sofern sie überhaupt tarif- und streikfähig sind, zudem oftmals politisch deutlich rückschrittlicher, als die DGB-Gewerkschaften. Berufs- und Ständegewerkschaften, die nicht die Interessen aller Arbeitenden in einem Betrieb und einer Branche, sondern nur verengt die Belange einer bestimmten Berufsgruppe oder eines Standes (Beamte, Angestellte, Berufsgruppen) im Blick haben, sind für einen verengten Blick und eine Konzentration auf Partikularinteressen besonders anfällig. Diese Tendenz beschrieben schon die marxistischen Klassiker im Zusammenhang etwa mit den traditionellen britischen Craft Unions (Berufsgewerkschaften).
So scheint beispielsweise die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) für oberflächliche Betrachter die radikalste und kämpferischste Gewerkschaft zu sein. Bei näherer Betrachtung jedoch zeigen sich reaktionäre politische Einstellungen und vorrangig organisationspolitische Interessen einer Bürokratie, die sich aus den Beiträgen der Mitglieder speist und eines Apparats, der sich vor allem selbst erhalten will.
Die Organisationsreform in ver.di, wo die bisherigen 13 Fachbereiche (1-13) ab 2022 in nur noch fünf Organisationseinheiten (A,B,C,D,E) verschmolzen werden, wird das ehrenamtliche Element weiter schwächen. Auch wenn der Frust manchmal nachvollziehbar ist: Ein Austritt aus ver.di oder anderen DGB-Gewerkschaften und die Gründung neuer Kleingewerkschaften ist keine Alternative und eine Flucht vor der notwendigen Auseinandersetzung mit der reformistischen Führung und deren sozialpartnerschaftlichen Kurs. Stattdessen sollten sich die kämpferischen Aktiven in ver.di als Basisopposition und auf allen Ebenen straff organisieren, Druck auf den Gewerkschaftsapparat ausüben und eine kämpferische Führung von unten aufbauen.
Wirkliche Einheit lässt sich nicht administrativ von oben verordnen und noch weniger mit einem reaktionären Tarifeinheitsgesetz erzwingen. Wo verschiedene relevante Organisationen nebeneinander bestehen, ist eine dynamische Einheitsfront von unten nötig. Damit kann sich auch in der Praxis zeigen, wer die Interessen der Betroffenen am besten im Blick hat und die besten Alternativen vorschlägt.
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist weiter gesunken. Die Tarifbindung und der Anteil von Betrieben und Beschäftigten mit Vertretung durch einen Betriebsrat sind weiter rückläufig. Und im Osten sind die Werte noch niedriger als im Westen. Die Gewerkschaftsapparate zumindest in einigen Bereichen sind sehr stark mit sich selbst beschäftigt und die Hauptamtlichen angesichts der Fülle der Probleme der Mitglieder manchmal chronisch überfordert. In wichtigen Branchen gibt es eine mangelnde gewerkschaftliche Präsenz in der Fläche. Manche sehen schon einen Teufelskreis und eine nicht mehr aufzuhaltende Spirale nach unten und einen langfristigen Niedergang der gesamten Arbeiterbewegung. Eine derartige Perspektive wäre allerdings einseitig und falsch. Die Gewerkschaftsapparate sind letztlich aber auch auf die Gelder und Loyalität der Mitglieder angewiesen. Angesichts zunehmender Angriffe der Kapitalisten werden sie vermehrt gezwungen sein, die Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und den Kapitalisten „Zähne zu zeigen“ - um dann teilweise hinterher am Verhandlungstisch wieder auf sie zuzugehen und ihnen mit Zugeständnissen weit entgegenzukommen.
Große gesellschaftliche Erschütterungen werden sich aber auch in Konflikten und einer Polarisierung in den Gewerkschaftsapparaten niederschlagen – etwa in Denkzettel-Wahlen, Kampfabstimmungen, radikalen inhaltlichen Beschlüssen, der Herausbildung neuer Oppositionsströmungen oder spektakulären Erfolgen für kämpferische oppositionelle bei Betriebsratswahlen. Solche Prozesse sind hier und da bereits im Gange. So eroberte beispielsweise die kämpferische Basisliste „Ratwechsel“, auf der auch ver.di-Mitglieder kandidierten, bei der Betriebsratswahl 2018 im Uniklinikum Gießen 15 von 31 Sitzen. Hintergrund und Nährboden sind vor allem die negativen Folgen der Privatisierung der Klinik und Unzufriedenheit mit der „laschen“ offiziellen ver.di-Politik, mit Tarifabschlüssen und Intransparenz.
Vorstandswahlen gelten in Gewerkschaften meistens als Formsache und Kampfkandidaturen sind vor lauter Einheitssoße verpönt. Oftmals sind daher geheime Wahlen die einzige Gelegenheit, um bei einem vom Apparat durchgestylten Kongress spürbar Kritik auszudrücken und Dampf abzulassen. Als der amtierende IG Metall-Vorsitzende Hofmann beim Gewerkschaftstag 2019 ohne Gegenkandidaten zur allgemeinen Überraschung mit schlappen 71 Prozent das schlechteste Wahlergebnis bei der Vorstandswahl einfuhr und rund 20 Prozent weniger verbuchte als vier Jahre zuvor, gab es auch bei linken Delegierten betretene Gesichter und Ratlosigkeit. Einen Tag später griff Hofmann diesen „Denkzettel“ auf und kritisierte, dass seine Kritiker nicht „mit offenem Visier“ gekämpft hätten. Mit den Worten „klare Kante gegen alle, die die Messer wetzen und die IG Metall spalten wollen“, versuchte Hofmann allen ein schlechtes Gewissen einzureden, die den großen Vorsitzenden nicht gewählt hatten.
Das beste Einzelergebnis beim IG Metall-Gewerkschaftstag erzielte mit knapp 98 Prozent der im Vorstand für Sozialpolitik zuständige Hans-Jürgen Urban. Manche bezeichnen ihn als „Liebling der Organisation“ und „linkes Gewissen“ der IG Metall. Er meldet sich regelmäßig als wortgewaltiger, reformistischer Kapitalismuskritiker zu Wort und begrüßt die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Möglicherweise wird der Apparat bei der nächsten Wahl für die Nachfolge Hofmanns ein linkes Signal mit der Person Urban mit der Begründung zu verhindern wissen, dass nun die Zeit für eine Frau gekommen sei. Dies würde auch wieder einmal aufzeigen, wie schädlich Identitätspolitik für die Arbeiterbewegung sein kann, da hier Form und Inhalt verwirrt werden. Das Geschlecht ist nicht ausschlaggebend dafür, ob jemand im Interesse der Arbeiterinnen und Arbeiter auftritt, sondern das Programm, das von der Person vertreten wird. Deshalb beurteilen wir Kandidatinnen und Kandidaten nach ihren politischen Positionen und ihren Taten und nicht nach ihrem Geschlecht oder ihrer Ethnizität. Was auf den ersten Blick fortschrittlich wirkt, wird in Wahrheit als eine Methode ausgenutzt, um linke Kandidaten zu verhindern.
Auf jeden Fall werden die Zustände in der Arbeitswelt so unerträglich werden, dass es vielerorts zu Widerstand und Explosionen kommen wird. Wo kein starker Gewerkschaftsapparat vorhanden ist, werden Teile von Belegschaften versuchen, die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen und in eigener Regie Kämpfe und Kampagnen zu organisieren. Diese Tendenz hat sich bereits bei ausgegliederten und privatisierten Subunternehmen rund um die Luftfahrt gezeigt, oder auch vereinzelt bei spontanen Ausbrüchen von Erntehelfern oder anderen besonders ausgebeuteten Schichten. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die Radikalisierung wird auch spontan und außerhalb der Massenorganisationen stattfinden.
In Deutschland tut sich die Arbeiterklasse derzeit schwer mit Betriebsbesetzungen16 als Kampfform gegen Schließungen und Massenentlassungen. Die legalistischen Gewerkschaftsapparate raten auch davon ab und unbeholfene Belegschaften lassen sich oftmals einschüchtern. Aber Besetzungen mit großer Ausstrahlung gab es schon einmal – in der BRD der 1970er und 1980er Jahre und in der ehemaligen DDR Anfang der 90er Jahre. In den Auseinandersetzungen der kommenden Jahre werden Teile der Arbeiterklasse mit dem Rücken zur Wand solche alten Kampfformen wiederentdecken. Solche betrieblichen Kämpfe – ob mit oder ohne Besetzung – werden zunehmen und könnten eine breite Solidaritätsbewegung in der Region und in der Branche auslösen.
Konfliktpotenzial für explosive Auseinandersetzungen und Bewegungen in den kommenden Jahren gibt es in vielen Bereichen und Branchen. So etwa im Gesundheits- und Pflegebereich, bei Logistik und Verkehr, in Fabriken aller Art, in Handel und Gastronomie und in den Sozial- und Erziehungsdiensten. Marxisten müssen den Alltag und die Entwicklungen in der Arbeitswelt genau studieren und sich praktisch auf kleinere und größere Ausbrüche von offenen Klassenkämpfen vorbereiten.
Mit dem bürgerlichen Staat, der parlamentarischen Demokratie und dem System der Gewaltenteilung hat die deutsche Bourgeoisie nach den heftigen Umbrüchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ stabil und ausgeglichen regieren können.
In über sieben Jahrzehnten BRD haben auch die verschiedenen Konstellationen in der Regierung im Sinne der herrschenden Klasse funktioniert. Nur zweimal – 1972 und 2005 – gab es überhaupt vorgezogene Neuwahlen. Bis 1998 hatten die klassischen bürgerlichen Parteien CDU, CSU und FDP in der Summe stets eine Bundestagsmehrheit. Erst dann übernahm mit der Koalition von SPD und Grünen eine Regierung ohne Beteiligung der traditionellen klassischen bürgerlichen Parteien die Amtsgeschäfte. Die Regierung Schröder-Fischer erwies sich letzten Endes als Musterknabe der Konterreform im Interesse des Kapitals.
Mit jedem Regierungswechsel der letzten Jahrzehnte wurde aber auch eines deutlich: Die Kontinuität der Staatsbürokratie und ihrer Außenpolitik. In der bürgerlichen Demokratie mit dem System der Gewaltenteilung sind genügend Kontroll- und Ausgleichsmechanismen angelegt, die beispielsweise einen ungewollten Linksschwenk oder auch eine Verselbstständigung politischer Spitzenkräfte à la Trump ausbremsen könnten. Der von den westlichen Siegermächten ab 1945 geschaffene Föderalismus dient faktisch dazu, die Zentralinstanz nicht mit zu viel (All)Macht auszustatten und alle politischen Akteure perfekt in das System zu integrieren. Dies funktionierte etwa 2017 perfekt, als Landesregierungen mit LINKE-Beteiligung im Bundesrat den Schritten Richtung Autobahn-privatisierung zustimmten und dafür vom damaligen Finanzminister Schäuble einige Bonbons in Form von zweckgebundenen Geldern für bestimmte Projekte zugeschoben bekamen.
Dass sich die Länder von sich aus freiwillig auflösen und in größere Einheiten zusammenschließen würden, ist extrem unwahrscheinlich und nur im Rahmen einer tiefen Staatskrise vorstellbar. Denn die vielen Bürokratien werden sich nie auflösen, auch wenn ihre Existenz manchmal extrem hinderlich ist.
Mit den oftmals notgedrungen zustande gekommenen verschiedenen bunten Regierungs-konstellationen in den Ländern legt die herrschende Klasse auch eine gewisse Flexibilität an den Tag. Sie dienen manchmal auch als Referenzprojekt und „Warmlaufen“ für den Bund.
Auch wenn Meinungsumfragen nur kurzfristige Momentaufnahmen sind und Stimmungen sich heutzutage schnell ändern können: Die Unionsparteien CDU und CSU, Favoriten des Kapitals, können sich ausrechnen, dass sie als Sieger aus der Bundestagswahl hervorgehen und hinterher auswählen, ob sie die Koalition mit der SPD fortsetzen oder die Grünen ins Boot holen. Viel deutet darauf hin, dass diesmal die Grünen zum Zuge kommen werden. Eine „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen nach dem Vorbild von Rheinland-Pfalz hätte keine Mehrheit. Die herrschende Klasse wird die FDP nicht fallenlassen. Lindners Liberale preisen sich jetzt als Möchtegern-Regierungspartei an. Aber dass die FDP 2017 die bereits weit gediehenen Verhandlungen über eine „Jamaica“-Koalition platzen ließ, hat manche im Lager der herrschenden Klasse irritiert. Es brachte dann wiederum mit sich, dass die SPD nach einem monatelangen internen Ringen die Koalition fortsetzte und jetzt in Umfragen deutlich unter dem 20,5-Prozent-Wahlergebnis von 2017 dahinvegetiert.
Die CDU gilt bislang über Jahrzehnte als stabilste, intakteste, größte und einflussreichste bürgerliche Partei in Europa. Doch auch sie steckt in der Krise und ist einem Prozess der Polarisierung und Auszehrung ausgesetzt. Daran ändert auch die Wahl Armin Laschets zum neuen Parteichef nichts.
In 72 Jahren Bundesrepublik hat sich die herrschende Klasse überwiegend auf ihre traditionellen Parteien und Interessenvertreter gestützt: CDU, CSU und FDP. Diese Parteien sind eng mit den Kommandozentralen der Wirtschaft verflochten, werden von ihren Spenden genährt und setzen deren Interessen praktisch um. In 15 von bisher 19 Bundestagswahlen errangen diese klassischen bürgerlichen Parteien eine Parlamentsmehrheit. Bis auf drei Wahlen 1972, 1998 und 2002, in denen die SPD die Nase vorn hatte, gingen die Unionsparteien stets als Sieger aus dem Urnengang hervor. Die CDU hat in 52 von 72 Jahren BRD regiert und Kanzler gestellt.
Im Vergleich zu den Verwerfungen bei anderen christdemokratischen und konservativen Parteien in Europa ist die CDU und vor allem die CSU noch relativ stabil. Die CDU kann nach wie vor beanspruchen, die größte, einflussreichste und intakteste bürgerliche Partei Europas zu sein. Sie bekommt weiterhin den größten Happen der Spenden ab, die Konzerne, Banken und Unternehmerverbände nach offiziellen Angaben Jahr für Jahr an die systemtragenden großen Parteien (CDU, CSU, SPD, FDP, Grüne) überweisen. Sie hat rund 420.000 Mitglieder, die bayerische Unionsschwester CSU 120.000 Mitglieder.
Das Kapital weiß, was es an seiner CDU hat. Gleichzeitig hat es der Parteiapparat über die Jahrzehnte mehr oder weniger gut geschafft, seine Massen- und Wählerbasis im Kleinbürgertum, im kirchlichen und ländlichen Milieu, bei der älteren Generation und politisch eher rückständigen Arbeitern zu sichern. Die Interessen des Kapitals wurden in bald 16 Jahren Kanzlerschaft Angela Merkels gut bedient. Aber am rechten Flügel der Union wurde Merkel immer wieder als „Sozialdemokratin“ beschimpft.
Dabei ist es aus der Sicht der herrschenden Klasse durchaus ein „Verdienst“ Merkels, dass sie die SPD durch Einbindung in ihre Regierung von 2005 bis 2009 und erneut seit 2013 in eine existenzielle Krise gestürzt hat. In der Bundestagswahl 2005, die zur Bildung der ersten Großen Koalition (GroKo) unter Merkel führte, errang die SPD noch 34,2 Prozent. 2017 stürzte sie auf 20,5 Prozent ab. In aktuellen nationalen Meinungsumfragen liegt sie bei 15 bis 17 Prozent.
Aber in den vergangenen Jahren konnte sich auch die CDU nicht einem Niedergang entziehen. Die Jugend lief ihr zunehmend davon, ihr stärkstes Reservoir hat sie bei den Senioren über 60. Bei der Bundestagswahl 2017 verbuchten die Unionsparteien mit bundesweit 32,9 Prozent das schlechteste bundesweite Ergebnis seit 1949. Der Niedergang setzte sich fort. Im Herbst 2018 brach die CSU in Bayern auf 37,2 und die CDU in Hessen auf 27 Prozent ein. Die Zeiten, in denen die sogenannten „Volksparteien“ (CDU, CSU, SPD) in Bundestagswahlen immer Zwei-Drittel-Mehrheiten oder gar 80 bis 90 Prozent der Stimmen errangen, gehören endgültig der Vergangenheit an. Diese Auszehrung der „politischen Mitte“ ist ein internationaler Trend.
Seit Ausbruch der Corona-Pandemie haben sich CDU und CSU als maßgebliche Regierungsparteien allerdings wieder erholt und verzeichnen derzeit bessere Umfragewerte. Auch dies ist ein (vorübergehender) internationaler Trend. Ob das so bis zur Bundestagswahl so bleibt, wird sich zeigen. Auf Merkel, die sich als „gütige Mutti“ der Nation 16 Jahre lang behauptete, folgt jetzt nach dem kurzen AKK-Intermezzo ihr Favorit Armin Laschet, dem ein „Papa“- und „Landesvater“-Image angehängt wird. Aber die Zeit des Durchlavierens ist beendet. Laschet werden wohl nicht mal annähernd 16 Jahre als „Papa“ vergönnt sein.
Dass eine Koalition von Union und FDP auch jetzt, 2021, wieder die von der Kapitalistenklasse favorisierte Konstellation wäre, ließ NRW-Ministerpräsident Laschet zu Jahresbeginn in einem FAZ-Interview durchblicken. Der Bewerber um den CDU-Vorsitz regiert im bevölkerungsreichsten Land seit 2017 mit der FDP. Sein Satz „Ich wünsche mir eine starke FDP im Bundestag“ klingt fast schon wie eine „Leihstimmenkampagne“ für die angeschlagenen Liberalen, die nach neuen Meinungsumfragen zwischen fünf und sieben Prozent liegen. Dass die FDP wie schon 2013 an der magischen Fünf-Prozent-Schwelle scheitern könnte, ist nicht ganz auszuschließen.
Wenn in der CDU heftig gestritten wird, dürfen wir eines nicht vergessen: Alle Akteure sind gewissenhafte Interessenvertreter des kapitalistischen Privateigentums und der herrschenden Klasse. Im Streit geht es vor allem um Strategie, Taktik und Propaganda und die Frage, wie die CDU im gerade begonnenen Superwahljahr ihre vorherrschende und tonangebende Rolle in der deutschen Innenpolitik behaupten und die Interessen der Kapitalistenklasse am besten bedienen kann. Aber eine Polarisierung in zwei parteiinterne Blöcke ist unübersehbar.
Friedrich Merz hat schon die zweite knappe Niederlage im Anlauf auf den CDU-Parteivorsitz erlitten. Allerdings konnte er nach seiner zehnjährigen Abstinenz im parlamentarischen Politbetrieb und derzeit ohne Funktion im Parteiapparat schon zum zweiten Mal wieder starke innerparteiliche Bataillone hinter sich vereinigen. Er war der Kandidat der organisierten CDU-Kapitalisten von Mittelstandsvereinigung und Wirtschaftsrat, der reaktionären Hardliner im Nachwuchsverband Junge Union (JU) und der Mehrheit in den ostdeutschen und südwestdeutschen Landesverbänden. Dem Vernehmen nach soll Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die graue Eminenz der CDU, Merz im Jahre 2018 gezielt zu einem „Comeback“ ermuntert haben. Seine Fans an der Basis erhofften sich von einem Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Merz, dass er mit seinen schmissigen konservativen, nationalistischen und neoliberalen Sprüchen wieder abtrünnige Wähler und ehemalige Mitglieder einfangen könnte, die in den letzten Jahren in größerer Zahl Richtung AfD abgedriftet sind. Laschets Anhänger befürchteten hingegen, dass Merz als Gallionsfigur mit seinen reaktionären Sprüchen im anlaufenden Wahlkampf zu sehr polarisiert, als Hassfigur antikapitalistische Instinkte bei Millionen arbeitenden Menschen wachgerüttelt und eine Protest- und Gegenbewegung gegen den „Blackrock-Kapitalismus“ ausgelöst hätte. Merz war jahrelang Aufsichtsratsvorsitzender von Blackrock Deutschland.
So verkörpert der Konflikt zwischen Merz und Laschet letzten Endes einen Trend, der angesichts der tiefen Krise des Kapitalismus und unvermeidlicher sozialer Explosionen weltweit im Lager der Kapitalistenklasse und ihrer politischen Vertreter zu beobachten ist: Eine Krise der politischen Herrschaft und Spaltungstendenzen über die Frage, wie diese Herrschaft am besten aufrecht zu erhalten ist. Ein tiefes Unwohlsein und Zukunftsängste im Kleinbürgertum, das über Jahrzehnte das loyale Fußvolk der bürgerlichen Parteien bildete und jetzt zunehmend daran zweifelt.
Laschet grübelt darüber, wie er Merz und seine Fans einbinden und zufriedenstellen kann. Der neue CDU-Chef steht jetzt von allen Seiten unter einem riesigen Erwartungsdruck und kann auf Dauer nicht „Everybody's Darling“ sein. Rainer Dulger, Chef des Unternehmerverbands BDA, forderte von Laschet umgehend einen Einsatz für „Rahmenbedingungen für einen raschen Aufschwung“, eine „nachhaltige Sozialpolitik“, eine „Entbürokratisierung des Landes“ und ein „Belastungsmoratorium für die Wirtschaft“. Hinter diesen Worthülsen verbirgt sich die Forderung nach einer Senkung von Löhnen und Sozialleistungen, Sozialabbau, Anhebung des Rentenalters auf 70 Jahre, Steuersenkungen für Kapitalisten und Privatisierungen zu Gunsten des Kapitals.
Merz und dem Kapital schweben vor, die gesetzliche Rentenversicherung weiter auszuhöhlen. Er möchte die Massen zwingen, zur Alterssicherung Aktien zu kaufen. „Wir müssen die Themen, die Merz uns ins Stammbuch schreibt, jetzt noch intensiver bearbeiten: Wirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit – all die Fragen, die nach der Pandemie auf uns zukommen“, versprach Laschet zum Abschluss des CDU-Parteitags im Januar 2021 und signalisierte damit, dass die Agenda von Merz und BDA letztlich auch seine Agenda ist. So wird auch nach dem Abgang Angela Merkels und der Bildung einer neuen Bundesregierung im kommenden Herbst weiterhin und verstärkt ein „eiskalter Kapitalismus“ herrschen, den Laschet vor Conti-Arbeitern angeprangert hatte.
Mit der Wahl Laschets an die CDU-Spitze ist die Frage der Kanzlerkandidatur der Unionsparteien noch nicht entschieden. Das unterlegene Merz-Lager scheint für CSU-Chef Markus Söder die Trommel zu rühren. In der Tat könnte der bayerische Ministerpräsident, der den Zwist in der Schwesterpartei aus der Ferne verfolgt, als „lachender Dritter“ das Rennen machen.
Söder ist nicht weniger reaktionär und kapitalhörig als Laschet und Merz. Aber er und die CSU haben es in ihrem blauweißen Freistaat immer wieder taktisch verstanden, auch größere Krisen zu überwinden und tonangebend zu bleiben. Dabei verstehen sie es notfalls auch meisterhaft, kritische Stimmungen aufzufangen und scheinbar einzubinden, wenn es nicht um essentielle Fragen der kapitalistischen Herrschaft geht. So griff Söder 2019 ein von konservativen Ökologen der ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei) eingeleitetes und überaus erfolgreiches Volksbegehren „Rettet die Bienen“ auf. Gegen den Widerstand seines Koalitionspartners Freie Wähler und von Teilen der eigenen Partei und der Agrarlobby setzte er das Begehren als Gesetz der Staatsregierung durch. Dadurch nahm er der Opposition den Wind aus den Segeln.
Schon 2013 – damals war Söder bereits Staatsminister der Finanzen, für Landesentwicklung und Heimat – griff die CSU ein erfolgreiches Volksbegehren gegen Studiengebühren in Bayern auf und setzte gegen den Widerstand des damaligen Koalitionspartners FDP die Abschaffung der wenige Jahre zuvor beschlossenen Studiengebühren im Landtag durch. Bei der Wahl 2014 wurde die CSU gestärkt und die FDP flog aus dem Landtag. Söder spricht von einer „Ergrünung“ der CSU und zielt ebenso wie Laschet auf eine mögliche Koalition im Bund mit den Grünen ab.
In dieser möglichen Regierung wird mit oder ohne einen Minister Merz die Agenda von Merz und Dulger auf der Tagesordnung stehen. Doch vor der Bundestagswahl werden Laschet, Söder und die Grünen aus wahltaktischen Gründen den Massen das Blaue vom Himmel versprechen. Teile der DGB-Gewerkschaften schüren nun Illusionen in Laschet und dessen angebliche „sozialpartnerschaftliche“ Gesinnung und freuen sich riesig, dass Merz nun doch nicht CDU-Chef geworden ist. Diese Freude wird nicht lange anhalten. Angesichts der tiefen Krise des Kapitalismus werden auf 16 Jahre Merkel mit hoher Wahrscheinlichkeit keine 16 Jahre Laschet oder Söder folgen.
Wie viele andere europäische sozialdemokratische und reformistische Parteien mit Wurzeln in der Arbeiterbewegung ist auch die SPD seit geraumer Zeit einem starken Niedergang ausgesetzt. Dies ist die Quittung für eine jahrzehntelange Politik des Reformismus ohne Reformen und eine vollständige Kapitulation vor dem Krisendiktat der Bourgeoisie.
In der alten BRD lag die Mitgliederzahl der SPD jahrelang bei etwa einer Million. Derzeit liegt sie noch bei rund 420.000. Allein in den letzten drei Jahren hat sie 60.000 Mitglieder durch Austritt oder Tod verloren. Die Schrumpfung ist besonders drastisch in den einstigen Hochburgen: Bremen minus 67 Prozent, NRW minus 63 Prozent, Hessen minus 60 Prozent. In NRW, das mit seinem industriellen Herz ein halbes Jahrhundert als proletarische und SPD-Hochburg mit absoluten Mehrheiten und „ewig roten Rathäusern“ im Ruhrpott galt, ist die SPD inzwischen unter 100.000 Mitglieder abgerutscht, während die CDU dort mit 120.000 Mitgliedern noch deutlich stärker verankert ist. Im Süden, wo die Sozialdemokratie in „guten Zeiten“ bei Wahlen schon mal 30 bis 40 Prozent mobilisieren konnte und in Industriezentren den Ton angab, dümpelt sie heute nach Umfragen zwischen neun Prozent (Bayern) und zwölf Prozent (Baden-Württemberg). Bei der letzten Bundestagswahl ist die Partei mit knapp über 20 Prozent faktisch auf das Niveau der Reichstagswahl von 1891 zurückgefallen. Es war das schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl überhaupt.
Um ein halbes Jahrhundert zurück liegen die Zeiten, von denen viele loyale Parteisoldaten in der überalterten SPD-Mitgliedschaft noch heute träumen. In der Bundestagswahl 1972 siegte die SPD in der alten BRD bei 91 Prozent Wahlbeteiligung mit 45,8 Prozent. Die Mobilisierung der Arbeiterklasse und Jugend brachte ihr damals einen historischen Zenit. Sie war wesentlicher Bezugspunkt für Gewerkschafter und kritische Jugendliche. 1998, nach 16 Jahren Opposition und am Ende der Regierung Kohl, raffte sich die Partei noch einmal zu 40,9 Prozent und über 20 Millionen Zweitstimmen auf. Bei der Bundestagswahl 2017 errang sie nur noch 9,3 Millionen Stimmen.
Meilensteine des Niedergangs sind nicht in erster Linie eine abstrakte „Politikverdrossenheit“, unvermeidliche Abkehr von „Volksparteien“ oder eine „Auflösung von Milieus“, sondern eine Politik im Dienste der herrschenden Klasse, die großen Teilen der eigenen Basis schweren Schaden zufügte. So nahm die Rot-Grüne Bundesregierung Schröder-Fischer 1998-2005 etwa tiefe Einschnitte bei der Arbeitslosenhilfe vor und schuf mit der „Gesundheitsreform“ 2004 sogenannte „Sachzwänge“ für die Schließung und Privatisierung von Krankenhäusern in den vergangenen Jahren. Für die Angriffe auf die gesetzliche Rente, die um sich greifende Altersarmut und die Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt stehen Namen wie Riester und Hartz. Megaprivatisierungen von Bahn, Post, Telekom und Wohnungsbaugesellschaften wurden unter Schröder vorangetrieben. So konnten heute tonangebende Konzerne wie Vonovia und Deutsche Wohnen gedeihen.
Dass der Frauenanteil bei den SPD-Mitgliedern deutlich niedriger ist als etwa bei der LINKEN oder Grünen, dürfte auch der Tatsache geschuldet sein, dass Frauen besonders unter den Konterreformen der Ära Schröder leiden. Daran änderten auch Frauenquoten bei Wahlen nichts. So wurden etwa bei der von uns strikt abgelehnten „Riesterrente“ von Anfang an Frauen von den privaten Versicherungen besonders benachteiligt, weil sie aufgrund einer statistisch höheren Lebenserwartung im Vergleich zu Männern als besonderes „Versicherungsrisiko“ gelten. Erst nach langen Jahren machte ein Gerichtsurteil mit dieser Diskriminierung Schluss.
Allem voran ging in den 1990ern eine ideologische Offensive der Herrschenden. So nahm die SPD-Bürokratie bereitwillig Schlagworte wie „Senkung der Lohnnebenkosten“ und „Standort Deutschland“ auf. Auch die Weichenstellung für aktive Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland und imperialistische Kriege wurde jahrelang ideologisch eingeleitet. Der ideologische Niedergang der SPD ist seither weiter vorangeschritten und scheint noch längst nicht abgeschlossen zu sein. Ausgerechnet in NRW entbrannte Anfang 2021 ein scharfer Konflikt zwischen DGB und der oppositionellen SPD-Landtagsfraktion. Letztere hatte „ohne Not“ ein arbeiterfeindliches Arbeitszeitgesetz der CDU-FDP-Regierung Laschets im Landtag unterstützt und damit die DGB-Führung vor den Kopf gestoßen. Ein Hinweis darauf, dass der jüngeren und abgehobenen Akademiker-Generation an der Spitze der SPD und ihrer Landtagsfraktion jegliches Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Arbeiterklasse und Gewerkschaftsapparaten fehlt.
Die Krise der SPD drückte sich auch in einem atemberaubenden Wechsel des Führungspersonals aus. Während die CDU von der Jahrtausendwende bis Ende 2018 durchgehend von Angela Merkel angeführt wurde, hat die SPD in diesem Zeitraum zehn Vorsitzende verschlissen: Lafontaine, Schröder, Müntefering, Platzeck, Beck, wieder Müntefering, Steinmeier, Gabriel, Nahles und Schulz. Sie wurden alle einst als „Hoffnungsträger“ und vermeintliche „Wunderwaffe“ aufs Schild gehoben, traten aber bald wieder ab. All dies erfolgte nicht unter „normalen“ Umständen.
Die Urwahl des neuen Führungsduos Esken/Walter-Borjans 2019 sollte der Partei neue Hoffnung auf einen vorsichtigen linken Aufbruch vermitteln. Vor allem Saskia Esken distanzierte sich von der Großen Koalition. Inzwischen klammert sie sich an die Regierungsbeteiligung als einzige Hoffnung für die Partei. Die Wahl von Esken/Walter-Borjans war eine Klatsche für den Spitzenmann des rechten Flügels, Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz. Doch das neue Führungsduo kapitulierte rasch vor dem rechten Flügel und rief Olaf Scholz handstreichartig und ohne jegliche Rückkoppelung mit der Basis zum Kanzlerkandidaten für 2021 aus. Aus Sicht des rechten SPD-Flügels macht es derzeit keinen Sinn, die beiden Vorsitzenden wieder wegzumobben. Scholz kann es relativ gleichgültig sein, wer unter ihm an der Parteispitze steht.
In den Debatten über Pro und Contra GroKo 2013 und 2017 wurde kurzfristig ein durchaus kritisches Potenzial an der SPD-Basis sichtbar. „Die Erneuerung der SPD wird außerhalb der GroKo sein oder sie wird nicht sein“, prophezeite Juso-Chef Kevin Kühnert Ende 2013. Inzwischen pfeift er offensichtlich auf eine Erneuerung und strebt als Vizeparteichef mit aller Kraft in den Bundestag. Vermeintlich linke Strömungen wie DL 21 führen ein Schattendasein. Bei aller Begrenztheit von Jeremy Corbyn, dessen Überraschungssieg 2015 die britische Labour Party erschütterte und hunderttausende Neumitglieder mobilisierte: Ein deutscher Corbyn ist nicht in Sicht. Dabei hätte es Kevin Kühnert in der Hand gehabt, nach dem Wirbel um seine Interviewäußerung zur Verstaatlichung von BMW nachzulegen und die Debatte anzustoßen und zu polarisieren. Das hätte viel Zuspruch bringen und eine sichtbare linke Opposition an der SPD- und Gewerkschaftsbasis und darüber hinaus anregen können. Doch das wollte er partout nicht.
Nun dürften der Niedergang und das Siechtum der Sozialdemokratie weiter anhalten. Umfragewerte sehen sie derzeit bundesweit bei 15 bis 17 Prozent. Dass der Vizekanzlerkandidat Olaf Scholz mit seiner „Regierungserfahrung“ bei der Bundestagswahl noch etwas rausreißt, ist extrem unwahrscheinlich. Die SPD-Führung wird verzweifelt versuchen, ihre Juniorrolle in der Bundesregierung zu verteidigen und sich der herrschenden Klasse als Bindeglied zu den Gewerkschaften zu verkaufen versuchen.
Der Verlust von Mandaten und Mitgliedern zehrt auch an Finanzen zur Unterhaltung der Parteibürokratie. Spärlicher fließende Staatsgelder und Mitgliedsbeiträge machen sie umso abhängiger von anderen Einnahmequellen. Weil ihre Politik die Basis und die Massen niemals begeistern und zu finanziellen Opfern motivieren wird, sucht sich der Parteiapparat andere Finanziers und begibt sich damit noch mehr in die Abhängigkeit von Konzernen, Banken und Versicherungen. So tauchen auf den Sponsorenlisten von Parteitagen der letzten Jahre namhafte Konzerne und Unternehmerverbände auf, darunter auch der Zentrale Immobilienausschuss, ein Dachverband der Immobilienwirtschaft, dem auch der Immobilienkonzern Deutsche Wohnen angehört. Kein Wunder also, dass die Berliner SPD-Spitze – bislang größte Partei der Koalition – gegen die „Kampagne Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ eingestellt ist und die designierte Spitzenkandidatin Franziska Giffey eine Verlängerung des auf fünf Jahre befristeten Berliner Mietendeckels ablehnt.
Die Frage der Finanzen ist für jede Organisation eine hochpolitische Frage. Nach Angaben der Website „Abgeordnetenwatch“ zahlte die Deutsche Bank 15.000 Euro für eine Veranstaltung der SPD-nahen Führungsakademie der sozialen Demokratie. Zu den Sponsoren des jüngsten Juso-Bundeskongresses gehörten McDonalds und Union Investment. Dass der Kongress unter solchen Umständen Kevin Kühnerts frühere Forderung nach Verstaatlichung von BMW nicht beschlossen hat, sollte niemanden verwundern. Das Parteiblatt „Vorwärts“ erscheint nun noch alle zwei Monate und wird durch Anzeigenkunden wie Post, Telekom, Deutsche Wohnen, DocMorris, ENBW, Volkswagen, den Verband der privaten Krankenversicherung, den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste und den Fachverband Kartonverpackungen für flüssige Nahrungsmittel am Leben gehalten.
Während in Frankreich und Großbritannien ein Abschluss bei einer Elitehochschule eine entscheidende Voraussetzung für politische Karrieren ist, gilt in Deutschland das andere Extrem, die Ochsentour durch Parteigremien und parteinahe Jugendverbände ist entscheidend. Auch ohne eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen zu haben kann man in Parteien und Staat ganz nach oben kommen. Diese finanzielle Abhängigkeit macht besonders anfällig für Opportunismus und das Kleben an Apparaten und Positionen.
Der langfristige Niedergang der SPD ist allerdings kein geradliniger Prozess. Die Parteibürokratie setzt auf Loyalität und Eselsgeduld ihrer Basis und Anhängerschaft und zehrt nach wie vor von der Vergangenheit und Tradition. Vielerorts bestehen noch ein enger Bezug und eine Nähe zu den Vorständen von DGB-Gewerkschaften, zu mittleren und unteren Rängen im Gewerkschaftsapparat und zu Betriebsräten. Durch ihre kommunale Verankerung und Position in Landesregierungen kann die SPD zumindest im Westen immer noch viele Bürgermeisterdirektwahlen gewinnen und hat Jobs für Nachwuchskarrieristen zu vergeben. In diesem Sinne ist es etwa auch den arg gebeutelten sozialdemokratischen Parteien in Frankreich und den Niederlanden im vergangenen Jahr teilweise gelungen, bei Kommunalwahlen verlorenen Boden wieder zurückzuerobern.
Die Grünen haben in Deutschland in den letzten Jahren gewaltig an politischer Bedeutung gewonnen. Während andere Parteien schrumpfen oder stagnieren, haben sie einen anhaltenden Mitgliederzustrom. Mittlerweile sind sie nach Wahlumfragen die zweitstärkste Partei auf Bundesebene und streben nach bald 16 Jahren Opposition in die Bundesregierung. Ebenso spielen sie und die Grüne Jugend eine wichtige, oft die führende Rolle in Umweltbewegungen wie Fridays for Future (FFF). Aus diesen Gründen müssen wir dieser Partei nun eine deutlich größere Aufmerksamkeit zukommen lassen, um ihre künftige Rolle in der deutschen Politik prognostizieren zu können.
Die Grünen wurden 1980 aus Elementen der bürgerlichen Umweltaktivisten und der Studentenbewegung, darunter Ex-K-Gruppen und Spontis gegründet. In der Gründungszeit gab es starke Konflikte zwischen Mitgliedern der K-Gruppen und dem konservativen Teil der bürgerlichen Ökologen. Beim Gründungsparteitag 1980 setzten sich die „Ökosozialisten“ durch. Dies führte zu einer kleinen Abspaltung und Gründung der ÖDP in Bayern.
Trotz der anfänglichen Dominanz von sich selbst als „Sozialisten“ bezeichnenden Kräften beschlossen die Grünen ein kleinbürgerlich-radikaldemokratisches Grundsatzprogramm. Der Schutz des Kleinunternehmertums, die Friedensbewegung und Umweltthemen waren ihre primären Abgrenzungspunkte zu den anderen Parteien des bürgerlichen Lagers.
Mit der Zeit setzte sich der sogenannte „Realo“- gegen den sogenannten „Fundi“-Flügel durch. Die Grünen öffneten sich nun für Koalitionen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Die erste Rot-Grüne Koalition 1985 in Hessen wurde zur Zäsur. Der linke Flügel um Personen wie Jutta Dithfurth, die 1987 noch als Spitzenkandidatin bei der Bundestagswahl mit Ansätzen eines Klassenstandpunkts den SPD-Kanzlerkandidaten blass aussehen ließ, trennte sich in den frühen 1990er Jahren von der Partei. Die führenden Köpfe des „Realo“-Flügels um Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit hatten nun endgültig die Dominanz der Partei errungen.
Von 1998 bis 2005 trugen die Grünen auf Bundesebene zwei Wahlperioden lang die Koalitionen mit der SPD unter Gerhard Schröder. Damit tragen sie ebenso Mitschuld an den Angriffen auf die gesetzliche Rente (Riester), an der Agenda 2010, der „Ökonomisierung“ des Gesundheitswesens mit dem System von Fallpauschalen und starkem Privatisierungsdruck, an umfassenden Privatisierungen auch in anderen Bereichen und an einer aggressiveren deutschen Außenpolitik mit aktiver Kriegsbeteiligung.
Nach dem 11. September 2001 erklärten die USA den „Krieg gegen den Terror“ und riefen zum ersten Mal den NATO-Bündnisfall aus. Die Regierung Schröder-Fischer beteiligte sich am Einsatz in Afghanistan und am Horn von Afrika. Hinzu kam die Beteiligung Deutschlands an der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO 1999 mit massivem Schaden an der Zivilbevölkerung. Wohl aus taktischen Gründen beschworen Schröder und Fischer im Wahljahr 2002 den „deutschen Weg“ als Alternative zur „amerikanischen Kriegstreiberei“ im Irak und bezeichneten Deutschland als Friedensmacht. Das änderte nichts daran, dass Deutschland indirekt mit Überflugrechten und logistischer Hilfe den Krieg gegen den Irak 2003 unterstützte. Nach diesen Regierungsjahren war innerhalb der Grünen jegliche relevante Restopposition gegen Sozialabbau und Militarismus gebrochen.
Im Grundsatzprogramm von 1980 wurde noch jegliche militärische Intervention ausgeschlossen und die Auflösung der NATO gefordert. Im Jahr 2020 beschlossen die Grünen zum dritten Mal ein neues Grundsatzprogramm. Darin werden Militäreinsätze als „äußerstes Mittel“ bezeichnet, ebenso wird die Bundeswehr als „notwendiges Mittel staatlicher und internationaler Sicherheitspolitik“ angesehen und gesagt, dass man sich auf Deutschland als Bündnispartner „verlassen“ können müsse. Die NATO gilt für die Grünen nun trotz Kritik als eine „unverzichtbare Akteurin, um die Sicherheit Europas zu garantieren.“
Bis heute zehren die Grünen von ihrem Ruf als „Bürgerrechtspartei“, weil sie sich schon in den 1980er Jahren und lange vor der SPD für Ausländerwahlrecht und erleichterte Einbürgerung ausgesprochen hatten. In der politischen Auseinandersetzung mit der heutigen AfD konnten sich die Grünen aufgrund ihrer Abgrenzung zum rechten Lager als „Anti-AfD-Partei“ profilieren.
Ebenso konnten sie sich einen Ruf als „konsequente Pro-Flüchtlingspartei“ aufbauen. Zudem macht sie ihre starke Identitätspolitik zu einem starken Hassobjekt für rechte Gruppen. Die Grünen werden mittlerweile von rechten Kräften als der politische Hauptfeind angesehen. Dies hilft ihnen zusätzlich und verleiht ihnen ein „progressives“ und „weltoffenes“ Image. Ebenso profitieren die Grünen stark von der immer wichtiger werdenden Umweltfrage. So brachte die nukleare Katastrophe im japanischen Fukushima Anfang März 2011 schlagartig starken Rückenwind für die Grünen bei den damaligen Wahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen. In Baden-Württemberg brachte ihnen das Immobilien- und Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ damals zusätzlichen Auftrieb.
Durch ihre starke Intervention bei FFF konnten sie ihre Beliebtheit in der Jugend stark vergrößern.
Dies sind alles Faktoren, welche zu einem starken Anstieg der Mitgliedschaft ab 2017 führten und sie nun zur zweitstärksten Partei in der Wählerschaft machen. Die Grünen konnten ihre Mitgliederbasis fast verdoppeln, von 59.000 im Jahr 2015 auf derzeit rund 100.000. Jede Partei, welche sich im Aufschwung befindet, wird ein begehrtes Ziel für Karrieristen, denn dort ist es möglich, innerhalb von recht kurzer Zeit an Mandate und Posten im Staatsapparat zu kommen. Bei weitem nicht jedes grüne Neumitglied ist dadurch gleich ein Karrierist, allerdings zeigte die Geschichte immer wieder, dass selbst die stärksten Überzeugungen keine Immunität gegen spätere Karriereambitionen und Opportunismus sind.
Die Grünen sind die Partei der linksliberalen Akademiker. Sie sind die Partei mit dem mit Abstand höchsten Anteil an Hochschulabsolventen in Mitgliedschaft und Wählerschaft. 72 Prozent der Mitglieder haben einen (Fach-)Hochschulabschluss.
Luisa Neubauer, Mitglied bei den Grünen und in der Grünen Jugend, hat sich als das aktuelle Gesicht von FFF in Deutschland herauskristallisiert. Dies ist kein Zufall oder Einzelfall, denn die Grünen versuchen mit aller Kraft die Bewegung vor allem als Wahlbewegung und Rekrutierungsfeld zu vereinnahmen. Das Grünen-Führungspersonal versucht mit aller Macht und systematisch die antikapitalistischen Kräfte zu verdrängen.
Seit 2011 stellen die Grünen mit Winfried Kretschmann erstmals einen von 16 Ministerpräsidenten. Kretschmann, der seine Karriere 1985 als rechte Hand des hessischen Umweltministers Joschka Fischer begann, hat sich sehr gut mit der Großbourgeoisie in Baden-Württemberg arrangiert. Der Unternehmerverband Südwestmetall war eine der ersten Gruppen des Großkapitals, die regelmäßig Großspenden an die Grünen überwiesen.
Der wichtigste wirtschaftspolitische Akteur innerhalb der Grünen ist aber der Bundesverband Erneuerbare Energie. Dieser Lobbydachverband zeigt bei keiner anderen Partei so starkes finanzielles Engagement und Gesicht. Einige Grüne Ex-Politiker sind bereits als Berater und Angestellte für den Verband tätig.
Über die neue Position der Grünen im Autoland Baden-Württemberg wurde die Partei immer attraktiver für das Großkapital. Dies zeigt sich an immer größeren Summen beim Sponsoring von Parteitagen und Großspenden.
Sponsoring:
Grüne Bundesdelegiertenkonferenz 2013 – 82.800 Euro
Grüne Bundesdelegiertenkonferenz 2018 – 173.513,85 Euro
Grüne Bundesdelegiertenkonferenz 2019 – 277.482,97 Euro
Großspenden an Grüne:
2013 - 60.000 Euro, nur Südwestmetallverband
2018 - 258.501 Euro
2019 - 335.001 Euro
Ziemlich deutlich lässt sich von 2018 auf 2019 ein starker Sprung von Finanzmitteln des Großkapitals für die Grünen erkennen. Die Grünen werden mittlerweile deutlich von der Bourgeoisie als unentbehrliche zweite Säule der bürgerlichen Parteien aufgebaut. Die Zeichen stehen deutlich auf Schwarz-Grün. Die vermeintlichen „Volksparteien“ und Säulen der „Großen“ Koalition, CDU/CSU und SPD, haben laut Umfragen zusammen keine stabile Mehrheit mehr. Ebenso ist die SPD blutleer und kann kaum noch Menschen mobilisieren. Auch für die klassische bürgerliche Regierungskonstellation aus Union und FDP, die immerhin in 33 von 72 Jahren BRD bestand, dürfte es nach der kommenden Wahl bei weitem nicht reichen. Dagegen kommen die Grünen als aufsteigende Kraft wie gerufen für die Funktion als neue Stütze für die Union. Die Grünen-Spitze ist dazu auch bereit. Robert Habeck hat Grün-Rot-Rot eine klare Absage erteilt. In seinem Buch „Von hier an anders“ begründet er dies mit dem „Auseinanderdriften der Milieus“. Grün-Rot-Rot würde in seinen Augen den Zusammenhalt der Gesellschaft noch weiter zerrütten. Statt einer „Revolution“ sei ein „neues Fundament des Vertrauens“ notwendig, so Habeck.
Für das Wahljahr 2021 halten wir eine Schwarz-Grüne Bundesregierung als Ergebnis für durchaus wahrscheinlich. Die Grünen sind seit bald 16 Jahren nicht mehr in der Bundesregierung und bieten sich in ihrer Selbstdarstellung als „frische“ und „progressive“, „ökologische“ und „antirassistische“ Kraft an. Menschen unter 30 können sich in aller Regel nicht an die Rolle der Grünen in der Regierung Schröder-Fischer erinnern und hegen oftmals Illusionen.
Vorzeigemodell für ein Schwarz-Grünes Bündnis auf Bundesebene ist Hessen, wo ein traditionell rechtsnationaler CDU-Landesverband seit sieben Jahren friedlich und geräuschlos mit den Grünen regiert. Hessens Vizeministerpräsident und Verkehrsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) zeigt der herrschenden Klasse derzeit, dass er als Vollstrecker, der mit brutaler Polizeigewalt durchgepeitschten Abholzung des Dannenröder Forsts ein zuverlässiger Interessenvertreter des Kapitals ist. Dies wäre er sicher auch in einem Bundeskabinett.
Als Regierungspartei werden sich die Grünen durchaus mit einzelnen Vorzeigeprojekten zu profilieren versuchen, die einem Teil ihrer Basis imponieren und grüne Kapitalisten, Ökolandwirte, regionale Kreisläufe, Fahrradlobby und identitätspolitische Akteure fördern. Doch die einstige Öko-Partei wird sich in der Regierung wieder einmal als große Verräterin ihrer eigenen ökologischen Ideale entpuppen. Wirksamer Klimaschutz und Kapitalinteressen sind diametral entgegengesetzt.
Wenn Grünen-Spitzenpolitiker in lukrativen Regierungsämtern angekommen sind, kennen sie nur eine Moral: Posten und Privilegien erhalten. Wenn sie Konflikte wie jetzt um den „Danni“ eiskalt durchziehen und sich in solchen Konflikten als hart und immun gegen den Druck von unten erweisen, dann winkt ihnen auch nach dem Ausscheiden aus den politischen Spitzenämtern immer ein warmes Plätzchen und lukrativer Posten in Wirtschaft und Lobbyverbänden. Dies zeigen die Laufbahnen von früheren Grünen-Regierungsmitgliedern – Ministern und Staatssekretären wie Joschka Fischer, Rezzo Schlauch, Margareta Wolf, Matthias Berninger – die hinterher hochdotierte Lobbyisten für namhafte Kapitalgruppen wurden.
Die heutige Grünen-Ko-Vorsitzende Annalena Baerbock verbuchte schon beim Kongress des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) im Juni 2019 mehr Applaus als die Redner anderer Parteien. Doch weil allein mit Kapitalistenapplaus auf solchen Veranstaltungen keine Wahl zu gewinnen ist, basteln die Wahlkampfstrategen der Ex-Ökopartei derzeit auch eifrig an einem „sozialdemokratischen“ Image.
So soll etwa die Forderung nach Abschaffung von Hartz-IV-Sanktionen Menschen ansprechen, die durch den Lockdown plötzlich und unerwartet in die Mühlen der Bürokratie in Sozialämtern und Jobcenter zu geraten drohen. Dazu gehören aus Sicht der Grünen-Bürokratie vor allem auch Solo-Selbstständige und Gewerbetreibende, die der Lockdown hart trifft, die mangels Arbeitnehmereigenschaft kein Kurzarbeitergeld beanspruchen können und daher finanziell am Abgrund stehen könnten.
Sicher stellen die Grünen nichts Anderes dar, als eine moderne liberale bürgerliche Partei des 21. Jahrhunderts. Aber um ein Stück weit auch in der öffentlichen Wahrnehmung ihre Mittäterschaft am Sozialabbau in sieben Jahren Rot-Grüner Bundesregierung 1998 bis 2005 zu kaschieren, setzen die PR- und Wahlstrategen jetzt darauf, eine vermeintliche „Gewerkschaftsnähe“ und ein Stück „Stallgeruch“ der Arbeiterbewegung zu beanspruchen. Somit wollen sie der schwächelnden SPD auf ihrem ureigenen Feld das Wasser abgraben. Denn die SPD-Führung pries sich stets als Moderatorin und Vermittlerin zu den Gewerkschaftsapparaten an.
Anfang 2020 veröffentlichten Grünen-Chef Robert Habeck und DGB-Chef Rainer Hoffmann in der großbürgerlichen FAZ einen gemeinsamen Gastbeitrag mit dem Titel „Die Linke droht sich im Widerspruch zu verheddern“. Darin lehnten sie eine Vermögenssteuer ab und brachen eine Lanze für mehr Staatsverschuldung in Krisenzeiten. Eine weitere Personalie könnte den Grünen im Wahlkampf bundesweit als Signal dienen, um eine vermeintliche „Gewerkschaftsnähe“ und ein Stück „Stallgeruch“ der Arbeiterbewegung zu beanspruchen und somit der schwächelnden SPD das Wasser abzugraben. Der langjährige ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske (68), Mitglied der Partei seit den 1990er Jahren, kandidiert für die Grünen in dem vom Wolfsburger Volkswagenwerk geprägten Wahlkreis 51 (Wolfsburg-Helmstedt) für den Bundestag. Er strebt das Direktmandat an und will auf einem vorderen Platz auf der niedersächsischen Grünen-Landesliste abgesichert werden.
Manche sagen Bsirske den Ehrgeiz nach, auf seine alten Tage noch einmal eine zweite Karriere zu machen – nicht als Hinterbänkler, sondern als Bundesarbeitsminister. In fast zwei Jahrzehnten als ver.di-Chef hat es der wortgewaltige Bsirske verstanden, sich als engagierter „Kumpeltyp“ zu präsentieren. Dabei war seine Rolle im Gewerkschaftsapparat, in Tarifrunden und in vielen Aufsichtsräten namhafter Konzerne genauso systemerhaltend und staatstragend wie die Rolle anderer Funktionäre in der Arbeiteraristokratie. Aber Bsirske hat auch ein Gespür für Stimmungen. So rief er im September 2019 die Mitglieder seiner Gewerkschaft zur Beteiligung an den Klimastreiks der FFF-Bewegung auf, aber „nur außerhalb der Arbeitszeit“, wie er betonte. Diskussionen über kreative Möglichkeiten, um etwa über Betriebsversammlungen „ganz legal“ in den Betrieben einen Beitrag zum Klimastreik zu leisten, lagen ihm fern.
Die Grünen zehren noch von ihrem Ruf als angeblich konsequente Verfechter von Verkehrswende, Radwegen und Schienenverkehr. Ihre praktische Politik in Hessen und Baden-Württemberg sieht jedoch ganz anders aus.
Dass Grünen-Parolen nicht versprechen, was sie halten, zeigt exemplarisch auch ein Blick auf ein neues Papier der Grünen-Bundestagsfraktion unter dem Titel „Einfach Bahnfahren – Die Bahn zum stärksten Verkehrsmittel entwickeln“. Verbal wird darin zwar eine Privatisierung der Deutschen Bahn (DB) abgelehnt. Seit dem geplatzten Börsengang der DB 2008 möchte sich derzeit kein politischer Akteur mit diesem Reizthema die Finger verbrennen. Zudem geht es privaten Investoren hier nicht um Aktienpakete, sondern um profitable Filetstücke. Konzerne wie Siemens, Knorr-Bremse, Stadler und internationale operierende Privatbahnen haben ein Auge auf Ausbesserungswerke und Ausschreibungen für den öffentlichen Verkehr geworfen. Wer aber tiefer in die Materie eindringt und das Papier durchleuchtet, stößt rasch auf die Strategie einer schleichenden Privatisierung durch die Hintertür, wie sie BDI, CDU/CSU und FDP seit Jahrzehnten fordern. So soll die bundeseigene DB komplett zerschlagen und aufgespalten werden. Eisenbahnnetz und Infrastruktur sollen losgelöst und in eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) überführt werden, die sich aus öffentlichen Geldern speist. Die für den Personen- und Güterverkehr zuständigen DB-Transport-Töchter hingegen sollen in einer GmbH organisiert werden. Dies erleichtert eine materielle Privatisierung. Gefördert durch öffentliche Fahrzeugpools sollen im Personenfernverkehr per Ausschreibung verstärkt private Kapitalgruppen zum Zuge kommen.
Dies ist bereits im Regionalverkehr der Fall, wo sich der Marktanteil der DB zugunsten privater Konzerne in zwei Jahrzehnten fast halbiert hat. Bei der Berliner S-Bahn und in den Ländern sind Grünen-Politiker in den Landesregierungen Vorreiter von Ausschreibung und somit schleichender Privatisierung. Die vielen negativen Erfahrungen werden im Grünen-Papier nirgendwo hinterfragt.
Ihr Modell läuft auf den heutigen Zustand in Großbritannien heraus, dem europaweiten Vorreiter der Bahnprivatisierung. Dort liegt das defizitäre Netz in öffentlicher Trägerschaft, während die Filetstücke im Transport und Servicebereich von privaten Konzernen kontrolliert werden. Somit sind die Grünen auf einer Linie mit Unternehmerverbänden und anderen bürgerlichen Parteien. Mit einer möglichen Schwarz-Grünen Bundesregierung rückt ein derartiger ernsthafter Vorstoß Richtung Filetierung, Fragmentierung und Bahnprivatisierung à la Großbritannien näher. Damit verraten die Grünen auch hier ihre „eigenen“ (ehemaligen) Öko-Ziele. Denn ein auf privaten Profit getrimmtes Eisenbahnwesen und eine zerschlagene und zerklüftete Eisenbahn kann nicht die Vorteile des Schienenverkehrs ausfahren und wird in der Konkurrenz mit anderen Verkehrsträgern unter die Räder kommen.
Dieses Beispiel zeigt nebenbei auch eines: Die reformistische Hoffnung, durch die tiefe Corona- und Wirtschaftskrise könne sich eine Kurswende in der Wirtschaftspolitik weg vom „Neoliberalismus“ und Privatisierungsorgien ergeben, ist trügerisch. Zwar gibt es in der Krise deutliche Tendenzen zum Staatsinterventionismus, also einer stärkeren Einmischung des Staates. Aber die schleichende Privatisierung in vielen Bereichen geht weiter. Eine Abkehr von der Privatisierungspolitik oder gar Umkehr ist nicht in Sicht.
All dies bietet auch neue Möglichkeiten für eine Radikalisierung bei FFF. Der Führungsanspruch der Grünen wurde schon bisher an vielen Orten stark kritisiert. Dies bietet für uns gute Chancen in der nahen Zukunft für eine Intervention mit radikalen sozialistischen Ideen.
Hier und da werden Klimalisten das grüne Wählerpotenzial anzuzapfen versuchen. Ein großer Durchbruch ist dabei aber nicht zu erwarten. Junge Menschen, die sich mit der Umweltfrage radikalisieren, werden aufgrund ihrer Erfahrungen sehr schnell sozialistische Schlussfolgerungen ziehen und erkennen, dass die Umweltfrage keine Gattungsfrage, sondern eine Klassenfrage ist. Deshalb können Konzepte wie die „sozial-ökologische Transformation“, wie sie z.B. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der LINKEN und anderen reformistischen Organisationen vertreten werden, keine Lösung anbieten. Sie packen das Problem nicht an der Wurzel, nämlich dem Privateigentum an Produktionsmitteln und der Produktion für den Profit. Marx, Engels, Bebel und andere Pioniere haben bereits im 19. Jahrhundert den engen Zusammenhang zwischen der Umweltzerstörung und der kapitalistischen Produktionsweise erklärt. Nur eine weltweite demokratische und sozialistische Planwirtschaft unter Führung der Arbeiterklasse kann die globale Klimakatastrophe und ihre Auswirkungen aufhalten und schrittweise wieder rückgängig machen.
Auch 30 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ wirken die riesigen Verwerfungen nach der endgültigen Zerschlagung der staatlichen Planwirtschaft auf dem Gebiet der ehemaligen DDR noch nach. Die Auflösung und Abwicklung der Kombinate durch die Treuhandgesellschaft ab 1991 zerstörte auch viele Betriebe, die gut ausgelastet waren und mit einer hohen Exportquote in der früheren DDR-Wirtschaft als Devisenbringer gegolten hatten.
„In Westdeutschland wäre es nicht möglich gewesen, den Leuten eine Veränderung dieses Ausmaßes zuzumuten. Sie hätten das nicht durchgehalten“, sagte Ex-Treuhand-Chefin Birgit Breuel 2019 rückblickend der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS). Viele Regionen und weite Landstriche bluteten aus und haben mit Abwanderung und Überalterung zu kämpfen. Neu angesiedelte hochmoderne Industriebetriebe (Automobilbranche, Mikroelektronik, etc.) können den Arbeitsplatzkahlschlag der alten DDR-Betriebe nicht einmal annähernd ersetzen. Statt Ansiedlung von Industrie in Stadt und Land wie zu alten DDR-Zeiten gab es lediglich einzelne „Leuchtturmprojekte“. Die Ansiedlung neuer Betriebe erfolgte vielfach auf der Basis hoher staatlicher Subventionen. Es sind häufig Zuliefererbetriebe und „verlängerte Werkbänke“, die dann als erste von Schließungen und einer Verlagerung der Produktion Richtung Osteuropa betroffen sind, sobald die Subventionen auslaufen. Bei dem in Aufbau befindlichen Tesla-Werk in Grünheide sind Betriebsräte und Gewerkschaften unerwünscht. Der Konzern ist bekannt für Union-Busting und sucht gefügige Arbeitskräfte.
Großkonzerne mit Zentrale in Ostdeutschland oder eine ostdeutsche Großbourgeoisie gibt es kaum. Viele Angehörige der gesellschaftlichen Eliten (Uni-Chefs, Intendanten von Sendern, Politkader und Spitzenkräfte im Staatsapparat, Manager) stammen aus dem Westen. Auch faschistische Führungsfiguren wie Höcke, Kalbitz und Holger Apfel (NPD Sachsen, inzwischen nach Mallorca ausgewandert) sind von ihrer Herkunft „Wessis“.
Einen hohen Zuzug verzeichneten nur ostdeutsche „Vorzeigestädte“ wie Berlin, Dresden, Jena oder Leipzig, während sich gleichzeitig große Landstriche entvölkern und von hoher Arbeitslosigkeit betroffen waren und sind. Löhne, Arbeitsbedingungen, Renten und allgemeiner Lebensstandard sind niedriger als im Westen. Ostdeutsche haben im Schnitt weniger Sparbestände und eine geringere Eigenheimquote. All dies bedingte Strukturumbrüche und Verelendung in Arbeitervierteln und damit auch eine breite Demoralisierung und Entfremdung der ostdeutschen Arbeiterklasse vom parlamentarischen System. Die Wahlbeteiligung ist besonders in den prekärsten Schichten der Arbeiterklasse gering. Bürgerliche Parteien betrachten diese Regionen zuweilen verächtlich als „Schandflecken“.
Die ostdeutsche Arbeiterklasse wurde zum Versuchskaninchen für Niedriglöhne und Entrechtung. Es waren überwiegend die westlichen DGB-Gewerkschaften, die nach dem Anschluss der DDR an die BRD die große ehemalige (Papier-)Mitgliedschaft des ehemaligen Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) übernahmen. In den Auseinandersetzungen um Betriebsschließungen und in stellenweise heftigen Kämpfen, wie etwa um das Kalibergwerk Bischofferode ließen die (westdeutschen) Gewerkschaftszentralen große Teile der ostdeutschen Arbeiter im Stich. Dies führte zu einer Erosion und einem Rückzug der Gewerkschaften und zahlreichen Austritten. In manchen Bereichen sind die Gewerkschaften bis hin zur Bewegungsunfähigkeit gelangt. Sie ließen den westdeutschen Kapitalisten freie Hand beim Aufbau der kapitalistischen Marktwirtschaft im Osten und dem damit verbundenen Abbau der ostdeutschen Industrie. Die Gewerkschaften waren dabei auch im Osten maßgeblich bestimmt von westdeutschem Führungspersonal und Hauptamtlichen, welche ab 1990 hier Karriere machten und unverhoffte Karrieresprünge in der Hierarchie erlebten.
Der Arbeitskampf in der ostdeutschen Metallindustrie 2003 für die Angleichung der tariflichen Arbeitszeit an das Westniveau (35 Stunden) ging nicht zuletzt wegen der Sabotage durch die Betriebsratsfürsten westdeutscher Autokonzerne verloren. Inzwischen ist allerdings zumindest in einigen Bereichen eine jüngere und kampfbereite Arbeitergeneration herangewachsen, die nicht mehr in den Westen abwandern will oder kann. Dafür stehen einzelne dynamisch geführte und teilweise erfolgreich abgeschlossene betriebliche Kämpfe etwa in der Nahrungsmittel- oder in der Metallindustrie um Tarifbindung und gegen Entlassungen. Der Kampf um den traditionsreichen Haribo-Standort in Wilkau-Haßlau bei Zwickau hätte mit einer kämpferischen Führung das Potenzial gehabt für eine starke Ausstrahlung und Solidaritätsbewegung, wie seinerzeit der Hungerstreik in Bischofferode 1993. Nach einigen Aktionen und Demonstrationen scheint allerdings mangels Perspektiven und Ideen inzwischen wieder die Luft raus zu sein. Das schon 2019 offensichtliche Begehren der Belegschaften sächsischer VW-Werke, für einen Haustarif zur Durchsetzung der 35-Stunden-Woche zu streiken, wurde bislang durch den Gewerkschaftsapparat ausgebremst.
Die aus der alten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nach Umwälzungen hervorgegangene PDS/LINKE war von Anfang an eine spezielle ostdeutsche Variante von Sozialdemokratie. Anders als die SPD haften an ihr noch die Erfahrungen aus DDR-Zeiten sowie Traditionselemente von Antifaschismus und Antimilitarismus. Sie baute ihren Einfluss nach dem Tiefpunkt Anfang der 1990er Jahre wieder schrittweise auf. Faktisch stützt sie das Kapital, sobald sie in Regierungsverantwortung kommt. Aufgrund der Überalterung der loyalen, noch aus der alten SED stammenden Mitgliedschaft können in ihr junge Akademiker schnell eine Karriere machen. Sie drängen „ungeschliffene“ Auszubildende und Arbeiter an den Rand und zeigen ihnen gegenüber Arroganz und Hochnäsigkeit.
Auch wenn Ostdeutschland faktisch eine Geburtsstätte und historische Hochburg der SPD war – mit einem starken linken Flügel in den 1920er Jahren in Sachsen und Thüringen – konnte sie nicht zuletzt aufgrund ihrer opportunistischen und prokapitalistischen Politik ab 1990 nie wieder daran anknüpfen und sich damit erneut verankern. Die ursprüngliche Ost-SDP (später von der SPD geschluckt) wurde 1989 von evangelischen Pfarrern gegründet, forderte von Anfang an „Marktwirtschaft“ und hatte der kapitalistischen Restauration nichts entgegenzusetzen.
Die SPD kann zwar bei Wahlen in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern meistens mehr Stimmen sammeln als die LINKE, ist aber dennoch im Osten nach 40 Jahren DDR immer noch weniger verankert und hat eine geringere Mitgliederzahl. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und vor allem in Thüringen ist die LINKE wesentlich stärker verankert als die SPD. Der starke Zuspruch der Ost-SPD bei den Bundestagswahlen 1998, 2002 und 2005 ist längst weggeschmolzen.
Sachsen ist das einzige östliche Bundesland, in dem die LINKE in den letzten 30 Jahren nicht an einer Landesregierung direkt beteiligt war oder diese toleriert hat. Nun möchten vor allem die Spitzenkräfte der ostdeutschen LINKEN auf dem ersehnten Weg in eine Bundesregierung die bisherigen Alleinstellungsmerkmale aufweichen. Selbst die Ablehnung der NATO als imperialistisches Kriegsbündnis wird zuweilen in Frage gestellt. Besonders die linksjugend solid ist im Osten ein Sammelbecken für antideutsche Apologeten von Krieg und imperialistischem Terror.
Rassismus als Spaltungsmechanismus wurde nicht erst durch die AfD erfunden. Nach 1990 lenkten CDU und bürgerliche Medien mit fremdenfeindlichen Parolen („Das Boot ist voll“) die Wut über die Deindustrialisierung durch die Treuhand in reaktionäre Bahnen. Dies schürte eine Pogromstimmung mit Anschlägen auf Flüchtlingsheime und vietnamesische Restaurantbesitzer. Es war der Nährboden für die Neonazi-Terrorgruppe NSU. Westdeutsche Neonazis siedelten zur Aufbauarbeit seit den 1990ern gezielt nach Ostdeutschland um und schufen starke rechte Netzwerke und deren flächendeckende Verwurzelung.
Der von reaktionären Westbeamten seit 1990 aufgebaute Staatsapparat kämpft aktiv gegen linke Strukturen und Organisationen und verharmlost die von faschistischen Gruppen ausgehende Gewalt und Bedrohung (siehe Soko LinX in Sachsen). Selbst Bodo Ramelow, der als westdeutscher Gewerkschaftssekretär 1991 nach Thüringen kam und seit 2014 Thüringer Ministerpräsident ist, wurde noch weit nach der Jahrtausendwende vom Verfassungsschutz observiert. Die Rolle der ostdeutschen Verfassungsschutzbehörden im NSU-Komplex kommt einer gezielten Vertuschung gleich. Faschisten versuchen im Osten die prekäre Situation der arbeitenden Klasse aufzugreifen. So hatten vor der AfD schon NPD und DVU im Osten seit den 1990er Jahren einige spektakuläre Wahlerfolge.
Die AfD tickt im Osten überwiegend ganz anders und ist auch anders aufgestellt, als im Westen. So ist der tiefe Konflikt innerhalb dieser Partei weitgehend auch ein Ost-West-Konflikt. Das Lager um Jörg Meuthen stützt sich auf etablierte Kleinbürger, Professoren und Beamte im Westen. Die Drohung des Verfassungsschutzes, die AfD zu überwachen, hat diesen Teil der AfD negativ beeindruckt. Im Osten hingegen hat man keine Angst vor dem Verfassungsschutz. Die dortigen bürgerlichen Existenzen der AfD sind eh schon sehr wackelig. Gleichzeitig ist in diesen Kreisen die Ablehnung der politischen Kaste der BRD größer. Von daher ist man im Osten eher offen für eine faschistische Orientierung. Björn Höcke gab einmal als Parole aus: Kampf um die Straße, Kampf um die Köpfe, Kampf um die Parlamente. Das ist etwas anderes als die Hörsaal-Politik von Meuthen. Dass der Erfolg der AfD im Osten größer ist als im Westen, sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch von Deindustrialisierung betroffene Regionen in Westdeutschland ein potenzieller Nährboden für rechte Demagogen sein können.
In den von der Braunkohle abhängigen Regionen wie etwa der Lausitz setzt sich die AfD als Vorkämpferin für einen unbegrenzten Tagebau in Szene. Sie nutzt die Ängste und Sorgen vieler Menschen, dass sobald der Braunkohletagebau zu Ende geht, spätere Generationen es schlechter haben werden und ihre Region ausblutet. Hier dient sich die AfD der herrschenden Klasse an, da ein schneller Kohleausstieg nicht im Interesse des Kapitals liegt.
In der CDU der östlichen Bundesländer gibt der rechte Flügel den Ton an. Dies drückte sich auch in der breiten Unterstützung für Friedrich Merz in den Ost-Landesverbänden aus. Dass die CDU-Basis keine Probleme mit der lokalen AfD hat, wurde in Thüringen und zuletzt auch Sachsen-Anhalt deutlich. Erst unter dem massiven Druck der Bundespartei und der herrschen Klasse erklärte sich die Thüringer CDU im Frühjahr 2020 bereit, die Regierung Ramelow zu tolerieren.
Der von 40 Jahren Planwirtschaft geprägte Osten ist in vielfältiger Hinsicht anders als der Westen. Der Versuch, ab 1990 die christlichen Kirchen in Ostdeutschland wieder massiv zu verankern, ist nicht sehr weit gediehen. Die Bindung an Religionsgemeinschaften ist im Osten nach wie vor geringer als im Westen und die Jugendweihe viel populärer als die Konfirmation oder Kommunion. Die historischen Erfahrungen mit einer kollektiven Absicherung, die trotz stalinistischer Deformation Vorzüge hatte, wirken nach. In Meinungsumfragen ist die Haltung zum Sozialismus grundsätzlich positiver als im Westen. All dies wirkt nach und bereitet bei der jüngeren Generation in Ostdeutschland den Boden für unverfälschte marxistische und antistalinistische Ideen.
Die historische Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung und der ungebremste Durchmarsch der Nazi-Bewegung im Jahr 1933 wirken bis heute im historischen Gedächtnis aller Klassen, des Establishments und vor allem in der Arbeiterbewegung und politischen Linken nach. Alle beanspruchen für sich, ihre Lehren aus der Geschichte gelernt zu haben. Oftmals kommen dabei heftige Geschichtsklitterungen und Verzerrungen, im besten Fall aber auch nur oberflächliche und einseitige Schlussfolgerungen heraus. Dies auch nur annähernd aufzuarbeiten würde aber den Rahmen dieses Perspektivenpapiers sprengen.
Dass die gespaltene Arbeiterbewegung 1933 faktisch kampflos vor den Nazis kapitulierte und die Führungsspitzen von SPD, KPD und ADGB (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund) dabei – jeder auf seine Weise – eine besondere Verantwortung trugen, haben ihre Nachfolger bis heute nicht richtig verdaut. Es fördert umso mehr einen Pessimismus und eine panische Angst davor, dass sich „die Geschichte wiederholt“ und der Faschismus jetzt wieder an die Macht drängt. Die Parole „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus“ geht vielen Aktivisten leicht über die Lippen. Seit Jahrzehnten warnen sie vor einem neuen Faschismus und einem neuen Weltkrieg. Eine Schlussfolgerung daraus: wir brauchen ein ganz breites Bündnis gegen Faschismus und Krieg.
Aufmerksame Beobachter der Zeitgeschichte vergleichen immer wieder spektakuläre Wahlergebnisse der AfD mit denen der NSDAP um 1930 und warnen vor einem neuen 1933. Doch jeder allzu mechanische Vergleich hinkt. Wir haben es in Deutschland und Europa nicht mit einem generellen Rechtsruck, sondern mit einer Polarisierung zu tun. Trotzki beschrieb den Faschismus der 1920er und 1930er Jahre als Massenbewegung verzweifelter Kleinbürger, als Ausdruck konterrevolutionärer Verzweiflung und als Instrument zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung. Die Bourgeoisie heuerte sich den klassischen Faschismus mit seinen disziplinierten paramilitärischen Truppen an, um die aufbegehrende und aufstrebende Arbeiterbewegung mit ihrem starken revolutionären Element physisch zu vernichten.
In dieser Tradition sehen sich auch heute Neonazi-Organisationen, die sich mehr oder weniger offen zum Hitlerfaschismus bekennen und von einem neuen 1933 träumen. Sie sind in rivalisierende Gruppen gespalten. Umso mehr neigen sie zum individuellen Terrorismus gegen Migranten, Juden, Linke, Gewerkschafter und engagierte Antifaschisten und sind somit eine Gefahr für alle, die in ihr Visier geraten. Seit den 1990er Jahren haben sie mehrere hundert Menschen getötet – bis hin zur NSU-Mordserie und zum Mord an dem CDU-Politiker und Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Der Aufbau einer straffen paramilitärischen Massenbewegung im Sinne von NSDAP, SA und SS ist ihnen bislang allerdings nicht gelungen und ist auf absehbare Zeit auch unwahrscheinlich.
Der NSU-Skandal hat zu Tage gefördert, dass die Staatsorgane über V-Leute die rechte Szene alimentiert haben und dies seit Jahren zu vertuschen versuchen. Bei Polizei und Bundeswehr bestehen sehr lange braune Netzwerke. Der Staat, der offiziell „Extremismus von links und rechts“ bekämpft, ist von faschistischen Netzwerken durchsetzt. Die von manchen Linken euphorisch gefeierte Aussetzung der Wehrpflicht durch die Regierung Merkel hat diesen Trend übrigens befördert. In einer Berufsarmee tummeln sich zwangsläufig mehr Rechte und Neonazis.
In vielen Schriften hat unsere Tendenz seit Jahrzehnten betont, dass mit dem massiven Aufschwung des Kapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg und der mit Proletarisierung des Kleinbürgertums (Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende) die soziale Massenbasis des klassischen Faschismus weitgehend dahingeschmolzen ist. Die Bourgeoisie denkt heute nicht mehr daran, wie 1933 den Faschisten die volle, uneingeschränkte Staatsmacht zu übertragen und ihnen für eine gewisse Verselbstständigung freie Hand zu lassen. Denn das würde aus ihrer Sicht riesige Gefahren mit sich bringen, wie das Ende der NS-Diktatur 1945 zeigt. Faschisten können in der heutigen Epoche unter zugespitzten Krisenbedingungen durchaus eine wichtige Hilfstruppe für den bürgerlichen Staat und seine Unterdrückungsorgane bilden. In diesem Sinne charakterisieren wir Polizei- und Militärdiktaturen wie das 1973 an die Macht geputschte Pinochet-Regime in Chile als bonapartistische Regime. An die Macht kamen die reaktionären Generäle der Armee. Für die Faschisten der Patria y Libertad gab es augenzwinkernd einen Spielraum zur Terrorisierung von Aktivisten der Arbeiterbewegung und radikalen Linken, aber keine totale Machtübertragung.
Bonapartismus ist ein Krisenregime, das sich in Krisenzeiten – und wenn der Klassenkampf in eine Sackgasse geraten ist – über die kämpfenden Klassen und den Kontrollmechanismus staatlicher Instanzen der bürgerlichen Demokratie erhebt und eine gewisse Unabhängigkeit erlangt. Dabei hat jede Form von Bonapartismus natürlich in letzter Konsequenz einen klaren Klassencharakter. Trotzki bezeichnete die ohne parlamentarische Kontrolle und mit Dekreten von Reichspräsidenten von Hindenburg amtierenden und relativ instabilen Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher als (vor)bonapartistisch. Im Gegensatz dazu war das faschistische Hitlerregime ab 1933 mit Hilfe seiner eigenen, aktiven Massenbasis und paramilitärischen Formationen ziemlich stabil.
Solche Definitionen sind wichtig und keine akademische Spielwiese. Daher empfiehlt sich stets ein Blick in die Schriften Trotzkis17 über Deutschland und Faschismus aus den 1930er Jahren. Denn es wäre absolut irreführend, jede Form staatlicher Repression, jeden Schlagstock oder Pfefferspray eines Polizisten als „faschistisch“ zu bezeichnen und ein neues 1933 als baldige Perspektive an die Wand zu malen.
Wir erleben europa- und weltweit durchaus eine Krise der bürgerlichen Demokratie mit ihrem System der Gewaltenteilung und gegenseitigen Kontrolle. Die Legitimation dieser Institutionen ist in den letzten Jahren stark geschrumpft. Diese Krise kam besonders spektakulär in den Ereignissen rund um die „Erstürmung“ des Capitols in Washington zum Ausdruck. In jeder bürgerlich demokratischen Republik oder parlamentarischen Monarchie gibt es Vorkehrungen für den Notstandsfall, heimliche Bürgerkriegsszenarien der staatlichen Unterdrückungsorgane und bonapartistische Sondervollmachten für die Exekutive. Eine Aufrüstung der Staatsorgane und der Abbau demokratischer Rechte, die von der Arbeiterklasse historisch mühsam erkämpft wurden, halten an.
In der Corona-Krise wurden in vielen Ländern die parlamentarische Kontrolle der Exekutive und demokratische Rechte zeitweilig außer Kraft gesetzt. Seit Jahren beobachten wir in etlichen europäischen Ländern Tendenzen, die wir als Elemente und milde Form eines parlamentarischen Bonapartismus charakterisieren. Dabei werden die entscheidenden Beschlüsse oftmals nicht im Parlament, sondern von kleinen Cliquen an der Spitze von Staat und Regierung gefasst.
Gegen solche Tendenzen ist auch Deutschland nicht immun. Wenn wir hier von sichtbaren Tendenzen und Elementen reden, heißt dies aber keinesfalls, dass auf absehbare Zeit in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern eine voll ausgeprägte, echte bonapartistische Polizei und Militärdiktatur drohen würde, die nach dem Vorbild der oben erwähnten chilenischen Pinochet Diktatur die Arbeiterbewegung offen unterdrücken würde. Nach wie vor stützt sich die herrschende Klasse auf die Kollaboration der reformistischen Führung von Gewerkschaften, Arbeiterparteien und Protestbewegungen und versucht mit ihrer Hilfe die arbeitenden Massen mit Ideen wie „Wir sitzen alle in einem Boot“ ruhig zu halten. Sie wird ihre Herrschaft mit Zuckerbrot und Peitsche verteidigen.
Früher oder später wird all dies jedoch nicht neue Ausbrüche von Klassenkämpfen und gesellschaftliche Erschütterungen verhindern können. Und ernsthafte Vorstöße reaktionärer Kräfte gegen die Arbeiterklasse werden massive Gegenwehr von unten auslösen und die Polarisierung und Radikalisierung vorantreiben. Das Kräfteverhältnis zwischen den gesellschaftlichen Klassen ist heute viel günstiger für die Arbeiterklasse als in den 1930er Jahren. Daher ist es heute für die herrschende Klasse viel schwieriger als damals, reaktionäre und offen repressive Regimes zu etablieren.
Die Rolle der AfD
Viele versprengte faschistische und völkische Elemente und Hitler-Bewunderer sind seit 2012 in die AfD gegangen und haben sich dort festgesetzt. Etliche von ihnen haben dort auch einen Aufstieg und Karrieren hingelegt. Dies ist in stärkerem Maße im Osten als im Westen der Fall. Hans-Olaf Henkel, Ex-BDI-Chef und ein Kader der Bourgeoisie, hat die AfD 2012 mitgegründet und trat nach wenigen Jahren angewidert aus. Er charakterisierte viele ihrer Mitglieder als „gescheiterte Existenzen“, diagnostizierte den „Einfluss der Rechtsaußen, der Krachmacher und der Intoleranten“, ortete sie im „Bürgerbräukeller“ (dem Vereinslokal der frühen Nazi-Bewegung in den 1920ern) und bezeichnete die Partei als „NPD im Schafspelz“. Allerdings wäre es falsch, die AfD insgesamt als „faschistisch“ zu bezeichnen.
Eine rein auf Nationalismus und Rassismus gegründete bürgerliche Partei kann auch nach spektakulären Wahlerfolgen auf Dauer, die von ihren verwirrten Wählern in sie gesetzten Hoffnungen nicht erfüllen und muss zwangsläufig in eine tiefe Krise geraten. Knapp zehn Jahre nach ihrer Gründung schwächelt die AfD. Viele Fraktionen in Parlamenten und Kommunalgremien auf allen Ebenen bröckeln. Die AfD hat es überwiegend nicht geschafft, mit den vielen Mandaten und üppigen Staatsgeldern eine flächendeckende Verankerung in Stadt und Land aufzubauen. Gleichzeitig sind auch alle bisherigen Abspaltungen von der AfD, die sich an Namen wie Poggenburg, Petry und Lucke festmachen, in der Bedeutungslosigkeit gelandet.
Ein tiefer Riss geht durch die Partei. Parteichef Jörg Meuthen, der noch aus der Riege der reaktionären Professoren um Lucke stammt, will sich strategisch der Bourgeoisie als zuverlässiger, gesetzestreuer Interessenvertreter und der CDU/CSU als natürlicher Koalitionspartner anbieten. Seine Anhänger, kleinbürgerliche Opportunisten und Karrieristen, wollen um jeden Preis eine Überwachung durch den Verfassungsschutz vermeiden. Etliche Kapitalisten gehören bereits zu den Spendern der AfD. So etwa der Berliner Immobilienhai Christian Krawinkel und nach bisher unbestätigten Meldungen auch der Münchner Multi-Milliardär August Baron von Finck jr.
Doch die tonangebenden Teile des Großkapitals und die Bundesspitzen von Union und FDP wollen derzeit von der AfD nichts wissen. Großkapital, Banken und Konzerne sind exportorientiert und geben sich daher besonders „europäisch“ und „europafreundlich“. Sie wollen die krisengeschüttelte EU als ihren Exportmarkt verteidigen und beherrschen. Eine Umarmung der AfD mit ihren nationalistisch-völkischen und rassistischen Elementen kommt für sie derzeit nicht in Frage. So sprach sich auch Friedrich Merz als Repräsentant des rechten CDU-Flügels beim CDU-Parteitag im Januar 2021 gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD in Bund und Ländern aus. Das kann sich künftig aber auch ändern.
Die Bürgerlichen wissen auch, dass eine Einbindung der AfD eine breite Gegenbewegung auslösen kann, die sie möglichst vermeiden wollen. Als die FDP mit Hilfe von AfD und CDU im Februar 2020 im Thüringer Landtag die Regierung Ramelow stürzte und den FDP-Mann Kemmerich zum Ministerpräsidenten wählen ließ, setzte binnen weniger Tage eine breite Gegenbewegung gegen diesen „Tabubruch“ ein. Die LINKE verzeichnete spontane Eintritte und schnellte in Meinungsumfragen für Thüringen auf 40 Prozent hoch. Das Potenzial für eine weitergehende breite Mobilisierung auf der Straße und in Betrieben war da. Die Wucht der Proteste überraschte den Bürgerblock in Thüringen und die Parteispitzen in Berlin. Kemmerichs Träume von einer „Regierung der Mitte“ mit Duldung durch die AfD platzten wie eine Seifenblase. Er tauchte ab. Der Protest und die beherzte Gegenreaktion zeigten die potenzielle Macht der mobilisierten Arbeiterklasse und Jugend. Dieser Faktor war sogar stärker als die parlamentarische Logik. Die Kanzlerin ging auf Distanz zu dem „unverzeihlichen Vorgang“. Die Thüringer Ereignisse verschärften die schwelende historische Krise der CDU, die in Umfragen für den Bund und Thüringen wie auch bei der Hamburger Wahl Ende Februar auf ein Rekordtief absackte. „AKK“ verzichtete auf Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur.
Schon vor der AfD gab es in der BRD immer wieder reaktionäre und nationalistische Parteien mit faschistischen Elementen und einer Wählerbasis in Kleinbürgertum und rückständigen Teilen der Arbeiterklasse, die vorübergehend spektakuläre Wahlerfolge erzielten und dann wieder aus dem Blickfeld verschwanden: NPD, Republikaner, DVU, PRO/Schill-Partei, wieder NPD. Die AfD ist stabiler als ihre Vorgänger. Ähnliche Parteien gibt es europaweit. Doch nirgendwo wachsen ihre Bäume in den Himmel und überall stoßen sie an Grenzen und Widerstände, enttäuschen ihre Anhängerschaft und spalten sich.
Der Versuch faschistischer Elemente und von Teilen der AfD, sich opportunistisch an irgendwelche Proteste anzuhängen oder diese künstlich zu entfachen und sich dann quasi automatisch an die Spitze einer solchen Massenbewegung zu postieren, ist in den letzten Jahren mehrfach kläglich gescheitert. Ein solcher Ansatz ist idealistisch und voluntaristisch. So gingen Hoffnungen faschistischer Elemente, mit Protesten gegen Dieselfahrverbote, Gelbwesten-Nachahmer-Demos und Trauermärschen gegen Morde an jungen Mädchen in Kandel und Wiesbaden reaktionäre Bewegungen zu entfachen, nicht auf. Auch die Pegida-Bewegung konnte sich nicht von Dresden auf den Rest der Republik ausdehnen. Ebenfalls Versuche rechter Kreise, mit AfD-nahen, gelben Pseudogewerkschaften wie „Zentrum Automobil“ eine starke Präsenz in Betriebsräten und eine Massenbasis in den Betrieben und in der Arbeiterklasse zu erobern, dürften nicht sehr weit gedeihen.
Die von vermeintlichen „Querdenkern“ und Kritikern der Corona-Maßnahmen organisierten Veranstaltungen brachten seit Sommer 2020 Zufallsfiguren auf die Straße und in das Rampenlicht, die davon träumen, eine „Volksbewegung“ anzuzetteln und anzuführen. Dies lockte viele Neonazis mit Reichsflaggen an, die immer davon träumten, wie ein „Fisch im Wasser“ mitschwimmen zu können. Die Berliner Großdemonstration Ende August 2020 erregte weltweit Aufsehen, als mehrere hundert Menschen in ebenso operettenhaften wie dilettantischen Szenen vor laufenden Kameras den Reichstag zu „stürmen“ versuchten.
Wir kommentierten die Berliner Großdemo damals wie folgt: „Viele Menschen werden von Existenzängsten und großem Unbehagen erfasst und suchen Antworten und Alternativen. Wo Arbeiterbewegung und Linke ihnen die nicht aufzeigen kann, sehen Zufallsfiguren wie die Anführer der „Querdenker“ mit allerlei wirren Ideen und Verschwörungstheorien ihre Chance. (…) Dass ein derart breites Gemisch aus Leuten unterschiedlichster Gesinnung und Klassenzugehörigkeit, Neonazis, religiösen Sektierern, Esoterikern, Impfgegnern, Corona-Verharmlosern, alternden Hippies, egoistischen Partylöwen, Ballermanntouristen, Kleinunternehmern, Menschen in prekären Jobs, durch den Lockdown überforderten Alleinerziehenden und Eltern kinderreicher Familien, verzweifelten Kleinbürgern und „Normalbürgern“ aus der Nachbarschaft zu einer einheitlichen und stabilen Massenbewegung zusammengeschweißt werden könnte, ist indes äußerst unwahrscheinlich. Es fehlt schlicht und einfach der Kitt eines klaren Programms und einer klaren Klassenorientierung.“
In Krisenzeiten wird es zunehmend Existenzängste und extreme Verwirrung geben, die Wasser auf die Mühlen reaktionärer, rassistischer und faschistischer Elemente leiten. Es gibt einen „Bodensatz“ von Menschen, die auf solche Ideen ansprechen und es gibt genügend politische Akteure und bürgerliche Kräfte, die daraus taktisch Honig saugen wollen. Rechtsparteien wie die AfD gibt es mittlerweile in fast allen europäischen Ländern. Aber eine faschistische Machtübernahme ist für die kommenden Jahre ausgeschlossen.
Dies gilt auch für die latenten Ängste mancher Linker vor einem neuen Weltkrieg. Kapitalismus bedeutet Krieg, erklärte Lenin. In diesem Sinne gab es auch nach 1945 jedes Jahr irgendwo weltweit grausame Kriege mit verheerenden Auswirkungen. Deutschland ist nach einer jahrzehntelangen erzwungenen Abstinenz wieder zu einer kriegsführenden Nation geworden. Der Imperialismus nährt gerade in dieser Epoche auch Stellvertreterkriege, deren Feuerkraft und verheerende Auswirkungen mit den Zerstörungen der Zweiten Weltkriegs durchaus mithalten können. Innereuropäische Kriege mit Generalmobilmachung und Invasionen wie im Ersten oder Zweiten Weltkrieg oder die französische Ruhrbesetzung 1923 machen heute keinen Sinn mehr. Die herrschenden Klassen in Deutschland und Frankreich sind bei Strafe ihres Untergangs weiterhin dazu verdammt, im Rahmen der EU zu kooperieren und sich irgendwie zu arrangieren. Für die Übernahme von Opel durch PSA oder die Übernahme der französischen Handelskette Casino durch Aldi sind keine militärischen Invasionen nötig.
Ein heißer interkontinentaler Krieg zwischen den Großmächten, zwischen den USA, der EU, Russland und China mit dem heutigen Potenzial von Massenvernichtungswaffen per Knopfdruck liegt derzeit nicht im Interesse der herrschenden Klassen. Die Kapitalisten führen nicht einfach aus Lust und Laune Kriege, weil sie Waffen haben. Was würde es angesichts des Ausmaßes an globalen Investitionen und Verflechtung für einen Sinn machen, wenn imperialistische Großmächte einen Rivalen auf dem Weltmarkt in Schutt und Asche legten, auf dessen Territorium sie selbst größere Investitionen getätigt haben? Wozu die Arbeiterklasse millionenfach töten, die den Reichtum der Kapitalisten produziert?
Verbale Kriegstreiberei und Drohgebärden werden aber zunehmen. Schließlich liegt es im Wesen von Kapitalisten und Imperialisten, dass sie die Massen im eigenen Land immer wieder mit einem Feindbild und Hinweis auf eine vermeintliche „Bedrohung von außen“ bei der Stange zu halten versuchen.
In der kommenden Epoche wird die Arbeiterklasse weltweit zuerst die Chance haben, die Macht zu erobern, die Kapitalisten zu enteignen und das Rüstungspotenzial endgültig zu verschrotten. Erst wenn diese Kämpfe verloren gehen und das System in jeder Hinsicht völlig aus den Fugen gerät, könnte im Extremfall ein völlig außer Kontrolle geratener US-Präsident, ein amerikanischer Hitler, der mit faschistischen Kadern alle Schlüsselpositionen im Staatsapparat besetzt oder auch ein Herrscher in einem anderen führenden imperialistischen Land ein heißes Kriegsszenario mit Dominoeffekt anstoßen. Rosa Luxemburgs Warnung „Sozialismus oder Barbarei“ und die Forderung nach „Frieden durch Sozialismus“, Enteignung der Rüstungskonzerne und Konversion ist daher im 21. Jahrhundert aktueller denn je.
Die Herausbildung der Partei DIE LINKE aus dem Zusammenschluss von PDS und WASG seit 2005 war ein politischer Fortschritt. Erstmals seit einem halben Jahrhundert entstand so wieder eine nennenswerte Partei links der SPD als Bezugspunkt für radikalisierte Arbeiter und Jugendliche. Von Anfang an begrüßten wir dies als historischen Fortschritt und wiesen gleichzeitig auf die Begrenztheit reformistischer Programme und Perspektiven hin.
DIE LINKE hat es in den vergangenen 15 Jahren unterm Strich allerdings nicht geschafft, vom Niedergang der SPD zu profitieren. Ihre Verankerung in der Fläche im Westen ist wesentlich schwächer und abtrünnige SPD-Wähler laufen ihr nur zu einem geringen Teil zu. Dieser Prozess ist natürlich regional unterschiedlich ausgeprägt. Die Mitgliederzahl ist im vergangenen Jahr sogar leicht gesunken. Ein Faktor: neu eingetretene Mitglieder wurden nicht integriert und im sozialistischen Sinne politisch geschult.
Allerdings werden gerade in Wahlkampfzeiten weiterhin Tausende Jugendliche nach einer Alternative suchen und dabei auf die LINKE stoßen. Es ist wichtig, sie rechtzeitig zu treffen, sich um sie zu kümmern und ihnen die Perspektive einer sozialistischen Gesellschaft zu vermitteln, die sie noch zu Lebzeiten erreichen können. Sonst werden viele von ihnen wieder passiv und wegdriften. Wir werden in den anstehenden Wahlkämpfen die LINKE kritisch unterstützen und gleichzeitig mit nachvollziehbaren konkreten Argumenten die Schwäche und Inkonsequenz ihrer reformistischen Programme und Perspektiven aufzeigen. Wir tun dies hart in der Sache und freundlich im Tone und stehen dabei in den besten Traditionen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, deren Ideen und politisches Erbe wir zu ihrem 150. Geburtstag konsequent verteidigen.
Eine hervorstechende Ausnahme im zahlenmäßigen Verhältnis der beiden sozialdemokratischen Parteien stellt Thüringen dar. Dort hat die LINKE als ostdeutsche Version von Sozialdemokratie bisher bei allen Landtagswahlen stetig zugelegt und die SPD fast überflüssig gemacht. Hier wirkt sich eine Gesetzmäßigkeit aus, die wir immer wieder betont haben: Auf die Dauer ist kein Platz für zwei Sozialdemokratien. Wenn sich die Programme nicht wesentlich unterscheiden, schlägt sich die Masse in ihrem instinktiven Streben nach Einheit und Geschlossenheit auf die stärkere Seite. Mit überstürzten Spaltungen tut sich die Masse immer schwer. Manche in der LINKEN wären schon damit zufriedenzustellen, wenn die SPD durch ihren Druck wieder „ein kleines Stück nach links“ rückt. „Es wäre viel gewonnen, wenn die SPD endlich mal wieder sozialdemokratisch wäre“, ist ein klassischer Satz aus dem Munde von Gregor Gysi (Die LINKE). Solche vagen Hoffnungen und Träume blenden völlig aus, dass im globalen krisenhaften Kapitalismus keine Basis für eine Rückkehr zu den vermeintlich „guten alten Zeiten“ der sozialdemokratischen Blüte in den 1970er Jahren gegeben ist.
SPD und LINKE sind Parteien, die sich durch ihren historischen Bezug zur Arbeiterbewegung definieren. Wenn beide zusammen bei der anstehenden Bundestagswahl im September in der Summe vielleicht mit Müh und Not ein Viertel der abgegebenen Stimmen erringen (von den linken Kleinparteien ganz zu schweigen), ist dies zwar zahlenmäßig ein historischer Tiefpunkt. Zum Vergleich: 1998 hatten sie in der Summe bei einer hohen Wahlbeteiligung 46 Prozent bundesweit. Aber ein möglicher Tiefpunkt wäre absolut kein Hinweis darauf, dass der Bedarf an einer kämpferischen Arbeiterbewegung und einer radikalen Antwort auf die Probleme der Arbeiterklasse nicht mehr vorhanden sei.
Einige demoralisierte Mitglieder in beiden Organisationen könnten daraus vielleicht den Schluss ziehen, dass sich beide Parteien „gleich wiedervereinigen“ sollten. Dieser Ausdruck von organisatorischem Fetischismus wäre aber keine Lösung für die tiefen politischen Probleme und ist auch nicht die wahrscheinlichste Perspektive. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil beide Apparate samt Umfeldorganisationen und Stiftungen ihre Eigeninteressen haben. Die LINKE kann für sich zwar in Anspruch nehmen, dass sie keinerlei Spenden von Banken und Konzernen empfängt, aber ihr Apparat ist in hohem Maße faktisch auch von Staatsgeldern abhängig.
Die Angriffe des Kapitals auf Lebensstandard und Lebensqualität schaffen den Nährboden für neue Kämpfe, radikalere Programme und kämpferische Organisationen. Jede Organisation wird dabei gnadenlos auf die Probe gestellt und kann unter Umständen in die Bedeutungslosigkeit versinken. In diesem Prozess können traditionelle Massenorganisationen einer Polarisierung und grundlegenden Umgestaltung ausgesetzt sein. Tiefe Gärung an der Basis und neue Spaltungen sind unvermeidlich. Dabei können aus der radikalisierten Stimmung in Massenkämpfen und Spaltungen heraus auch neue Massenorganisationen entstehen – wie Syriza, Podemos, La France Insoumise unter Jean-Luc Melenchon oder der Zulauf für Bernie Sanders erahnen lassen. Die Erfahrung mit der reformistischen Begrenztheit dieser Organisationen ist lehrreich.
Unter verschärften Krisenbedingungen werden radikalere linksreformistische Parolen ein stärkeres Echo finden. So die Forderung nach Wiederverstaatlichung privatisierter Unternehmen und Verstaatlichung von Banken und Großkonzernen. Am linken Flügel macht bereits die Forderungen nach „Wirtschaftsdemokratie“ die Runde. Diese Parole klingt radikal, lehnt sich aber an reformistische Konzepte von einer Ausweitung der betrieblichen „Mitbestimmung“ auf die regionale und nationale Wirtschaft an. Solche Ideen waren im alten ADGB der späten 1920er Jahre populär und sollten den mit dem Abwürgen der Revolution unzufriedenen Arbeitern eine Perspektive geben. Aus solchen Parolen zog der Gewerkschaftsapparat jedoch in der hereinbrechenden Weltwirtschaftskrise und tiefen Depression keine Konsequenzen.
Manche schwärmen von Elementen „direkter Demokratie“, Volksbegehren und Volksentscheiden. Aber solche plebiszitären Elemente, die oft auch von bonapartistischen Regimen als Trumpfkarte benutzt werden und bei denen die Massen nur JA oder NEIN sagen dürfen, während die Machtverhältnisse intakt bleiben, sind kein Schritt in Richtung sozialistische Rätedemokratie. Sie können allenfalls als Frühwarnsystem und als Mittel dienen, um Dampf abzulassen.
Unsere Aufgabe ist es nicht, künstlich irgendwelche Phantom-Massenorganisationen zu proklamieren und diese durch ein verwässertes Programm den Massen anzupreisen. Die Krise des Kapitalismus wird das Ihrige tun, um Kämpfe anzustoßen, in denen die Akteure die Notwendigkeit neuer Programme und Organisationen erkennen und sich dieser Aufgabe stellen. Revolutionäre Marxisten müssen die Kader heranbilden, die diesen Prozess erklären und verstehen und mit vorwärtsweisenden Übergangs-forderungen begleiten und weitertreiben können.
Die Stagnation der Linken in den Umfragen erklärt sich aus ihrer reformistischen Politik: Ihre Führung glaubt nicht daran, dass es realistisch und praktisch gesehen möglich ist, den Kapitalismus zu stürzen. Anstatt die Bundesregierung von einem proletarischen Klassenstandpunkt aus für ihre desaströse Corona-Politik, das Klimadebakel, die miserable Wohnsituation und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise anzugreifen, benimmt sich die Führung der LINKEN oft so, als wäre sie Teil der großen Koalition: Zu Beginn der Pandemie sagte der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, Dietmar Bartsch, jetzt sei nicht die Zeit der großen Kritik, stattdessen müsse man alles dafür tun, dass die Wirtschaft am Laufen gehalten wird. Bei den Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst nahm er eine defensive Position in der Frage der Streiks ein, statt dem Kampf eine vorantreibende Perspektiven zu geben. Die neue Vorsitzende der LINKEN, Susanne Hennig-Wellsow, sprach sich in einem schwer zu ertragenden Interview mit Tilo Jung gegen die Verstaatlichung des ÖPNV und der Lufthansa aus, obwohl ihr diese klassisch-linken Forderungen von Tilo Jung praktisch auf dem Silbertablett präsentiert wurden.
Die LINKE sollte jetzt in die Offensive gehen! Die Katastrophe im Gesundheits- und Pflegebereich, die Wohnungsnot und das Aufflammen der Deutsche Wohnen & Co. Enteignen-Bewegung, der Klimawandel und die Welle von Massenentlassungen bieten reichlich Möglichkeiten Kapital und Regierung mit sozialistischen Forderungen anzugreifen und am Bewusstsein die vielen radikalisierten Arbeiter und Jugendlichen in diesen Bewegungen anzuknüpfen. So könnte Die Partei die Anti-Establishment Stimmung in der Bevölkerung für sich kanalisieren und deutliche Zuwächse bei den Wahlen gewinnen.
Das geht jedoch nur mit einem sozialistischen Programm, das mit dem Kapitalismus bricht! All diese Probleme wie der Wohnungsmangel oder der Klimawandel sind eine direkte Folge des Kapitalismus. Sie können im Kapitalismus nicht behoben werden. Wer sich also einerseits auf den Kapitalismus stützt, wird Schwierigkeiten damit haben andererseits entschieden gegen Wohnungsnot und Klimawandel einzutreten.
Dass die LINKE in der gegenwärtigen Krise laut Umfragen bei Werten zwischen sechs und acht Prozent stagniert, sollte eigentlich als Warnung dienen. In der Pandemie wirkte sie in der öffentlichen Wahrnehmung oftmals als blasser Teil des Blocks der etablierten Parteien und nicht als antikapitalistischer Gegenpol mit konsequenten Alternativen.
Nun erhoffen sich manche von der Orientierung auf Rot-Grün-Rot, also eine Koalition mit SPD und Grünen, eine neue gesellschaftliche Aufbruchsstimmung. Doch eine Wechselstimmung wie etwa 1998 ist derzeit nicht spürbar. Damals mobilisierte nach 16 Jahren CDU/CSU/FDP-Regierung die Parole „Kohl muss weg“ Millionen. Die bisherigen Oppositionsparteien SPD und Grüne fuhren einen historischen Sieg ein. Inzwischen regiert die SPD seit 1998 bis auf vier Jahre von 2009 bis 2013 ununterbrochen mit. Weil sie viele Hoffnungen enttäuscht hat, bleiben ihre Umfragewerte schlapp.
Von einer rechnerischen Mehrheit sind SPD, Grüne und LINKE derzeit weit entfernt. Selbst wenn es diese Mehrheit gäbe, wäre ein solches Bündnis extrem unwahrscheinlich. Die herrschende Klasse will es partout nicht und die tonangebenden Kräfte in SPD und Grünen wollen es faktisch auch nicht. Dies zeigten sie schon im Bund von 2005 bis 2009 und 2013 bis 2017, als eine solche Konstellation rechnerisch möglich war. Sie werden um die Gunst der Union buhlen und sich dabei gegenseitig unterbieten. Auch die maßgeblichen Gewerkschaftsspitzen setzen längst auf einen direkten Draht zu den Grünen und manche hofieren gar den neuen CDU-Vorsitzenden Armin Laschet.
Rot-Grün-Rot bzw. Rot-Rot regiert und regierte bisher bereits in mehreren Ländern und wird von LINKE-Akteuren zunehmend auch auf kommunaler Ebene angestrebt. Bremen ist da nur ein markanter Vorläufer, auch in anderen Kommunen nicht nur in Ostdeutschland bestehen oder bestanden solche Konstellationen bereits. Aber auf Bundesebene wäre die Vorbedingung für eine Zulassung von LINKE-Ministern in ein Bundeskabinett eine weitgehende Kurswende der LINKEN in der Außen-, Militär und Europapolitik und eine volle Kapitulation vor den „Sachzwägen“ und von NATO und EU. Am rechten Flügel der LINKEN und in der Delegation im EU-Parlament gibt es regelmäßige Positionierungen und Versuchsballons in diese Richtung. Dieser Prozess lief auch bei den ehemals als „Friedenspartei“ gegründeten Grünen und legte die Basis für ihren Eintritt in die Bundesregierung 1998. Solche Bemühungen würden unter den gegenwärtigen Bedingungen jedoch die LINKE spalten und wären bei Parteitagen und an der Basis nicht mehrheitsfähig.
Erst in einer extrem zugespitzten Krise oder vorrevolutionären Situation wäre vorstellbar, dass die herrschende Klasse zur Besänftigung der Massen die LINKE in die Regierung eintreten lässt. In diesem Sinne sollten wir die verheerenden jüngsten Erfahrungen mit linken Regierungen in Griechenland und Spanien studieren. Und ebenso immer wieder uns vergegenwärtigen, wie die vor 100 Jahren gegründete und einst stolze italienische Kommunistische Partei über wenige Jahrzehnte durch Opportunismus und Regierungsbeteiligung völlig zugrunde gerichtet wurde.
Mit welcher Perspektive für eine Regierung sollte die LINKE also in die Wahl gehen? Selbst wenn Rot-Rot-Grün eine realistische Perspektive wäre, eines ist klar: Die nächste Bundesregierung, solange sie nicht mit dem Kapitalismus bricht, wird eine Regierung brutaler Austeritätspolitik und harter Angriffe auf die Arbeiterklasse sein, egal ob Schwarz-Grün, Schwarz-Rot oder Rot-Rot-Grün. Denn der Grund für Austeritätspolitik im Kapitalismus sind nicht die persönlichen Werte oder der Wille der Politiker, die gerade an der Macht sind, sondern die tiefe Krise des Kapitalismus. Eine Regierung, die den Kapitalismus nicht stürzt, wird gezwungen sein, Austeritätspolitik zu implementieren, egal aus welchen Parteien sie zusammengesetzt ist. Das zeigt die Erfahrung aus Bremen, Berlin und Thüringen oder Griechenland.
Die einzige Regierung, die den Kapitalismus stürzen kann, ist eine sozialistische Arbeiterregierung, die Banken und Großkonzerne unter demokratischer Arbeiterkontrolle verstaatlicht. Eine solche Arbeiterregierung sähe sich unweigerlich der Sabotage durch die Kapitalistenklasse ausgesetzt (inklusive offener oder heimlicher Rebellion des Staatsapparats) und müsste sich auf die in Räten und Selbstverteidigungskomitees mobilisierte Arbeiterklasse stützen, um die sozialistischen Maßnahmen der Regierung gegen das Kapital zu verteidigen. Das Problem der Machtübernahme der Arbeiterklasse würde unmittelbar gestellt werden. Das ist die einzige Regierung, die Die LINKE anstreben sollte. Deshalb ist unsere Position: „Unsere Wahl: Ein sozialistisches Programm für DIE LINKE!“
Natürlich gibt es nicht „die Jugend“ als klassenunabhängige Einheit. Es gibt in der Generation der Teenager und Twens derzeit auch etliche Yuppies und Karrieristen, politisch Gleichgültige, ein paar Neonazis und jede Menge Unpolitische, Demoralisierte. Aber die Entwicklung der Jugend ist stets auch ein Barometer für die gesellschaftliche Entwicklung. Sie ist oft radikaler und sensibler als die ältere Generation und hat ein Gespür für den Zustand der Gesellschaft, für die Verlogenheit und Heuchelei des Establishments. Vor allem ist sie auch stark von der Krise betroffen.
Die Zeiten, in denen eine ältere Generation die Hoffnung hegen konnte, dass es die nächste Generation einmal besser hat, gehören der Vergangenheit an. Für viele beginnt das Berufsleben mit Warteschleifen, Arbeitslosigkeit, Praktika und prekären, befristeten Jobs. Die Suche nach einer erschwinglichen Wohnung außerhalb des Elternhauses wird in Ballungsgebieten immer schwieriger bis unmöglich. Durch den krisenbedingten Mangel an Lehrstellen droht eine neue No-Future-Generation heranzuwachsen. All das nährt Wut und bereitet den Nährboden für Proteste.
Die aktuelle Krise hat die Missstände im Bildungswesen offengelegt. Angesichts der Corona-Einschränkungen werden unzumutbare Zustände in den Bildungseinrichtungen, mangelnde EDV-Ausstattung, Lehrermangel und bürokratische Reglementierung schmerzhaft spürbar. Die FAZ veröffentlichte Anfang 2021 eine erschütternde Reportage über zwei Frankfurter Studentinnen, die sich in der Pornoindustrie verkaufen müssen, um zu überleben und nicht zu verhungern. In den Genuss von BAföG oder anderen Stipendien kommt nur eine Minderheit. Früher oder später führen solche Zustände zu neuen Bildungsstreiks.
Dass ein wichtiger Teil der Jugend auch globaler denkt und einen breiteren Horizont hat, zeigen spontane Solidaritätsdemonstrationen für die US-amerikanische Black Lives Matter-Bewegung (BLM). Sie zogen im vergangenen Sommer bundesweit viele zehntausend Menschen an. Dabei waren viele Jugendliche aus migrantischen Familien offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben überhaupt auf einer politischen Demonstration. Diskussionen über Rassismus im deutschen Polizeiapparat wurden ausgelöst. Viele von ihnen landen in schlecht bezahlten und oftmals prekären Jobs in Logistik, Handel, Gastronomie und Industrie und werden sich früher oder später gegen die Arbeitsbedingungen auflehnen. „So halte ich das bis 67 oder 70 niemals durch“, werden viele sagen.
Die Radikalisierung der Jugend zeigt sich auch in der Klimastreikbewegung, die sich seit 2019 explosionsartig ausgebreitet hat. Diese Bewegung hat dafür gesorgt, dass eine große Anzahl, teilweise noch sehr junger Menschen sich politisiert haben. Viele haben in den letzten Jahren Erfahrungen gemacht, was es heißt einen politischen Kampf zu führen. Da FFF mit ihren Appellen an die Regierung nicht wirklich etwas erreichen konnte, hat ein großer Teil dieser Bewegung inzwischen begriffen, dass es mehr braucht als die Regierung darum zu bitten diese oder jene Forderung umzusetzen. Es wird erkannt, dass die Klimaprobleme im Kapitalismus nicht zu lösen sind, auch wenn dies bei FFF aktuell meist noch nicht zu sozialistischen Schlussfolgerungen führt.
Der nächste Schritt von FFF muss es sein sich mit der Arbeiterklasse zu solidarisieren und gemeinsam zu streiken. Denn ein Schulstreik ist zwar ein wichtiger Schritt, aber nur wenn die Rädchen in der Wirtschaft stillstehen, kann die Bewegung wirklichen Druck aufbauen. Es wird zwar inzwischen versucht sich auch an Streiks von Arbeiterinnen und Arbeitern zu beteiligen, aber nur in dem man sich kritiklos dem reformistischen und sozialpartnerschaftlichen Programm der Gewerkschaftsführungen anschließt. Die Wichtigkeit sich zu solidarisieren wird zwar erkannt, aber am Ende wird zu solchen Aktionen nur sehr sporadisch mobilisiert, obwohl dies eigentlich ganz oben auf der Tagesordnung stehen sollte. Doch entscheidend ist, dass ein immer größerer Teil der FFF-Basis antikapitalistische und teils revolutionäre Schlussfolgerungen zieht. Das zeigt sich auch darin, dass die Führung von FFF einen gewissen Druck von der Basis bekommt, einen radikaleren Kurs zu fahren. Außerdem hat FFF sich von den Grünen distanziert und sie offen dafür kritisiert, keinen Plan für einen Ausweg aus der Klimakrise zu haben. Die Grünen haben hauptsächlich auf kommunalpolitscher Ebene noch Einfluss auf die Bewegung, trotzdem profitieren sie insgesamt von ihr, da FFF die Klimaprobleme wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat. Diese Schichten von Schülerinnen und Schülern, die sich gerade im Radikalisierungsprozess befinden sind ein wichtiges Arbeitsfeld für Marxisten. Sollten die Grünen nach den Bundestagswahlen Regierungspartei werden, werden sie eine harte Austeritätspolitik umsetzen und den Klimaschutz als demagogische Rechtfertigung missbrauchen um vom Kapitalismus als Ursache abzulenken. FFF muss sich dann ganz klar entscheiden auf welcher Seite die Bewegung steht: Auf der der Kapitalisten, der Grünen, der Regierung oder auf der Seite der Arbeiterklasse. Das könnte zu großen Unruhen innerhalb von FFF führen und eventuell eine Spaltung der Bewegung nach sich ziehen. In den meisten FFF-Gremien ist die politische Arbeit vor allem auf Organisation beschränkt und es finden nur sehr wenige inhaltliche Diskussionen statt, deshalb haben viele Schüler, aufgrund von langwierigen, unpolitischen Orga-Diskussionen diese Gremien frustriert wieder verlassen oder waren von Anfang abgeschreckt dort mitzuarbeiten. Diese Schüler werden aber jetzt nicht in die Inaktivität verschwinden, sondern nach radikaleren politischen Antworten suchen. Wir müssen ihnen diese Antworten bieten.
Die Bewegung um den Hambacher und den Dannenröder Forst prägte viele. Auch Proteste gegen Faschistenaufmärsche und Solidaritätsdemos für die Geflüchteten in Moria, Bosnien, auf dem Mittelmeer und anderswo politisieren und radikalisieren viele Jugendliche. In solchen Bewegungen kann und muss die Marxistische Tendenz die Zusammenhänge zwischen den empörenden Zuständen und der kapitalistischen Klassenherrschaft erklären. Dass die kapitalistische Produktionsweise auch die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört, gehört seit den Tagen von Marx und Engels im 19. Jahrhundert zum täglichen Brot von Marxisten. Die Hauptfluchtursache heißt Kapitalismus, Imperialismus und Krieg. Auch etliche Jugendliche, die sich aus Ablehnung gegen das Establishment zunächst als „Anarchisten“ bezeichnen, können für den revolutionären Marxismus gewonnen werden.
Neue Schichten der Jugend, die zuvor unpolitisch waren, haben in der letzten Periode wichtige politische Erfahrungen gesammelt. Die fortschrittlichsten Teile wissen jetzt, dass politische Kämpfe auf der Straße geführt werden müssen und dass es dafür radikalerer Ansätze braucht als einen Appell an die Politik. Die Jugend ist sowohl durch die Erfahrungen der Corona-Krise, als auch durch verschiedenste politische Bewegungen in den letzten zwei Jahren in eine neue Periode eingetreten. Immer mehr, immer jüngere Menschen sehen, dass es im Kapitalismus keine Lösungen gibt und suchen nach einem radikaleren Ausweg. Dies fand bereits einen Ausdruck in einer Radikalisierungswelle 14- bis 17-jähriger Schüler in den letzten Monaten. Sobald die Pandemie besiegt ist und die Jugend merkt, dass die Krise trotzdem noch lange nicht vorbei ist und sie am härtesten davon getroffen werden, wird es eine weitere Radikalisierungswelle geben. Wir müssen unsere Ideen in diese Bewegungen und neu entstehende hineintragen und werden viele junge Menschen für die Revolution gewinnen können.
Ohne marxistische Erklärung, Klassenorientierung und revolutionäre Perspektive droht solchen Bewegungen eine Sackgasse. „Extinction Rebellion“ ist Ausdruck des Bemühens, hauptsächlich die Form des Kampfes gegen die Klimakatastrophe zu radikalisieren und mit spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit zu schaffen, welche letzten Endes jedoch kaum etwas bewirkt haben und werden. Gleichzeitig sind die Grünen nach Kräften bemüht, FFF für ihre Zwecke einzuspannen und einzelne Sprecher dieser Bewegung als Galionsfiguren im Wahlkampf einzusetzen und in den Parlamentarismus zu integrieren. Auch der Versuch radikalerer Klimaaktivisten, mit hastig gegründeten Klimalisten den Grünen im Superwahljahr das Wasser abzugraben, bindet viel zu viel Energie in Richtung Parlamentarismus und dürfte wenig erfolgreich sein.
Mit der Entwicklung der kapitalistischen Krise verschwindet auch die alte Stabilität der Lebensverhältnisse. Auf die Arbeiterklasse und Jugend kommen zwangsläufig harte Schläge und Rückschläge zu. Das wird viele aus ihrer Gleichgültigkeit herausreißen.
Viele Arbeiter waren und sind zu großen Opfern und Flexibilität bereit in der Hoffnung, dass es hinterher „wieder besser“ wird. Wenn solche Hoffnungen und Illusionen nicht aufgehen, dann ist früher oder später „Schluss mit lustig“ und dann kann alles in Wut umschlagen und in gesellschaftlichen Explosionen Bahn brechen. Dabei können auch kleine und scheinbar „nebensächliche“ Provokationen und „Zufälle“ große Bewegungen auslösen, weil sich insgesamt so viel Wut angestaut hat.
Ende März 2020 warnte der FDP-Bundestagsabgeordnete Marco Buschmann seine Parlamentsfreunde im Bundestag und die gesamte Kapitalistenklasse: „Bald könnte Revolution in der Luft liegen, wenn das so weitergeht. Stellt die deutsche Mittelschicht irgendwann fest, dass ihr Betrieb pleite, ihr Arbeitsplatz verloren oder ihr Aktiensparplan wertlos ist, dann wird sie sich radikalisieren“. Und damit hat er völlig recht, wobei er zur „Mittelschicht“ offensichtlich große Teile der Arbeiterklasse zählt.
Die Arbeiterklasse wird aber nicht leicht mit alten Konventionen, Gewohnheiten und reformistischen Illusionen brechen. Sie wird verschiedene Ideen, Führer und Organisationen auf die Probe stellen. Sie wird unterschiedliche Erfahrungen unterschiedlich verarbeiten. Die Arbeiterklasse wird zu kollektiver Gegenwehr und Kampf gezwungen sein und in diesem Prozess der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Und das Bewusstsein der Massen kann und wird in Zeiten wie diesen, große Sprünge machen. Auch die Arbeiterklasse in Deutschland wird notgedrungen an die Traditionen großer Klassenkämpfe vor einem Jahrhundert anknüpfen.
Weitsichtige Strategen, Thinktanks und politische Kader der herrschenden Klasse wissen oder ahnen dies, ziehen auch Bürgerkriegsszenarien in Betracht und bereiten sich auf ihre Weise darauf vor. Der Staatsapparat wird auf- und ausgerüstet. Einige – noch nicht viele – Kapitalisten finanzieren die AfD. Der Mainstream im Kapital setzt auf die CDU/CSU und einen Kursschwenk in Richtung stärkere Angriffe auf die Arbeiterklasse. Gleichzeitig werden die Herrschenden auch ideologisch die Arbeiterbewegung und fortgeschrittene Jugend zu demoralisieren versuchen.
In diesem Sinne können Formen der Identitätspolitik durchaus als harmlose Spielwiese fungieren und Aktive in der Arbeiterbewegung von ihren eigentlichen Kernaufgaben ablenken. Zu dieser Kategorie gehört die von Reformisten und Linksliberalen vorangetriebene Frauenquote in Aufsichtsräten und Konzernvorständen. Solche Ansätze verwischen Klassengegensätze und können engagierte Betriebsrätinnen gefügig machen, „einseifen“, einlullen und Karrierismus fördern.
Eine ähnliche Wirkung kann auch von dem (inzwischen wieder ausgebremsten) Vorschlag der Berliner Sozialsenatorin zur Einführung einer Migrationsquote von 35 Prozent bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im Öffentlichen Dienst ausgehen. Was gut gemeint klingt, ist bei näherer Betrachtung nicht gut. Solche Quotensysteme tragen dazu bei, die dem kapitalistischen System innewohnende Konkurrenz zu verewigen und die Arbeiterklasse in Menschen eines Quotenkonzerns zu verwandeln. Sie ändern nichts daran, dass gerade viele junge Menschen mit migrantischer Abstammung im aktuellen Bildungswesen benachteiligt sind. Und dass sie unter dem Druck von Hartz-IV-Sanktionen weiter von Logistikkonzernen, Leiharbeitsfirmen, Reinigungsbetrieben und Gastronomieketten extrem ausgebeutet werden. Es ist eine große Illusion zu glauben, dass es ausreicht, nur einen radikalen antirassistischen Diskurs zu führen, damit sich die Gesellschaft verändert. Der Kapitalismus lebt vom System des „Teile und Herrsche“ und lässt sich nicht humanisieren. Statt „positiver Diskriminierung“ und einer kleinen Minderheit von „Aufsteigern“ brauchen wir einen gemeinsamen revolutionären Kampf für existenzsichernde Löhne und Arbeitsbedingungen für alle, die sich allermindestens nach den Normen der Tarifverträge und relativen Beschäftigungssicherheit im Öffentlichen Dienst richten. Auch in reformistischen Organisationen werden etwa bei Vorstandswahlen identitätsbasierte Quoten ohne Berücksichtigung der Klassenperspektive oder der politischen Ausrichtung angewendet. Das kann zwar zu einigen vorteilhaften Positionen für eine Handvoll Bürokraten und Aufsteiger führen, aber diese müssen sich dann auch nicht mehr verpflichtet fühlen, einen wirklichen Kampf gegen Unterdrückung zu führen.
Die Krise wird ein Dauerzustand sein. „Frische“, unerfahrene Schichten der Arbeiterklasse ohne gewerkschaftliche Erfahrung werden in den Kampf treten. Rosa Luxemburg warnt vor dem Trugschluss, dass Streiks nur mit einem sehr hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad möglich seien. Wo keine starke Bürokratie in Form eines Gewerkschaftsapparats oder eines auf die Bremse tretenden Betriebsrats vorhanden ist, gibt es bei aller Unerfahrenheit auch weniger äußere Hindernisse. Im Kampf werden viele Arbeiter sehr schnell Erfahrungen sammeln und dazu lernen. Anders als vor 100 Jahren ist die arbeitende Klasse die große Mehrheit der Bevölkerung. Sie wird früher oder später der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken.
Unter den gegebenen Umständen wird diese Periode des Klassenkampfes von sehr vielen Rückschlägen und Niederlagen für die Arbeiterklasse bestimmt sein. Wir reden nicht von finalen Niederlagen wie etwa in den 1930er Jahren, aber von teilweise empfindlichen Rückschlägen und Schlappen. Dies ist angesichts der politischen Schwäche und mangelnder Perspektiven der derzeitigen Führung unvermeidlich. Gleichzeitig werden solche Rückschläge aber auch viele der Betroffenen zum Nachdenken zwingen, radikalisieren und letzten Endes die Grundlage für revolutionäres Bewusstsein schaffen. Diesen Prozess müssen wir im Rahmen unserer Kräfte aktiv und bewusst begleiten.
Natürlich ist die Arbeiterklasse ständigen Veränderungen unterworfen und sehr heterogen. Dies ist nichts Neues in der Geschichte des Kapitalismus und wurde vor knapp 100 Jahren von Trotzki erkannt:
„Wir stehen jetzt nach dem Kriege einer ganz neuen Arbeiterklasse gegenüber. Sie ist nicht die Vorkriegsarbeiterklasse, die planmäßig anwuchs, sich industriell, gewerkschaftlich, teilweise politisch organisierte mit Vorurteilen und auch mit Vorzügen der vergangenen Epoche. Wir haben jetzt eine neu aufgewachsene Arbeiterklasse, die fieberhaft aus dem verkommenen Kleinbürgertum, aus der Bauernschaft, aus den Arbeiterfrauen, die Hausfrauen waren und Arbeiterinnen geworden sind.
Diese neue Arbeiterklasse einerseits mit der alten Schicht der Gewerkschafter, der alten Parteibürokraten, der gewerkschaftlich geschulten Facharbeiter der Vorkriegszeit, die immer bewusst und gewissenhaft ihre Beiträge gezahlt haben, um so durch die Gewerkschaften in eine bessere Ordnung hineinzuwachsen, andererseits die Arbeiterjugend, die unter dem Donner des Krieges zum Leben erwachte, sie alle werden durch diese große Entwicklung und diese großen Ereignisse in den politischen Kampf hineingezogen, hineingeworfen, hineingeschleudert.
Eine Schicht macht ihre Erfahrungen nicht gleichzeitig mit der anderen. Die eine hat sich die Finger verbrannt und wird etwas vorsichtiger sein. Die andere ist eben in diesem Moment kampflustig, ohne die Konsequenzen dieses Kampfes abzusehen.“
Während manche akademischen Reformisten in endlosen Analysen die Arbeiterklasse „zu Tode differenzieren“, muss eine weitsichtige revolutionäre Führung darauf hinarbeiten, dass die Kräfte gebündelt und die verschiedenen Schichten und „Milieus“ zusammengeführt werden. Es gibt keine „Endkrise“ des Kapitalismus und jeder Versuch, aus vielleicht gut gemeinter „revolutionärer Ungeduld“ heraus die Prozesse künstlich zu beschleunigen, führt auf den Holzweg.
In der Wirtschaftsdefensive sollten die Kommunisten als entschlossenster und diszipliniertester Flügel der Arbeiterklasse in den Gewerkschaften, bei Streiks und Wirtschaftskämpfen auftreten, um ihren Zusammenhalt zu stärken, neue Volksschichten für sich zu gewinnen und sich für eine neue Offensive vorzubereiten. Dies war Trotzkis Botschaft beim dritten Weltkongress der Komintern 1921. In den Diskussionen dieses Kongresses betonte eine Gruppe von Delegierten, dass eine weitere Verelendung der Massen eine neue revolutionäre Krise herbeiführen würde. Eine andere Gruppe betonte, dass eine neue Blüte der Prosperität notwendig sei, um das Proletariat wiederzubeleben.
Trotzki griff diese Debatte auf und erklärte, dass beide Theorien einseitig seien und die Hauptquelle der Revolution außer Acht ließen. „Weder die Verelendung noch die Prosperität als solche können zur Revolution führen, sondern das Abwechseln von Prosperität und Verelendung, Krisen, Schwankungen, das Fehlen jeglicher Stabilität – das sind die treibenden Kräfte der Revolution.“
In diesem Sinne müssen wir uns auf die unvermeidlichen scharfen Wendungen vorbereiten, die Revolutionen hervorbringen. Die Niederlage der Deutschen Revolution 1918 bis 1933 hat das vergangene Jahrhundert geprägt und darf sich nicht wiederholen. Daher müssen wir in Deutschland, europaweit und weltweit eine starke revolutionäre Kraft aufbauen, die den Sieg in der künftigen Revolution garantieren kann.
1 https://www.rnd.de/wirtschaft/coronavirus-frauen-harter-von-folgen-betroffen-als-manner-I4D4YZAKV5GVVAUWBKI7BP35HA.html
2 https://www.br.de/nachrichten/bayern/haeusliche-gewalt-verschaerfte-situation-wegen-corona-krise,SHGxpaM
3 https://www.rnd.de/wirtschaft/coronavirus-frauen-harter-von-folgen-betroffen-als-manner-I4D4YZAKV5GVVAUWBKI7BP35HA.html
4 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/dezember/corona-traditionelle-aufgabenverteilung-im-haushalt-belastet-frauen-stark
6 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sozialwohnungen-warum-in-deutschland-so-viele-fehlen-1.4081722
9https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-lockerungen-in-brandenburg-woidke-verteidigt-notbremse-17236132.html
10https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/nrw-vor-der-wahl-monheim-zieht-ploetzlich-geld-an-1.3481456
11https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/digitec/analyse-zum-tech-standort-muenchen-apple-in-max-city-17244114.html
12https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wegen-corona-mutation-grenzkontrollen-in-tirol-sorgen-fuer-kritik-17198729.html und https://www.sueddeutsche.de/bayern/regierung-innsbruck-tirol-dringt-auf-oeffnung-der-grenze-zu-deutschland-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210310-99-764632
13https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/sonntagsfrage-union-sinkt-in-der-waehlergunst-weiter-ab-17231590.html
14https://www.rnd.de/gesundheit/ende-von-corona-in-sicht-damit-rechnen-corona-experten-bis-anfang-2022-KC5ZSMP3UZHJPLAHV57BNCKUGI.html
15 Wilhelm Leuschner war ein deutscher Gewerkschafter und sozialdemokratischer Politiker, der im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kämpfte. Nach dem 20. Juli 1944 wurde er denunziert, zum Tode verurteilt und hingerichtet.
16 Die Betriebsbesetzung ist eine Steigerung des Streiks. Dabei kann zwischen Sitzstreik/Sit-in (die Arbeiter verweigern nicht nur kollektiv die Arbeit, sondern verbleiben auch dauerhaft am Arbeitsplatz oder im bestreikten Betrieb, um eine Nutzung der Produktionsmittel oder den Zugang zu ihnen zu blockieren. Dadurch wird die Möglichkeit des Streikbruchs oder der Produktionsverlagerung ausgeschlossen) und Weiterführung der Produktion/Work-in (die Arbeiter besetzen den Betrieb und führen die Produktion in eigener Regie fort) unterschieden werden.
17 Nachzulesen u.a. in unserer Publikation AdV 14 „Faschismus: Was er ist und wie er bekämpft werden kann“.
Immer wieder hören wir aus dem Munde von reformistischen Kräften in der Linken und Sozialdemokratie den Versuch, die „demokratische Rosa Luxemburg“ auf der Grundlage einzelner Aussagen aus einem 1918 verfassten Manuskript „Zur Russischen Revolution“ dem vermeintlich „diktatorischen Lenin“ entgegen zu stellen und sie als scharfe Kritikerin von Lenin, Trotzki und den Bolschewiki darzustellen.
Im vierten Teil betrachten wir den Kampf um Arbeiterkontrolle [Anmerkung: Diese revolutionäre Entwicklung hatte Anfang der 2000er Jahre ihre Hochphase] in Venezuela. Dieser Kampf zeigt, dass die venezolanische Arbeiterklasse beginnt aktiv in der Bolivarischen Revolution zu intervenieren und einige der fortschrittlichsten Teile der Bewegung zu dem Schluss gekommen ist, dass die sozialistische Transformation der Gesellschaft der einzige Weg für die Lateinamerikanische Revolution ist.
Im dritten Teil setzen wir uns mit der sogenannten Arbeiterselbstverwaltung Jugoslawien auseinander, das damals als wirkliche Alternative zum sowjetischen Modell gepriesen wurde. Aber was war das wahre Wesen der Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien und welche Lehren können wir daraus für den sich in Venezuela entwickelnden Kampf um Arbeiterkontrolle ziehen?
Zu Beginn des Jahres 2021 wirft Alan Woods einen Blick auf den Zustand der Welt. Während sich ein paar Milliardäre bereichern, sind die meisten zwischen der Pandemie und der Armut gefangen. Die Arbeiterklasse beginnt, ihre Muskeln zu spannen, um sich auf die kommenden Kämpfe vorzubereiten.
Im zweiten Teil betrachtet Rob Lyon die Erfahrungen von Arbeiterkontrolle und -verwaltung in der Russischen Revolution. Die Erfahrungen des russischen Proletariats liefern wertvolle Lehren für die Arbeiterbewegung.